Meine Hefte

Mein Haus ist ein einziger Speicher. Ich hebe alles auf. Wenn man nichts wegwirft, sammelt sich so einiges an. Aber natürlich darf niemand meine heilige Unordnung stören. Dann finde ich nämlich nichts mehr.

Und meine Hefte sind sowieso für fremde Augen tabu.

Ich schreibe die Hefte nicht etwa voll, um mich an die verschiedenen Geburtstage zu erinnern. Geburtstag feiern wir ohnehin nicht. Das war früher schon so. Da hat man auch nur einen Geburtstag gefeiert, und das war der Jesu zu Weihnachten. Gratuliert wird zum Namenstag, dem Tag, an dem unser Namenspatron im Kalender steht. Und Geschenke brauchen wir auch nicht. Man weiß ja schließlich, dass man sich schätzt.

Wir leben zusammen, das sagt doch alles.

Die Hefte habe ich aus anderen Gründen. Zum einen gehe ich gern noch einmal durch, was ich am Vortag gemacht habe, auch die eine oder andere Telefonnummer beziehungsweise Adresse halte ich darin fest. Außerdem zähle ich nach der Ernte die Kartoffeln, natürlich nur die Säcke, nicht jede einzeln. Ich schreibe auf, wie viele pouques (Jutesäcke) wir gefüllt haben. Porree- und Spargelstangen aber führe ich einzeln auf.

Ich kaufe die leeren Hefte Anfang des Jahres entweder in einem Laden in Beaumont-Hague oder bei einem Buchbinder. Das älteste Heft habe ich von der Caisse mutuelle de réassurance de la Manche, der Genossenschaftsbank des Département Manche. Ich kaufe alle zehn Jahre eins, ein Heft der Marke Herakles. Da trage ich dann meine Buchführung ein. Bis heute führe ich in einem roten Spiralheft Buch.

Alle haben eine Größe, die man bequem in der Hand halten kann. So kann ich sie überall mit hinnehmen. Es ist ja so: Die Buchführung für einen Bauernhof und eine Familie passt – wir haben ja nie Subventionen beantragt – auf zwei Seiten pro Jahr! Da muss man wenigstens nicht zwei Stunden pro Woche dafür aufbringen.

Ich kaufe wenig und verkaufe nicht viel mehr.

Auch mein Vater hatte seine Notizblöcke. Er bewahrte sie in der Küche auf, in einer Ecke der Anrichte. Niemand hätte je gewagt, einen Blick hineinzuwerfen. Daneben lag – stets griffbereit – ein großer Bleistift mit einer dicken Mine. Diese schnitt er mehr schlecht als recht mit seinem Messer zurecht. Er schrieb nicht schön, was bei seinen Händen kein Wunder war. Als ich nach seinem Tod den Hof übernahm, habe ich auch die Hefte geerbt. Er hatte nur Buch geführt, nichts anderes aufgeschrieben. Ich hatte das Gefühl, dass etwas fehlte. Gerne hätte ich ihn besser gekannt, doch er redete ziemlich wenig. Und seine Zahlen sagten nicht viel. Wie soll ich das ausdrücken? Man begriff zwar viel von seinen »Papieren«, von den Geschäften auf dem Hof, aber von ihm kein bisschen. Die Zeit, die Landschaft, die Leute – davon konnte man sich kein Bild machen.

Bei seinem Tod war ich dreißig und hatte schon mehr im Sinn als nur meine Felder. Ich dachte über mein Leben nach, über die Leute, aber auch über andere Dinge. Meine Hefte spiegeln mich auf gewisse Weise wider. Manchmal lese ich sie und erinnere mich. Natürlich steht da nicht alles, aber auch wenn etwas vierzig Jahre zurückliegt, erinnere ich mich doch an die Geschichte.

Auf diese Weise stückelt man am Leben an und bewahrt die Erinnerung. Alle Menschen, die ich nach dem Tod meines Vaters kennengelernt habe, haben darin ihren Platz. Und wenn ich dann in der Woche vom 14. Juni 1975 im Heft lese: »Gesträuch geschnitten, nachts Regen, Nordosten, Pierre zu Besuch«, dann weiß ich wieder, was damals los war.

Nur wurden die Besuche mit der Zeit mehr. In meinem Heft von 2008 steht nicht so häufig: »Kartoffeln gepflanzt, Schuppen repariert, Holz geschlagen«, sondern öfter »sechs Besucher, zwei aus Caen, zwei aus Fécamp, Rest aus Valogne«. Und daneben dann: »Rüben eingeholt«, aber ziemlich am Rand 

In meinen Heften steht mein ganzes Leben, aber letztlich kann nur ich mir darauf einen Reim machen! Und meine Erben werden einmal meine Abrechnungen finden.

Viele Leute stellen mir Fragen zu den Heften. Sie liegen alle in einer Blechschachtel, die langsam verrostet. Gefunden habe ich sie auf einem unserer Felder, ursprünglich waren Raketenzünder der Deutschen drin, die die Blechschachtel vor Feuchtigkeit schützte. Beste deutsche Qualität eben … Kriegsbeute also. Sie haben uns ja so einiges geklaut, dafür konnte ich mich nun revanchieren. Man riecht, dass die Schachtel alt ist, wenn man sie öffnet!

