Die Stille
Françoise hat sich einmal eine Rippenfellentzündung eingefangen. Es hat ganz schön lang gedauert, bis sie wieder gesund war, und sie langweilte sich zu Tode. Sie aß nichts mehr, solche Schmerzen hatte sie. Ich habe für sie gekocht, meistens Rinderragout mit Abalonenmuscheln. Davon aß sie dann ein paar Bissen. Dann habe ich ihr noch etwas zu trinken gegeben.
Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte. Eines Tages kam ich vom Meer mit einem schönen Hummer zurück. Ich habe ihn lebend in ihr Zimmer hinaufgebracht, er tropfte noch, was für den Holzboden nicht gut ist. Da sog sie den Geruch des Meeres ein und fühlte sich sofort besser. Ich habe es in ihren Augen gesehen. Damit habe ich ihr wieder Appetit aufs Leben gemacht. Sie wollte schneller gesund werden, um wieder raus zu können.
In der Stille, der echten Stille hörst du dich selbst. Zur Stille gehört die Freiheit. Wenn ich eingesperrt wäre, könnte ich sie nicht hören. Die Krankheit hatte meine Schwester eingesperrt, doch der Geruch des Meeres hat sie mit Freiheit erfüllt. Das kann man gar nicht in Worte fassen. Und doch ist es da, für jeden!
Wenn man älter wird, wiederholen sich manche Ereignisse, so wie sich die Jahreszeiten wiederholen. Als am 15. Juli 2008 die Queen Elizabeth II in Cherbourg einlief, fühlte ich mich um siebzig Jahre zurückversetzt. Damals hatte ich von unseren Feldern aus zwei Nachbarinnen beobachtet, die auf einem Mäuerchen saßen, das die Deutschen später während des Krieges sprengten. Als ich vorbeimarschierte, riefen sie mir zu:
»Komm doch her, Paul. Die Kweeen Elisabeth soll heute noch hier vorbeikommen.«
Ich höre sie heute noch sagen »Kweeen Elisabeth«. Ich spreche es immer noch aus wie sie! Aber ich bin zu meiner Mutter gegangen. An ihrer Seite habe ich gesehen, wie dieses riesige Schiff an der Küste, ganz nahe an den Felsen, vorüberzog. Sie lag tief im Wasser, als sie da groß und majestätisch ohne einen Laut dahinglitt. Ja, vollkommen lautlos. Es tat einem im Herzen weh, so schön war sie. Und natürlich dachte man, im Innern des Schiffes müsse alles genauso schön sein.
2008 hat die Kweeen Elisabeth dagegen niemand vorüberfahren sehen, sie fuhr weiter draußen als ihr Schwesterschiff siebzig Jahre davor. Außerdem behinderten Nebel und Regen bis zum Abend die Sicht. Das war wie mit der Sonnenfinsternis 1999. Wir haben alle darauf gewartet und dann gar nichts gesehen, weil der Himmel voller Wolken war. Dass die Sonne verschwand, konnten wir nur spüren, im Körper und weil die Tiere plötzlich still wurden. Die ganze Natur hielt inne.
Natur und Geräusche, das geht immer Hand in Hand. Unendliche Stille wird wohl nie herzustellen sein, denn dann, so scheint mir, hätte man die völlige Einsamkeit erreicht.
Und Einsamkeit erträgt niemand. Wenn dich die Sorgen übermannen, wenn du ein Darlehen aufnehmen musstest (wozu ich nie gezwungen war), wenn du daran denkst, was alles auf dich zukommt – der Tierarzt, die Steuerprüfung und was sonst noch anfällt –, wenn du bei jemandem Schulden hast, dann ist deine Stille gestört. Du bist nie wirklich allein. Du wirst »verfolgt«, könnte man sagen, deine Schulden verfolgen dich bis in dein Innerstes.
