Großvater Bedel

Wir hatten früher richtige Wachposten in den Dörfern. In Auderville war das ein alter Mann, der immer auf dem runden Stein vor seinem Haus saß. Wenn die Leute von der Sonntagsmesse kamen, erbettelte er sich ein paar Sous:

»Du hast doch bei der Kollekte gerade ein paar Münzen für jemanden hergegeben, den du gar nicht kennst, da kannst du mir ruhig auch was geben, damit ich mir einen Schluck Roten kaufen kann.«

Ihr könnt die alten Leute hier fragen, die erinnern sich alle noch an den Kerl auf dem Stein. So wie sie sich an meinen Großvater erinnern.

Mein Großvater wusste so allerhand. Schließlich hat sich in La Hague auch einiges zugetragen. Ein paar Dinge kann man ruhig erzählen, andere besser nicht.

In unser Dorf kam immer eine Frau, die Hasenfelle verkaufte. Man hörte sie schon von Weitem mit ihrer lauten Stimme und ihrem Wägelchen:

»Hasenfelle! Hasenfelle!«

Da rief dann mein Großvater gut gelaunt:

»Hast du denn keine Hasenpfoten?«

Es jagte mir einen höllischen Respekt ein, wie mein Großvater da seine Stimme erschallen ließ. Fast war es mir ein wenig peinlich, und so versteckte ich mich hinter der Hecke, um die Reaktion der Alten zu beobachten, die in meinen Augen aussah wie eine Hexe.

»Alter Esel! Geh schon und such mir deine Hasenfelle heraus, wenn du welche hast. Dir ist es doch mehr als recht, dass ich komme und sie dir abnehme.«

Wenn es im Sommer so richtig heiß wurde und wir im Heu spielten, bekamen wir alle schnell Durst. Mein Großvater auch. Dann musste das jüngste der Kinder zum Bach hinunterlaufen, wo der alte Mann die Cidreflaschen versteckt hatte. Am Ende des Tages konnte der Ärmste mit seinen kurzen Beinchen oft nicht mehr. Ich bin gelaufen und meine Schwestern ebenfalls. Das haben wir sogar nach seinem Tod beibehalten.

Solche Sachen könnte ich stundenlang erzählen. Aber diese ganzen Nachrichten aus aller Welt, die kann ich mir nicht merken. Wenn man sich wirklich an etwas erinnern will, muss man dort gewesen sein, wo sich alles abgespielt hat.

Guste, mein großer Bruder, hing immer bei meinem Großvater rum. Auf dem Weg nach Goury liegt in der Kurve ein alter Steinbruch, der als Müllhalde benutzt wurde. Dort hatte mein Großvater einen alten Krug gefunden, der so hoch war wie eine Milchkanne, nur oben herum schmäler, damit man leichter ausgießen konnte. Opa befahl seinem Enkel:

»Stell den Krug in die Mitte der Kurve. Wir füllen ihn mit Steinen, dann müssen die Irren, die in der Kurve so schnell fahren, abbremsen. Das schadet ihnen kein bisschen.«

Das war 1937. Damals kam in der Woche ein Auto durch Goury, mehr nicht! Der Fortschritt, die Geschwindigkeit, das machte ihm Angst. Heute würde er wahrscheinlich den Verstand verlieren.

Mein Großvater lieferte bis nach Cherbourg, und zwar einmal die Woche. Er brachte ein halbes Schwein zum Metzger, Butter zu den Milchläden und brachte den Händlern in den Halles von Cherbourg, wo jetzt das große Einkaufszentrum ist, Fische. Er kassierte ein bisschen Geld bei der Lieferung, den anderen war geholfen, und ihm machte es Spaß. Wenn er nach Cherbourg fuhr, sah er wenigstens mal etwas anderes als immer nur das Dorf.

Eines Tages bat ihn die hübsche Marie M., ihr doch bitte ein Korsett mitzubringen, wie Großvater uns voller Stolz erzählte. Er hat all seinen Mut zusammengenommen und tatsächlich eins gekauft. Und sie hat ihm dafür zu Hause herzlich gedankt. Danach sah Marie M., die damals schon nicht mehr die Jüngste war, ganz anders aus.

