Mein Tag als Aktiv-Rentner

Wie jeden Tag sehe ich die Sterbeanzeigen durch. Mit einem Tag Verspätung, weil ich immer die Zeitung vom Vortag lese. Mein Bruder hat sie abonniert und bringt sie mir, sobald er sie gelesen hat. Zuerst schaue ich aufs Alter, auf die Gemeinde, schließlich auf den Bezirk.

Was nicht heißt, dass nicht jeder das Recht hat zu sterben. Bitte, ich lasse dir gern den Vortritt, wenn du das möchtest!

Ich schaue nach, ob es eine Messe gibt und wie die Beerdigung sein wird, und da es etwas ganz Neues gibt, die Feuerbestattung, habe ich ein wenig mehr zu lesen und nachzudenken als früher 

Ich bin gegen die Feuerbestattung. Da hat man dann später keinen Ort, an den man Blumen bringen kann. Und das ist wichtig für die Erinnerung. Da gibt es gar nichts mehr, wenn es dich mal trifft! Bei uns sind die Gräber schlicht gehalten. Wahrscheinlich klingt das jetzt, als seien wir geizig. Aber warum soll man Geld ausgeben für einen großen Grabstein? Der kostet einen Haufen Geld und am Ende kommst du doch nicht wieder darunter hervor.

Auf dem Grab meiner Eltern steht nur ein einfaches weißes Kreuz, ein kleines Holzkreuz mit den Namen. Dieses Kreuz erneuern meine Brüder und ich so alle zehn Jahre.

Wer betet, ist keineswegs in Träumereien versunken. Schließlich werde ich nicht so, wie ich bin, ins Paradies eingehen. Mein Körper ist nichts, nur das Haus der Seele. Und die kann man nicht definieren, nicht durch den Geist und nicht durch das Mysterium. Der Glaube lebt in uns, und er muss unser Glaube sein, nicht der der anderen.

Meiner Ansicht nach ist der Tod nicht das Ende. Das Ende ist das Leben in Gott. Manchmal stirbt jemand, der so alt ist wie ich, und ich denke: »Ich bin noch da.« Aber das Verfallsdatum rückt näher. Man hat immer mehr Erinnerungen, die Zukunft verliert an Bedeutung. Ich würde mich am liebsten mit meinem Traktor beerdigen lassen, aber das macht viel zu viel Arbeit, und unser Friedhof ist zu klein, um so ein großes Loch zu graben. Schließlich brauchen die anderen Leute aus Auderville auch Platz.

Ich stehe jeden Morgen um sieben Uhr auf. Damit ich den Raz Blanchard besser höre, der unter dem Haus vorbeiströmt, öffne ich das Fenster und lege mich noch einmal ins Bett. Ich bleibe noch ein Weilchen liegen, dann stehe ich auf zum Frühstücken. Aber ich lasse mir Zeit. Ich wasche mich mit Kernseife, danach gehe ich nach unten. Ich esse ein weichgekochtes Ei und ein Stück Brot ohne Butter, weil ich die aus der Molkerei nicht mag. Wenn die Zeit danach ist, mache ich mir noch ein wenig grünen Spargel zum Eintunken ins Ei.

Der Kaffee steht auf dem Herd. Wir trinken ihn hier aufgewärmt, dann hat er den richtigen Geschmack. Eingeheizt wird erst gegen acht oder halb neun Uhr. Dann zünde ich unseren Holzofen an. Im Herbst ist das ein bisschen kalt, aber wenn wir nicht weniger als vierzehn Grad haben, eilt das Einheizen nicht. Man erfriert schon nicht so leicht! Außerdem werfe ich immer einen Blick auf das Barometer und das Thermometer, und wenn es draußen zu kühl sein sollte, ziehe ich einen Pullover an.

Heutzutage schlafen die Schwestern länger als ich. Früher musste ich, um einen Augenblick allein zu sein, um vier Uhr morgens aufstehen. Dann habe ich mich im Schuppen um die Fensterläden oder die Gatter gekümmert. Ich habe handbetriebene »Maschinen«, mit denen ich hoble oder säge. Paul ist ja »hoch mechanisiert«. Ich mag es, wenn es nach Holz riecht. Außerdem kann man sich so seinen eigenen Sarg zimmern. Da spart man wieder was und liegt niemandem auf der Tasche.

So gegen halb sieben Uhr morgens schloss ich mich dann den Schwestern zum Kaffee an. Daran hat sich außer der Uhrzeit auch heute nichts geändert. Ich lese die Briefe, die wir am Vortag bekommen haben. Am liebsten fange ich mit denen an, die eine Kinderschrift tragen. Wenn Kinder mir schreiben, bewegt mich das immer zutiefst, ich habe richtig Tränen in den Augen. Kinder wie diese werden die Erde bewahren, und sie ist in guten Händen. Manche dieser Kinder liegen im Krankenhaus, denen schicke ich dann eine Karte von meinem Dorf mit ein paar aufmunternden Worten.

Ich war ja nicht lang in der Schule, was manchmal hinderlich ist. Ich bin langsam beim Schreiben, aber am Denken hindert mich das nicht. Kein bisschen! Ich schreibe langsam und mein Garten wartet auf mich.