Wahre Stille, wie man sie mit sich selbst erlebt, führt dazu, dass du die Einsamkeit, das Nachdenken, zu schätzen weißt. Eine leichte Brise streicht über deinen Körper, du hörst alles Mögliche in der Luft. Du gibst dich ganz hin, du spürst dich in der Stille. Und du spürst auch die anderen. Frieden breitet sich um dich aus wie eine schöne Landschaft.
Manchmal sehe ich vom Garten aus Besucher kommen. Die legen dann ihre Hand auf unser Gatter, als wäre ich der selige Thomas Hélye aus Biville und würde Wunder wirken. Keine Sorge! Er ist seit langem tot und hat sich einst für die Stille der Armut entschieden. Solch eine reiche Seele besitze ich nicht.
Ich lebe mein Leben in meiner Stille oder in meinen Worten. Und ich will weiterhin Mesner bleiben in der grünen Kathedrale der Natur. Ich mag dieses Bild, denn ich bin tatsächlich Mesner in unserer kleinen Kirche. Und nicht nur dort, denn ich lebe Tag für Tag mit Gott in La Hague, unserem Landstrich.
Diese religiöse Einstellung ist mir wichtig. Aber aufgepasst: Ich fordere sie nicht von anderen. Ich hatte Glück im Leben, das ist alles. Ich lebe mit und nicht neben den Dingen. Das Wort Gottes macht zuweilen Angst. Da gibt es Leute, die halten sich für tolerant, und solange man nur über die Landwirtschaft redet, geht alles gut. Wenn du aber erzählst, wie das Korn in der Erde stirbt, um von Neuem zu keimen, dann ist auf einmal Schluss.
Sterben, um weiterzuleben.
Es gibt nun einmal Dinge, die das menschliche Begriffsvermögen übersteigen. Davon bin ich überzeugt.
Ich fühle mich nichts und niemandem überlegen. Der Begriff »Satan« bereitet mir Unbehagen. Andere sind da anderer Auffassung. Es gibt eben solche und solche.
Ein einziges Mal habe ich mich vor der Stille gefürchtet. Da habe ich vor meinen eigenen Schritten Angst gehabt. Aber nicht vor Gott! Ich musste mich dem Gefühl stellen, dass der andere, der Böse, sich mir näherte. Da stand ich am Fuß der Klippen im Licht des Vollmonds. Ich hielt inne und da … der Widerschein des Mondes, das Meer, das plötzlich still wurde, und die Farben, die sich änderten, richtig umschlugen … das erinnerte mich an den Krieg, dabei war kein einziger Laut zu hören. Meine Schritte klangen, als sei ich ganz allein auf der Welt. Sie hallten in meinem Körper wider wie ein Echo. Fünfzehn Jahre später zittere ich immer noch, wenn ich an diese beunruhigende Ruhe denke und den Aufruhr, der sich darin verbarg. Einen Augenblick lang schwieg die Natur. Und einen Augenblick lang habe ich geglaubt, dass der Dämon die Gunst der Stunde nutzen würde, um sich des Landes zu bemächtigen.
Nach so etwas ist man natürlich glücklich, wenn man wieder daheim ist, wenn man an der Tür der Schwestern vorbeigeht und weiß, dass sie da sind, voller Freundlichkeit und Güte. Ich weiß nicht, was damals passiert ist, aber seitdem gehe ich nachts nicht mehr so gern allein ans Meer. Ich sage immer Bescheid, wann ich gehe und wann ich wieder da sein werde.
Im Grunde sind Stille und Einsamkeit doch zweierlei, und ein Einzelgänger bin ich nicht gerade. Ich habe mich einsam gefühlt, als die jungen Leute meines Alters das Land im Stich ließen und in die Stadt flohen. Sie hatten ja recht. Sie hatten mehr Geld und weniger Rückenschmerzen. Ich habe die für mich richtige Wahl getroffen. Ich bin meinem Land treu geblieben, dem Land, das ich liebe.
Vielleicht sollte es eines unserer Lebensziele sein, um keine Stille ertragen zu müssen, die Ruhe kennen und schätzen zu lernen.