Der Besuch

Evelyne Laurent kam an diesem Morgen schon früh zu uns, ich war gerade mit der Morgentoilette fertig. Françoise wird mich begleiten, Marie-Jeanne hört schlecht, daher bleibt sie lieber zu Hause. Der Direktor, Monsieur Eudier, empfängt uns sehr herzlich und vertraut uns dann der Führung einer Dame an.

Von ihren Büros in den oberen Stockwerken haben die Herren einen wunderbaren Blick auf La Hague. Wenn einer von ihnen auf unsere Gegend hier zu sprechen kommt, hört es sich immer so an, als würde er sie sehr schätzen. An den Wänden hängen wirklich schöne Fotos von unserer Gegend. Ein paar von den Leuten, die ich dort kennenlerne, erzählen mir sogar, dass sie in den Ferien nie weit wegfahren, sondern lieber zu Hause bleiben, um dem Meer zuzuhören und im Garten herumzuwerkeln. Ihre kleinen Geschichten freuen mich, ich hatte mir nämlich schon vorgestellt, dass gewisse Leute unsere Ecke wohl nicht mögen, denn die Wiederaufbereitungsanlage wirkt wie ein Fremdkörper in unserer schönen Landschaft.

Früher, vor meinen Abenteuern mit Regisseuren und Schriftstellern, habe ich nie darüber nachgedacht, dass es hier, in La Hague, schön ist. Ich bin ja nie weggekommen. Mittlerweile weiß ich, dass es hier außergewöhnlich schön ist, das wird mir vor allem dann klar, wenn ich weit weg bin. Scheinbar geht es den Angestellten in der Anlage genauso, nur dass sie diese Erkenntnis früher hatten als ich, weil sie aus anderen Orten kommen. Sie konnten vergleichen. Als ich im Mai 2008 nach Deauville kam, spazierte ich über den künstlichen Strand, den man mit Sand aufgeschüttet hat. Dabei kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass man die Wiederaufbereitungsanlage auch dort hätte bauen können. Da hätten sie schön gemeckert, die Leute aus Deauville und dem nahen Paris. Für uns wäre es natürlich besser gewesen. Nur dass Deauville den Reichen gehört. Die hätten sich mit Bündeln von Geldscheinen verteidigen können.

Während des Besuchs redet man ein bisschen, dann kehrt jeder an seine Arbeit zurück. Wir verabreden uns zum Mittagessen. Françoise, Evelyne und ich sehen uns bis dahin ein paar interessante Filme an. Ich hatte geglaubt, man würde uns im Bus über das weitläufige Gelände kutschieren wie die anderen Besucher, aber nein, dies ist ein offizieller Besuch. Ein kleines Auto fährt uns herum. Da und dort ist noch ein wenig von der Heidelandschaft übrig. Hinter den riesigen Bauten stehen ein paar Ginsterbüsche und ein wenig Grünzeug. Man spürt, dass es ein gewisses Bestreben gibt, das zu erhalten, was hier einmal war. Das erstaunt mich. Ich bin ganz zufrieden, als wir ins Zentrum der Anlage zurückkehren.

Dann müssen wir die Schutzanzüge anziehen. Paul im weißen Raumanzug! Ein weißer Panzer, eigentlich eine Art Arbeitsanzug. Dabei werden wir uns doch gar nicht schmutzig machen. Wir betreten eine kleine Kabine wie in der Röntgenabteilung der Poliklinik. Unter dem Anzug ziehe ich alles aus, damit ich auch ja nichts rausschleppe aus diesem Ort … Man weiß ja nie. Als wir uns dann in den Anzügen sehen, müssen wir laut lachen.

Paul zieht sich aus, um der Bestie ins Auge zu sehen!

Ich bin ja nicht von gestern.

Immerhin habe ich dieses Mal nichts falsch angezogen. Jedenfalls hat niemand etwas gesagt. Anders als damals beim Röntgen, wo ich das Hemd verkehrt herum anhatte, mit der Öffnung nach vorne. Die Dame, die mich aus meiner Kabine holen wollte, machte die Tür gleich wieder zu. Und kam nicht wieder herein, bevor sie sich nicht versichert hatte, dass der Schlitz jetzt hinten war!

Kurz gesagt: In der Wiederaufbereitungsanlage sollte man, glaube ich, die Unterwäsche anbehalten, aber ich habe vorsichtshalber alles abgelegt. Und ich habe darauf geachtet, dass mein Anzug überall schön zugeknöpft war. Ich will ja schließlich niemanden erschrecken.

Nun wird mir doch ein wenig mulmig. Sobald man den Anzug anhat, hat man das Gefühl, wirklich in einer Nuklearanlage zu sein. Da sind schon die Wasserbecken! Aber baden möchte ich darin nicht.

Ich mustere die Decke und die Ecken der Räume: nicht eine Spinnwebe.