Wenn ich dann tue, was zu tun ist, denke ich über das Gelesene nach. Das ist wie ein Buch, aber eines, in dem vom Land die Rede ist, von der Art und Weise, wie ich und meine Schwestern die Erde bearbeiten, so wie unsere Eltern es schon getan haben. Manchmal schreiben die Leute auch von Gott. Mit diesen Menschen fühle ich mich verbunden, da hat man etwas gemeinsam.

So fängt also mein Tag als Aktiv-Rentner an. Im Grunde wie früher, nur ein bisschen später eben! Natürlich klingelt auch mal das Telefon. Françoise mag das nicht, weil unser Telefon so laut ist. Man fährt richtig zusammen, wenn es läutet. Marie-Jeanne hingegen reagiert nicht, weil sie so schlecht hört, dass sie einen Hörapparat braucht. Françoise meckert dann erst mal:

»Lieber Himmel, was wollen die denn schon wieder von uns?!«

Nun, und was will man, wer ist dran? Ein Nachbar, der Pfarrer, manchmal auch vollkommen Unbekannte, die »uns kennen«, die wir aber nicht kennen. Menschen aus allen Regionen Frankreichs, die einfach an dem oder jenem Tag vorbeischauen wollen und fragen, ob wir da sind. Die Frage ist leicht zu beantworten, denn ich bin immer da, wenn ich nicht woanders bin. Seit einigen Monaten habe ich nämlich viel außerhalb zu tun. Ich verlasse La Hague immer wieder. Man lädt mich ein.

Aber ich finde das immer ein wenig merkwürdig. Ich habe das Gefühl, anderswo riecht es stickig. Es gibt dort keinen Wind, man kann nicht atmen! Doch ich lerne außergewöhnliche Menschen kennen, und diese Begegnungen sind immer sehr schön. Aber ich bin halt schon recht alt und werde beim Reisen leicht müde. Wenn ich lange sitzen muss, bin ich hinterher erschöpft und meine Knie werden steif. Daher muss ich immer öfter Nein sagen. Das fällt mir nicht leicht, aber ich muss mein Zuhause und mein Leben schützen, sonst habe ich keine Zeit mehr für meine Kartoffeln und die Schwestern putzen mich herunter, weil wir sie kaufen müssen.

Am Sonntag nehme ich sie mit zum Semaphor. So können wir ein bisschen spazieren gehen.

Seit ich so viele Besucher habe, habe ich das Gefühl, zweigeteilt zu sein. Meine Nachbarn raten mir, Besuchszeiten einzuführen, aber dann bin ich nicht mehr Herr im eigenen Haus und ich bin gerne unabhängig. Ich werde demnächst ein Schild an das Gatter hängen: »Gestorben! Paul Bedel ist zu Staub geworden, vor einer Minute!« Damit ich diesen Herbst ein wenig mehr Ruhe habe, habe ich ein Schild gemalt, auf dem steht: »Grippe«.

Dabei bekomme ich gerne Besuch, und die Schwestern auch. Nur manchmal halten die Leute sich zu lange bei uns auf. Die Leute gehen und gehen nicht, und der Tag ist hinüber. Die Besucher wissen ja nicht, dass ich ein vollbeschäftigter Rentner bin! Ich habe schließlich immer noch zwei Felder und den Garten.

Andere meinen, ich solle meine Besucher doch zur Arbeit einspannen. Aber das ist unmöglich. Ich wäre viel zu anspruchsvoll als Chef. Ich habe da so meine Eigenheiten.

Zum Beispiel säe ich mit dem Mond. Ich warte bis zum Abend, bis die Besucher weg sind, und gehe erst dann in den Garten. Wenn der Mond schön hell scheint, bin ich schon mal bis Mitternacht draußen. Die Schwestern mögen es zwar nicht, wenn ich nachts draußen bin, vor allem seit unserem »außerirdischen Abenteuer«. Da haben Françoise und ich etwas äußerst Merkwürdiges am Himmel gesehen, das den Verstand übersteigt. Ich denke fast jeden Tag daran. Hoffentlich finde ich mal jemanden, der mir das erklärt, bevor ich abtrete: diese große, orangefarbene Kugel, deren mir völlig unbekanntes Licht mich so beeindruckt hat.

Ich mag diese Zeiten, in denen ich nachts arbeite, auch mal bei Niedrigwasser an den Strand gehe, wenn der Mond scheint. Nachts sind die Dinge irgendwie anders. Dann ist man mit seinen Gedanken, Geschichten und Fragen allein. Die Erde ist für mich mittlerweile recht schwer geworden. Ich bin alt, und so erinnere ich mich oft an meine Jugend, als ich die Erde gleichsam »aus dem Handgelenk« heraus umgrub. Dann wird man alt, und plötzlich fällt es einem schwer, sie umzustechen.

Die Erde ruft dich, wenn du Bauer bist. Sie klebt dir ja auch ständig an den Sohlen. Im Mondlicht aber wird man wieder jung. Niemand sieht dich. Du kannst dir dein Grab schon im Voraus schaufeln, schnell und in aller Stille, damit du niemandem zur Last fällst.

Aber wahrscheinlich kann man auf dem Friedhof nicht so in Ruhe vor sich hin buddeln wie auf dem Feld. Zumindest stelle ich mir das so vor!

Wenn ich nachts auf meinen Feldern eine gute Zeit habe, dann liegt das auch an meinen Besuchern. Sie haben mein Leben verändert. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so ruhig werden könnte wie in diesen Momenten.