Opa lieferte also einmal die Woche aus und brachte uns von seinen Fahrten allerhand Geschichten mit. Gelegentlich half er dem Pfarrer, wie viele Männer aus dem Dorf, zumindest die, die mit dem lieben Gott auf Du und Du waren. Eines Tages, als er vom Einkaufen zurückkam, schloss er sich ein paar Männern an, die im Garten des Pfarrers Apfelbäume pflanzen wollten. Alles wartete auf die Anordnungen des Pfarrers. Der aber erhielt gerade Besuch von Pfarrer Bosset aus der Nachbargemeinde, der auf seinem Eselswagen vorbeigekommen war. Wahrscheinlich hatte er Durst, denn er meinte zu unserem Pfarrer:

»Werter Kollege, wenn Sie schöne Äpfel wollen, müssen Ihre Arbeiter aber noch vor Mittag ins zugehörige Loch fallen.«

Da braucht man nicht zwei Mal zu fragen, wie das ausging. Der Pfarrer löschte den Durst seiner Pfarrkinder nämlich mit Calvados. Nach einer guten Stunde blieb einer der Helfer, der dickste, im Loch liegen und rührte sich nicht mehr.

Denn normalerweise gruben sie nur Löcher für die Toten. Da grub man und sah zu, dass man die Arbeit beendete und das Loch wieder auffüllte.

Die Löcher waren ja nicht dafür gedacht, sich selbst hineinzulegen.

Seine Kollegen, darunter auch mein Großvater, zogen den Dicken also heraus und packten ihn auf den Eselswagen des Pfarrers aus Jobourg, um ihn nach Hause zu schaffen. Nur dass seine liebe Frau sie von Weitem schon kommen sah. Das ist das Haus, an dessen Gartentür ein Schild hängt: »Vorsicht, bissiger Hund.« Sie sieht, wie ihr Mann in diesem Zustand ankommt und läuft schimpfend auf die Männer zu:

»Schämt ihr euch nicht, mir meinen Mann in diesem Zustand zurückzubringen? Euch werde ich heimleuchten!«

Die Männer bekamen es angesichts dieser – wenngleich berechtigten – Drohung mit der Angst zu tun und ließen den Wagen einfach stehen. Und so fand sich der Ärmste in seinem Hof wieder, seine Freunde hauten schleunigst ab, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass er noch lebte. Der Wagen rollte von selbst ein Stück weiter, dann kippte er nach hinten und die beiden Deichselstangen standen hoch in die Luft.

Und so hieß es hinterher spöttisch, in Goury sei ein Zweimaster gestrandet. Es habe einen Ertrunkenen gegeben. In gewisser Weise schon, aber der ist im eigenen Saft ertrunken.

Erst später merkte man etwas Interessantes, weshalb man die Geschichte noch jahrzehntelang weitererzählte, sonst hätten wir sie ja gar nicht gehört. Die Apfelbäume wuchsen nämlich gut an und trugen Jahr für Jahr, das habe ich selbst gesehen, riesige Äpfel, Äpfel mit einem kugelrunden Bauch, wie der Pfarrer ihn hatte.

Während des Krieges – er war damals schon einundsiebzig, aber ich habe ihn mittlerweile längst an Jahren überholt – war mein Großvater schon ziemlich kraftlos. Er humpelte und ging am Stock. Die »moderne Sprache« kannte er nicht. Er redete nur Dialekt und wusste nur ganz wenige Wörter auf Französisch. Der echte Dialekt wurde ja unglaublich schnell gesprochen. Die Touristen (ich nenne die Deutschen »Touristen«, weil sie hierher gekommen sind, ohne eingeladen worden zu sein) kamen 1940. Ihm zufolge wirkten sie ein wenig gebildeter. Einer von ihnen bettelte:

»Messjöh, Toilette, Toilette.«

Mein Großvater verstand natürlich nicht, was er sagen wollte.1 Er stellte sich taub und tat so, als wolle er sich mit dem kleinen Finger die Ohren ausputzen.

