Der Meereswechsel

Ich fische gerne bei Niedrigwasser, der basse iâo. Wir nennen das Fußfischen oder rocaille. Dabei verlasse ich mich natürlich nicht auf die Gezeitentafeln. Ich schaue mir lieber die Felsen am Horizont an, meine Felsen. Von meinem Haus aus ist das nicht schwer, unser Grund fällt sachte zum Meer hin ab.

Das Land und der Himmel im Angesicht des Windes, da wird dein Haus zum Schiff. In La Hague könnte man meinen, man sticht von der Landspitze aus direkt in See.

Von meinen vier Wänden aus beobachte ich die Spitzen bestimmter Felsen. Sehen sie hervor, komme ich ohne Probleme zu den Hummerlöchern. Da muss man nicht mit der Gezeitentafel in der Hosentasche losstürzen, wie manche Angler es tun, quasi nach Fahrplan. Der Meeresspiegel sinkt langsam, in seinem eigenen Rhythmus.

Ich habe gelernt, wie weit der Meeresspiegel absinkt, je nach Wind und Luftdruck. Bei Hochdruck sinkt er stärker, bei Tiefdruck weniger, auch wenn die Gezeitentafeln etwas anderes sagen und die Wissenschaftler, die ihn ausgetüftelt haben.

Ein Gezeitenkoeffizient von 90 liegt dann in Wirklichkeit bloß bei 83 oder so. Wenn bestimmte Felsen dort, wo meine Hummerlöcher liegen, unter Wasser bleiben, dann weiß ich zumindest, dass die anderen Fischer die Löcher nicht entdecken werden.

Die Gezeitentafeln studiere ich mehr zum Spaß, aber ich passe sie meinen Erkenntnissen an. Die Tafeln gehen nur nach den Mondphasen.

Auf dem Meer darf man sich nicht auf das verlassen, was man sieht oder was in irgendeinem Buch steht. Das kann nämlich täuschen. Das Leben hier auf dem Festland ist, als lebe man auf dem Meer, besonders auf der Halbinsel, auf der mein Haus steht, auf diesem kleinen Flecken Land am äußersten Ende des Cotentin. Ich beobachte und spüre die Winde schon lange vor der Flut, damit ich keine bösen Überraschungen erlebe.

Die wirklich merkwürdigen Dinge passieren vor allem, wenn das Wasser ganz klar ist. Überhaupt: Je klarer das Wasser, desto trügerischer ist es. Dann sieht man bis auf den Grund des Meeres und bildet sich vielleicht ein, die Felsen seien draußen zu sehen. Das ist ein Trugbild wie die Meteore am Himmel oder eigenartige Lichterscheinungen, die sich einstellen, wenn man abends mutterseelenallein auf seinen Feldern ist. Das Wasser hat seine Tiefe. Je tiefer es ist, desto ruhiger und heimtückischer ist es. Gerade an diesen Orten verbergen sich oft unerwartete Dinge.

Dazu kommt der Nebel, der über uns herfällt und hinterhältig das Land ummodelt, deine Orientierungspunkte verbirgt. Schon hast du keine Ahnung mehr, wo du dich befindest. Darum hält man es mit dem Meer wie mit allem anderen auch. Man lernt, dem Anschein zu misstrauen. Man schreibt seine Beobachtungen auf, um sie fürs nächste Mal zu bewahren. Der Tidenhub der Tagundnachtgleiche im Herbst und im Frühling gibt einen guten Anhaltspunkt für das kommende Fischereijahr. Das Wetter zu dieser Zeit zeigt an, wie das Wetter in den folgenden Gezeitenperioden sein wird, vorausgesetzt, es gibt im Juni keine »drei Monde« (also einen Vollmond mehr). Mein Vater nannte das einen »Meereswechsel«. Die Gezeiten richten sich nach der Erdumdrehung. Beim »Meereswechsel« schlägt das Wetter zwischen den Tagundnachtgleichen noch einmal um. Die Anziehungskraft des Mondes lässt den Gezeitenkoeffizienten absinken, die Seinebucht leert sich, das merkt man auch bei uns. Die Wassermassen vereinen sich, schwellen an, kämpfen um ihr Territorium, zumindest stelle ich mir das so vor. Die Zeit bringt die Dinge wieder ins Lot.

Die Springtide bzw. die Tagundnachtgleiche bestimmt letztlich auch, auf welchen Tag Ostern fällt.1 Das Wetter, das zu dieser Tide herrscht, hat man im Prinzip auch an allen folgenden Tiden. Wenn der Wind zur Frühjahrstagundnachtgleiche stromabwärts weht, weht der Wind an jedem Niedrigwassertag bis zur folgenden Tagundnachtgleiche im Herbst stromabwärts. Wir sagen stromauf und stromab, weil wir uns hier am nördlichsten Punkt des Ärmelkanals befinden. »Stromabwärts« entspricht dem Wind, der aus Barneville kommt (also Süd- oder Südwestwind), »stromaufwärts« dem Wind aus Barfleur (Nordwind).

Was die anderen Tage angeht, so beobachte ich, aus welcher Richtung der Wind kommt, und dann entscheide ich, was ich am nächsten Tag auf meinen Feldern tue. Weht der Wind stromaufwärts und donnert das Meer laut in die Bucht von Écalgrain, dann höre ich das bis hierher und der Wind wird am nächsten Tag in südlicher oder südwestlicher Richtung wehen: Das Wetter wird mild. Weht der Wind stromab und bohrt sich mit Getöse in den Raz Blanchard, dann weht er am nächsten Tag aus Nord-Nordwest. Weht er aber stromabwärts und ich kann hören, wie die Wellen sich an der Landspitze von La Hague brechen, schlägt er tags darauf um. Was wirklich ein Geschenk des Himmels ist. Dann lasse ich die Feldarbeit liegen und gehe zum Fischen, denn dann fällt die Tide rasant ab. Bei Südwind sinkt sie weniger schnell.

Natürlich gibt es bei uns noch die Vouétène, einen kühlen Westwind. Dann geht die Sonne mit gelblichem Schein bei trockenem Wind unter. Vouétène sagt man allerdings nur in unserer Gegend hier. Du siehst den schweren Himmel und du weißt, was es geschlagen hat. Die Vouétène trocknet alles aus.

Letzten Endes kann man sagen, dass ein Wind, der schlecht ist für den Boden, das schönste Niedrigwasser macht. Andernfalls reicht der Sog nicht aus, die Strömung wird nicht genug zurückgedrängt. Das verpufft einfach.

Manchmal sind die einfachsten Dinge auch am schwersten zu verstehen, aber ein Bauer versteht sie mit der Zeit.

Eines ist hier bei uns in Auderville aber sicher: An Regen fehlt es uns nicht. Wenn es hier regnet, dann ist das gutes Wetter für mich und meine Felder.

Die Alten, also die Weisen – allerdings auch nicht jeder –, das waren früher unsere Barometer. Am Palmsonntag traten sie während der Messe vor die Kirche, um nach dem Wetter zu sehen. Während der Lesung aus dem Evangelium gingen sie hinaus, und das Wetter, das in diesem Moment herrschte, gab ihnen den Ton für das ganze Jahr an. Anschließend konnte man im Bistro, wo die Männer sich trafen, hören, wie das Wetter in den kommenden Monaten werden würde. Das Geheimnis wurde sogleich weitergegeben.

Die Weisen damals zahlten ihren Wein nicht, aber sie sprachen ihm tüchtig zu!