Jetzt sind wir also zu Besuch im Herzen des Ungeheuers.

Die Zeit vergeht schnell.

Dann sind wir in einem Raum, von dem aus Roboter gesteuert werden. Wir sind gerade rechtzeitig eingetroffen, um etwas mit anzusehen, das irgendwie technisch ist, aber da muss ich passen. Das ist mir zu hoch. Evelyne und Françoise hören den Erklärungen aufmerksam zu, ich lasse mich ablenken. Ich überlege, wie es mir wohl ergangen wäre, hätte ich, wie so viele andere, beschlossen, hier zu arbeiten. Ausgerechnet ich, der ich die Arbeit auf dem Feld und mit Holz so gerne mag. Aber vielleicht hätten sie ja auch einen Schreiner gebraucht, wer weiß? Trotzdem hätte ich hier nie Hobelspäne riechen können wie in meiner Werkstatt, wenn der Hobel sanft über die Holzfläche gleitet und die Späne zu Boden fallen. Hier gibt es nicht mal Staub, geschweige denn Sägemehl. Nein, ich bedauere es wirklich nicht. Ich freue mich über den Besuch hier, aber ich bin glücklich, Bauer geblieben zu sein.

Dann betreten wir die »Hexenküche«, wie wir das Labor scherzhaft nennen. Man öffnet riesige Kühlschränke, in denen allerhand Zeug liegt, das man zwar kennt – wie zum Beispiel einen halbverbrannten Hummer –, aber nicht essen darf. Krabben, Kräuter, Milch, Eier, Käse, Algen in langen Plastikbehältern, und andere Lebensmittel. Das Zeug wird verbrannt und dann auf Radioaktivität getestet.

Man führt also Kontrollen durch.

Glücklicherweise bietet man uns hier nichts zum Essen an. Denn nach dem Kochen wandern all die Sachen in einen Mixer, und der arme Hummer, den nicht ich gefischt habe, findet sich plötzlich im Reagenzglas wieder.

Wenn das keine Verschwendung ist!

Dann müssen wir durch die Schleuse, den Damen gebührt der Vortritt. In der Schleuse wird getestet, ob man beim Spaziergang durch das Werk vielleicht radioaktiv geworden ist. Man muss die Hände vor sich ausstrecken. Nur dass bei mir das Licht rot bleibt. Ich gehe immer wieder hinein und wieder heraus, nichts zu machen, das Licht bleibt rot.

Ich könnte mir einen Ast lachen.

Aber nein. Stattdessen stelle ich mich noch einmal wie gefordert hin, richte mich auf. Ich bin ja schon reichlich krumm. Also strenge ich mich an und drücke die Schultern durch. Schließlich ist das gute Stück zufrieden und entlässt mich aus seinen Klauen.

Dabei hat es drei Mal hintereinander rot gezeigt.

Wenn man wieder herauskommen will, ist es jedenfalls besser, den Kopf hoch zu tragen!

Wir gehen im Moulinets essen, dem Gästehaus, wie man das hier nennt. Wie viele unserer jungen Mädchen wohl hier arbeiten? In den Dörfern ringsum ist dieses Restaurant im Gespräch, hier serviert man Hummer, die nicht gefroren waren, und zwar in Cognac flambiert, frischen Fisch und ausgezeichnete Desserts.

In Herqueville, wo das Restaurant liegt, und den Dörfern der Gegend isst man ihn eher à la haguaise (einfach nur mit Salz und Pfeffer). Hummer könnte ich ohnehin jeden Tag essen. Wenn man mir den auftischt, ziere ich mich nicht lange. Wenn’s ums Essen geht, sind wir Bauern, wir, die Bedels, und die anderen aus La Hague.

Die Welt hat sich verändert, seit die Wiederaufbereitungsanlage gebaut wurde. Ihr Präsident, der eigentlich eine Präsidentin ist, hat anscheinend meine Biografie gelesen, Paul dans les pas du père (Paul in den Fußstapfen seines Vaters). Da frage ich mich natürlich, wieso eine so hochstehende Dame sich für einen armen Teufel wie mich interessieren sollte. Aber eben dieser wenig entwickelte Paul speist heute Mittag mit dem immer noch freundlichen Direktor der Anlage und Françoise, meine Schwester, ist ganz hingerissen. Er hat sogar die Dame mit eingeladen, die uns den ganzen Tag herumgeführt hat, und das finde ich wirklich nett. Ich mag es nämlich nicht besonders, wenn man die Angestellten, die kleinen Leute, ausschließt. Am Nachmittag wird die Führung fortgesetzt, schließlich erhalten wir unsere Ausweise zurück. Man hat uns nicht einfach in eine Ecke abgeschoben, das war eine echte Einladung. Am Schluss werden wir sogar zum Ausgang geleitet.