Ich habe auch noch andere Hefte, in denen ich meine Erinnerungen eintrage. Die waren sehr nützlich, als die Bücher über mein Leben entstanden sind. Abends notiere ich die wichtigsten Ereignisse. Diese mögen für andere uninteressant sein, aber für mich haben sie ihren Wert. Aber die sind noch besser versteckt als die Blechschachtel.

Früher habe ich keine Bleistifte gekauft, sondern sie immer irgendwo geschenkt bekommen. Aber in letzter Zeit geht mein Vorrat zur Neige. Ich habe ja jetzt viel zu schreiben. Von den Widmungen mal ganz abgesehen.

Oft bekommt man zum neuen Jahr mehrere Terminkalender im Buchformat geschenkt. Die hebe ich auf, sozusagen als Reserve. In der mageren Zeit, wenn ich keine solchen Geschenke bekomme, benutze ich dann einen alten Kalender. Meine Eintragungen zum Jahr 1977 zum Beispiel stehen in einem Kalender aus dem Jahr 1975. Da habe ich dann auf jedem Tagesblatt den richtigen Wochentag eingetragen. Ich habe ja Zeit, und auf diese Weise habe ich etwas zu tun.

Wenn ich dann beispielsweise zwei Jahre nachlese, stelle ich fest, dass ich jeweils am 12. Januar auf dem Hof herumgebastelt habe. Und dass es in jedem Jahr an einem bestimmten Tag einen großen Sturm gegeben hat. Ich lese gerne in meinen alten Heften und versuche dahinterzukommen, was sie mir von Jahr zu Jahr sagen.

1978 habe ich zum Beispiel nach den üblichen Notizen eingetragen, was ich über den Vatikan in Erfahrung gebracht hatte:

1200 Angestellte, 900 Menschen leben in der Vatikanstadt, eigener Staat, 3 Milliarden Einkünfte aus Immobilienbesitz, die über den italienischen Staat reinkommen und auf ein Bankkonto fließen. Der Petersdom wird von Spenden erhalten und von den Eintrittsgeldern der Museen. Peterspfennig, Abgaben jeder Pfarrgemeinde. Jedes Land ist in Diözesen aufgeteilt, die ihre Gaben nach Rom schicken.

An diesem Tag habe ich wohl über das Einkommen des Papstes nachgedacht!

Darauf läuft es wohl hinaus. Denn zwischen den Seiten meiner Hefte, zwischen Rechnungen aus einzelnen Läden und meinen Einträgen, finden sich auch Gebetsentwürfe für die Messen in der Kirche, in der ich Mesner bin. »Dinge von oben« eben. Meine Tage, meine Arbeit haben etwas sehr Spirituelles. Es finden sich Gedanken für junge Leute, die heiraten, über andere, die gestorben sind, und so weiter. Manchmal flattern mir auch Zeitungsausschnitte entgegen, zum Beispiel darüber, wie man das Gewicht eines Rindes am besten schätzt. Hier die Methode Crevat:

Man misst den Brustumfang unmittelbar hinter den Schultern und rechnet ihn in Kubik um (indem man ihn zwei Mal mit sich selbst multipliziert). Das Ergebnis wird mit einem Koeffizienten multipliziert, der je nach Zustand des Tieres von 68 bis 90 reichen kann, je nachdem ob es normal, halbfett, fett, fettarm oder mager ist. Bei Kälbern nimmt man den Koeffizienten 100!

Wer sich verschuldet, hat natürlich Probleme, etwas zur Seite zu legen. Das ging mir nie so. Ich habe nie viel gespart, aber ein wenig. Und wenn man jedes Jahr ein bisschen spart, dann summiert sich das auch. Aber ich habe mich nie zum Laufburschen des Staates gemacht, indem ich Prämien und Zuschüsse angenommen habe. Jenes Staates, der seit der Euro-Einführung zugelassen hat, dass die Preise immer weiter klettern. Heute zahlen wir für ein Kilo Kartoffeln einen Euro, das sind mehr als sechs Francs! Und der Salat kostet manchmal zwei Euro! Dreizehn Francs. Und von den Preisen für Äpfel oder Brot fange ich erst gar nicht an.

Eines ist sicher: Wenn ich heute dreißig Jahre jünger wäre, würde ich auf jeden Fall wieder Bauer werden!

Nun, es stimmt schon, wenn ich Kartoffeln klaube, zähle ich sie. Die Porreestangen auch. Ich schreibe alles auf. Vielleicht ist das ja auch nicht normal. Aber wenn ich meine Kartoffeln hätte kaufen müssen, so hätte mich das Jahr für Jahr mindestens tausend Euro gekostet! Und der Spargel erst. Der Spargel, den ich jeden Morgen in mein weichgekochtes Ei tauche. Ich möchte gar nicht wissen, was der Spargel kostet! Für die Speiserüben verlangt man mittlerweile zwei Euro pro Kilo. Früher hat man sie verschenkt, weil man so viel davon hatte.

Und als ich das Buch schrieb, kam mir alles noch viel teurer vor. Alles, was früher keinerlei Wert hatte, ist heute teuer geworden: der Hummer, den man fing, die Abalonen, die man nicht mehr findet, und jetzt auch Kartoffeln, Rüben und Karotten. Ein Kohlkopf kann heute den Kopf hoch tragen!

Man kann wohl sagen, dass man uns ganz schön geleimt hat.