Der Frieden

Als wir den überfüllten Raum betreten, applaudieren die Leute, viele haben mein Buch unter den Arm geklemmt. Alle haben ein nettes Wort für uns. Einige erkenne ich, junge Leute aus unserer Gegend. Sie scheinen sich über unser Kommen zu freuen. Andere stammen zwar nicht aus unserer Ecke, lieben aber La Hague genauso wie wir – es freut mich, das zu hören. Es wirkt wie eine große Familienfeier. Alle scheinen gern dort zu arbeiten. Und das ist nicht wenig, wenn man in seinem Beruf glücklich ist, gerade heute, wo jeder sich beklagt.

Und so habe ich das Wort ergriffen und erklärt, weshalb ich gekommen bin:

»Ich dachte immer, ich sei jemand, der nicht viel nachdenkt. Nach einer Krankheit hatte ich in der Schule Schwierigkeiten mitzukommen, zumindest wenn ich mich mit den anderen verglich. Ich war einerseits schüchtern, andererseits wollte ich so gerne mit den anderen reden. Jemand wie ich, der kein Ingenieur, aber andererseits auch nicht auf den Kopf gefallen ist, begreift nicht auf Anhieb, was hinter dieser Sache mit dem Atom steckt. Das ist was für Leute, die studiert haben, nicht für einen Hinterwäldler wie mich. Ich war immer nur auf dem Feld. Und dann war da der Krieg, den wir vergessen wollten. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber der Krieg beschäftigte uns noch lange Zeit, ja sogar heute noch.

Als man das Werk hier baute, sprengte man die Befestigungsanlagen, die die Deutschen in der Heide zurückgelassen hatten. Schon das weckte in mir unangenehme Erinnerungen. Ich war sofort auf der Hut. Der Krieg hat alles verändert, und beim Bau der Wiederaufbereitungsanlage hatten wir den Eindruck, eine zweite Nachkriegszeit zu erleben. Keine Schafe, keine Ziegen mehr, die auf der Heide weideten. Auch der kopflose Ritter hatte nun keine Heimat mehr. Stattdessen Straßen, Lastwagen, Beton, Krach. Und dann all die Leute, die »Auswärtigen«, die uns mit diesem belustigten, manchmal auch verächtlichen Blick musterten. Das war nur ein Grund mehr, weshalb wir uns nicht für diese Betonbauten interessierten, die bald höher waren als unsere Häuser. Manche Leute von auswärts behandelten uns, als wären wir irgendwie abartig. Das sagte man uns sogar. Meist aber beleidigte man uns einfach nur mit Blicken.

Mir hat das nichts ausgemacht, ich liebe diesen Landstrich zu sehr. Meine Schwestern auch. Wir sind mit den Tieren, den Steinen hier in Liebe verbunden. Eigentlich mit allem. Ich bin sicher, dass es auch solche verächtlichen Blicke waren, die die jungen Leute von hier vertrieben haben. Doch mit der Zeit haben wir gelernt, uns gegenseitig zu achten und uns einander anzupassen. Das ist viel besser so. Jeder führt sein Leben, wie es ihm passt. Solange ich Kühe hatte, bin ich um halb fünf Uhr morgens aufgestanden, habe noch ein wenig in meiner Werkstatt herumgebastelt, bevor ich um halb sieben, nach dem ersten Kaffee, zum Melken ging. Ihr hier im Werk müsst euch nach dem Wecker richten und seid Sklaven der Zeit. Ich nicht.«

Das war es in etwa, was ich den Leuten in der Wiederaufbereitungsanlage gesagt habe.

Ich könnte ja noch einen kleinen Witz anbringen: Wenn die Atomanlage funktioniert, haben wir bald Hummer mit vier oder sogar sechs Scheren. Das wäre doch gar nicht schlecht!

So ganz passt mir das Werk dort auch nicht, aber immerhin haben dadurch ein paar Leute Arbeit. Ich habe das Werk besucht, und das war’s auch schon. Nichts hat sich geändert. Ich bin hinein und wieder heraus, und ich danke dem Direktor für den freundlichen Empfang, den er uns bereitet hat.

