Die Zeit

Ich bin ein Bauer ohne Geschichte. Ein Vorkriegsmodell, geboren am 15. März 1930 »auf dem Hof« in einer kleinen Gemeinde im Bezirk La Hague, am äußersten Rand von Auderville.

Ich heiße Paul Bedel.

Wenn ich als junger Mesner die Totenglocke läutete, dachte ich nicht an meine letzte Stunde. Ich habe dabei immer gelächelt. Ich läutete noch von Hand, da hieß es ordentlich ziehen. Und wenn du da so ganz allein am Seil hängst, dann wird dir die Zeit lang. Armer Gusto! Mein Körper stieg in die Höhe, während ich der armen Seele, die da ins Paradies davonflog, die letzte Ehre erwies. Das Totenläuten konnte bis zu einer halben Stunde dauern, je nachdem, wie angesehen der Verstorbene war.

Davon und von der Feldarbeit habe ich kräftige Muskeln und Knochen bekommen. Heute geht ja alles elektrisch. Ich drehe an drei Knöpfen und schon läuten die Glocken. Mittlerweile werden die Glocken – wir haben zwei im Glockenturm – für alle gleich lang geläutet. Das ist nicht schlecht, dass alle gleich viel Geläute kriegen. Denn unter der Erde liegen sowieso alle gleich tief.

Ehrlich gesagt, bleibt mir so sogar noch ein wenig Zeit, denn als Landwirt im Ruhestand bin ich ziemlich beschäftigt. Wo ich auch bin und was ich auch tue, meine Zeit ist knapp bemessen. Das ist jetzt in der Rente genauso wie in meiner aktiven Zeit.

Ich drehe jeden Schalter dreimal um, und die Glocken läuten von allein. Ich horche, ob sie richtig anschlagen, dann sperre ich die Sakristei ab, schiebe den Schlüssel in meine Jackentasche, knie nieder und bekreuzige mich.

Draußen atme ich den frischen Wind ein und ziehe mir meine Kappe über die Ohren. Der weiße Friedhofskies knirscht unter meinen Füßen. Ich gehe schnell und meine Gestalt, krumm vom vielen Tragen, schwingt hin und her wie ein Klöppel.

Ich biege in meine Straße ein.

Ein kurzer Blick hinaus aufs Meer, eine kräftige Brise streicht über das Wasser.

Ich schaue hinauf zu der Wetterfahne auf meinem Stall, die aussieht wie eine Kuh, und sauge die Luft ein, so wie es meine Vorfahren schon getan haben. Ein Mann, der Bescheid weiß, weil er einiges erlebt hat. Die Winde haben sich nicht verändert.

Ein schmallippiger Gruß zur Nachbarin hinüber, die ihre Sprühdose, so nenne ich ihren Hund, Gassi führt. Er pinkelt immer auf unsere schöne Hortensie, sodass die Blätter schon ganz gelb sind. Zum Glück kommt sie immer nur am Wochenende. Wochentags versucht die arme Pflanze, sich wieder zu erholen.

Ich gehe ins Haus, wo das Telefon läutet. Einer aus der Pfarrei ruft an und will wissen:

»Paul, wer ist denn eigentlich gestorben?«

Und unweigerlich antworte ich auf diese Frage:

»Also ich war’s nicht!«

Nach wie vor macht mir dieser kleine Scherz einen Heidenspaß, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Wenn du nämlich ins Telefon keuchst, weil du gerade im Eilschritt von der Kirche nach Hause gerannt bist, weißt du, dass du noch am Leben bist. Und der am Telefon meckert dann wie immer:

»Lass deine Witze, Paul! Das weiß ich selber, dass du es nicht warst, wenn du ans Telefon gehst. Alter Gimpel!«

Eins steht jedenfalls fest: Besser ein lebender alter Gimpel als ein toter alter Gimpel. Allerdings gibt es in den anderen Gemeinden keinen Paul, der die Totenglocken läutet.

Manchmal erreichen mich ziemlich traurige Anrufe. Die Uhr bleibt auch für die nicht stehen, die wir lieben.

Meine Frist ist bald abgelaufen und dann wird es auch für mich so weit sein.