Der Schnee
Wir fertigten Strohwische an, eine Handvoll Stroh, mit einem Stück Schnur umwickelt. Diese steckten wir in die Erde und machten mit kleinen Angelhaken eine zwanzig Meter lange Leine daran fest. Wir buddelten ein paar Regenwürmer aus und befestigten sie daran, um Kiebitze und Drosseln zu fangen. Einmal während des Krieges schlichen mein Vater und ich uns an unsere »Landleinen« unterhalb von La Vallette heran, als plötzlich Schüsse peitschten. Die Amerikaner zielten mit deutschen Gewehren auf unsere Vögel, die mit Schnabel oder Schwanz festhingen. 1944 hatte plötzlich jeder ein Gewehr. Die Federn flogen nur so herum, und zwischen zwei Schüssen hörte man das vulgäre Lachen der Soldaten. Mein Vater hielt mich am Ärmel fest, damit ich nicht weiterging. Die armen Tiere. Wir haben uns richtiggehend geschämt. Ein paar Tage später, als der Schnee geschmolzen war, waren von den Vögeln nur noch ein paar Federn übrig.
Wenn es schneite, warteten wir gewöhnlich, bis es am nächsten oder übernächsten Tag taute. Der Frost konservierte die Tiere.
Bei starkem Frost fingen wir die Vögel in den kleinen Hütten für die Jagdhunde, in denen sie geschwächt Unterschlupf suchten. Mama rupfte sie dann, und eine meiner Cousinen kam, um sich die Köpfe zu holen. Die lutschte sie aus, wenn sie gekocht waren, und zwar bis auf die Knochen. Niemand hätte sie davon abbringen können, und so haben wir ihr die Vogelköpfe einfach gegeben. Wir kochten die Vögelchen mit ein bisschen Gemüse zu Ragout, das über dem Kamin vor sich hinschmorte. Wenn ich heute so drüber nachdenke, haben wir wirklich von nichts gelebt. Das war unsere große Stärke. Wir wären auch nicht gestorben, wenn eine Hungersnot gekommen wäre.
An einem verschneiten Tag wollte mein Vater mal ans Meer gehen. Bei Tidenwechsel schliefen wir beide schlecht. Dann nahm er mich immer mit ans Meer, und ich sagte nie Nein. Wir zogen also los, die Erde war gefroren und knackte unter unseren Füßen. Unsere Stiefel knirschten, trotz Stock rutschte man leicht aus. Wir haben in der Kälte das Netz ausgeworfen. Die Meeräschen kommen bei Kälte nach oben und verschwinden dann wieder. Als das Netz gefüllt war, sah ich Enten über unsere Köpfe hinwegziehen. Zu der Zeit jagte ich noch. Bei der Kälte hätte ich die Enten nie und nimmer verpasst. Damals war der Himmel voll von ihnen.
Mit meinem Vater traute ich mich nicht auf Entenjagd zu gehen. Wir mussten schließlich das Netz einholen, und das haben wir auch getan. Wir haben dann Meeräsche gegessen. Wäre ich nicht mitgegangen, hätte es Wildente gegeben! Wenn du in der Kälte zum Fischen gehst, schmeckt hinterher der Kaffee noch mal so gut und du ziehst keinen Flunsch mehr.
Für den Bauern ist der Schnee einfach lästig. Er macht so viel Mehrarbeit. Die weiße Decke bringt den ganzen Tagesablauf durcheinander.
Grün und Weiß geht nicht zusammen. Das ist einen Augenblick lang schön, aber das war’s dann schon. Die Ställe sind voll alter Tiere, denen man mit dem Eimer zu trinken geben muss. Du musst ihnen wirklich mehrmals am Tag mit dem Eimer Wasser bringen und jedes Mal die Streu auswechseln.
Außerdem marschierte ich immer mit ein paar Bündeln Heu auf dem Rücken auf die Heide. Das hat mich warm gehalten, aber gesehen habe ich gar nichts. Ich musste jeden Morgen und Abend dort hinaus. Je nach Schneehöhe hat mich das bis zu vier Stunden gekostet.
Ich musste die Eisschicht der Tränke aufschlagen, damit die Jungtiere, die auf der Heide draußen waren, etwas zu trinken hatten. Und das Wasser fror immer gleich wieder zu. Ich habe mich den ganzen Tag nur um die Tiere gekümmert! Abends, bevor es dunkel wurde, ging ich noch mal raus, sonst hätte ich sie nicht mehr von Schneewehen unterscheiden können. Ginsterbüsche und Vieh wurden zu großen und kleinen Schneehügeln. Gleichwohl darf man ein Tier niemals von der Schneeschicht befreien, die es bedeckt, sonst fängt das feuchte Fell ohne die schützende Decke an zu gefrieren. Ich habe eines der Tiere vor Kälte zittern sehen, als hätte es Fieber, nur weil ich es von seinem eisigen Mantel befreit hatte.
Gab es nicht allzu viele Schneeverwehungen, nahm ich den Traktor. Doch der fing bei Frost an zu spinnen. Er drehte sich gerne im Kreis und dann fuhren er und ich erst mal nach La Roque, einem Weiler in der entgegengesetzten Richtung.
Wenn ich glaubte, dass es bald Schnee geben würde, brachte ich das Futter für die Tiere manchmal schon am Vortag raus. Nur ein paar Bündel, die ich am Feldrain ablegte.
1961, als ich meine Schafe suchte, die nichts mehr zu fressen hatten, habe ich mir mit der Schaufel einen Weg gebahnt. Auf dem Rückweg musste ich schon doppelt so viel schaufeln, so viel Schnee war gefallen.
Ein andermal, denn unsere Tätigkeit hat viel mit Vorausschau zu tun, bin ich mit Marie-Jeanne losgegangen, um die Tiere von der Mézette hereinzuholen und sie auf die umzäunte Weide weiter unten zu bringen. Der Schnee fiel, und dichter Nebel hüllte uns ein. Ich öffne das Tor, die Kühe müssten gleich hinter mir kommen, Marie-Jeanne dann als Nachhut. Aber als ich das Tor öffne, steht plötzlich Marie-Jeanne vor mir – ohne Kühe. Die Sicht war so schlecht, dass wir die Tiere zwischendrin einfach verloren hatten. Wir gingen zurück und fanden sie schließlich in der Nähe einer Kurve, wo sie sich eng aneinanderschmiegten, um sich vor der Kälte zu schützen.
Die Kälte verändert den Rhythmus unseres Lebens. Sie bringt alles durcheinander.
Obwohl diese Schneetage außerordentlich anstrengend waren, haute ich doch das ein oder andere Mal ab, um auf die Jagd zu gehen. Ich schoss Kiebitze und Hasen. Das war zu der Zeit, als mein Vater noch lebte.
Erst nach seinem Tod habe ich mit dem Jagen aufgehört. Denn da habe ich angefangen, mir Fragen über das Leben im Allgemeinen zu stellen. Das war Ende der Fünfzigerjahre.