Der Krieg hat alles verändert, alles zerstört. Damit mussten wir dann leben. Viele Leute kritisieren das Werk und meinen, sie wollen es hier nicht haben. Aber dann schalten sie doch den Strom ein. Es gibt sogar Leute, die uns, die Menschen von La Hague, kritisieren, weil wir hier unter dem »atomaren Niederschlag« leben. Und doch kommen sie ohne Strom nicht aus.

Man verachtet uns.

Wenn ich mich dazu äußere, heißt es gleich: »Dieser Idiot hat sich doch bisher nur um seinen Acker gekümmert!« Mag schon sein, nur verstehen die Leute, die uns verurteilen, nicht, dass wir keine Wahl hatten – wie mit dem Krieg. Man wirft uns vor, dass wir den Bau der Wiederaufbereitungsanlage nicht verhindert haben. Sie hätte ja auch woanders stehen können. Jetzt ist sie da. Wir wollten keine Anschläge unterstützen, um den Bau zu verhindern, womöglich wären Menschen ums Leben gekommen. Revolutionen führen nirgendwohin, Tote auch nicht.

Es gab Demonstrationen, aber wie soll ein kleiner Landstrich, auf dem gerade mal eine Handvoll Leute leben, gegen einen Beschluss angehen, der an so hoher Stelle gefasst wurde? Wie hätten wir denn die »verfluchte« Heide retten sollen? Meine Tante Alexina ging mit dem Stock auf die »Atomleute« los. Nun, das liegt wohl in der Familie, das hat mein Großvater mit den Boches auch so gemacht. Sie verteidigte ihr Land mit einem Stock. Auch gegenüber Leuten, die ohne Erlaubnis auf ihrem Grund und Boden jagten. Vor Gewehren hatte sie keine Angst. Ingenieure, Landvermesser, Jäger, ja sogar Spaziergänger … Mich hat sie auch mal bedroht, als ich mit meinem Vater über ihre Felder ging. Aber mein Vater meinte nur:

»Ich habe zwei Finger im Krieg (1914  18) verloren, damit du hier in Frieden leben kannst. Also lass uns schon vorbei.«

Von da an hat sie uns in Ruhe gelassen.

Meine Tante war schlau. Sie hat den Preis für ihre Felder ganz schön hochgetrieben, nur um alle zu ärgern. Aber am Ende ist sie doch enteignet worden. Soweit ich weiß, hat sie die Entschädigung dafür nie angerührt. Sie hat das Geld einfach auf der Raiffeisenkasse liegen lassen. Und als sie gestorben ist, war es nichts mehr wert.

Die Leute hier lassen sich nicht kaufen. Zumindest hat es noch keiner geschafft, Menschen in Geld zu verwandeln.

Wenn man La Hague in den Dreck zieht, mein La Hague, regt mich das richtig auf. Die Leute, die sich Hunderte Kilometer von hier entfernt mit Atomstrom das Leben erleichtern, sollten mal hierher kommen und sich einfach das Land ansehen, nur schauen. Nicht das La Hague, das man mit der Wiederaufbereitungsanlage in Verbindung bringt, sondern das alte, authentische La Hague mit seinen Bewohnern.

Denn mein Vater hatte recht: Zu viele junge Männer haben im Krieg ihre Gliedmaßen verloren. Der Mensch braucht Frieden. Die Leute, die uns »die Verstrahlten« nennen, sind genau die, die nie hierherkommen und diese schöne Landschaft betrachten. Aber da verpassen sie wirklich was!

Ich verlange nur eins für die Jungen und Mädchen, die auf diesem Fleck Erde zur Welt kommen: dass man uns achtet und uns wie Menschen behandelt und nicht in Fernsehsendungen und Zeitungsartikeln in den Dreck zieht. Kritik darf unserem Land nicht schaden, keinem Land.