»Hör auf zu quatschen, Idiot. Wenn du dich waschen willst, dann geh an den Brunnen, da ist Wasser genug, Herrgott noch mal. Und wenn dir das nicht reicht, verschwinde wieder dahin, wo du herkommst.«

Der andere tat, als würde er die Hose runterlassen. Also zeigte Großvater ihm das Hüttchen im Garten. Der andere sah ihn ungläubig an, natürlich stank es dort. Als er darauf zuging, hielt er sich die Nase zu. Kaum hatte er die Tür geöffnet, fing er an, mit den Armen zu rudern, um die Fliegen zu vertreiben, die ihn massenhaft umschwirrten. Da wurde mein Großvater richtig zornig. Er schüttelte den Stock gegen ihn und rief:

»Wenn es dir hier nicht passt, scheiß doch daheim!«

Und wenn er uns die Geschichte erzählte, fügte er immer hinzu:

»Wenn er keine Pistole gehabt hätte, hätte ich ihm mit dem Stock eins übergebraten.«

Aber ein bisschen Widerstand leistete er dennoch, als sein Haus bis auf das Schlafzimmer und die Küche von den Deutschen besetzt wurde. Die Zimmer oben dienten als Büros und jeden Tag kamen deutsche und französische Sekretärinnen. Da mein Großvater sich langweilte, fing er an, die Frauen, die mit den Deutschen zu tun hatten, mit dem Stock in der Hand zu verfolgen. Er fuchtelte mit seinem Stock auf dem Hof herum, ohne jemandem wehzutun.

Am Gehstock kann man die Reichen von den Armen unterscheiden. Von den Reichen hieß es, sie hätten »ordentlich was am Stock«. Reiche Leute kauften nämlich Stöcke aus glattem Edelholz, unsere Leute aber schnitten sich aus einem Ast einen schönen Stock. Der hatte dann auch keinen gebogenen Griff.

Die Deutschen lachten über meinen Großvater, er tat ja niemandem weh.

Opa nutzte den Krieg, um vom Krieg 1914 / 18 zu erzählen, in dem viele Menschen gefallen waren. Er aber hatte seine beiden Söhne zurückbekommen: Mein Vater hatte ein paar Finger weniger, und auch mein Onkel François hatte so einiges gesehen. Vielleicht sprachen sie ja darüber? Ich jedenfalls war immer beeindruckt, wenn ich vom Soldatenalltag hörte. Wobei sie nicht über Verwundungen oder Tote redeten.

Man musste sich im Fluss waschen, wo das Wasser viele Krankheitskeime mit sich führte. Manchmal wurden sie beschossen, wenn sie die Hinterbacken in der Luft hatten.

Das Besteck wurde nachts im Schuh verstaut: Messer, Gabel und Suppenlöffel.

Das Brot steckte man sich während des Schlafens unter die Achsel, damit es die Ratten nicht wegfraßen.

Und da der Krieg am Ende alle verrückt machte, wurde alles gestohlen: Tornister, Gürtel, Kerzen 

Mit all den Erinnerungen auf der Seele konnten die Alten in unserem Dorf die Deutschen natürlich nicht ausstehen. Man gönnte ihnen weder unsere gute Luft noch die schöne Landschaft.

Unsere Väter kamen tot aus den Schützengräben zurück, und wenn sie noch lebten, wollten sie nicht darüber sprechen, worüber ich hier schreibe. Vergessen wollten sie wohl nicht, aber sie wünschten sich, dass wir, die Kinder, mit anderen Bildern im Kopf aufwuchsen.

Ich lese gerne Briefe aus jener Zeit. Briefe sind nicht wie Geschichtsbücher, in denen es immer um große Epochen und berühmte Leute geht. In den Briefen hingegen reden einfache Leute wie mein Onkel oder mein Vater. Wenn du 1918 in dein Dorf zurückgekommen bist, dann warst du entweder gesund oder am Arsch. Man redete mit meinem Vater nicht über diesen Krieg. Das hätte ja bedeutet, ihn daran zu erinnern, dass er verwundet heimgekehrt war. Ich glaube, man wollte ihn einfach nicht bemitleiden.

Und Großvater und sein Stock hatten schließlich recht, diesen Touristen zu misstrauen, diesen Eindringlingen.

Nachdem er ihnen zwei Jahre lang mit seinem Geschrei im Hof auf die Nerven gegangen war, sperrten sie ihn in einen Stall, auf seinem eigenen Hof. Das war ein neuer Kommandant.

Mein lustiger und kluger Großvater redete nicht mehr, nicht ein Wort. Er, der immer aus demselben Teller gegessen hatte, der nie einen anderen benutzt hatte, der immer seine kleinen Gewohnheiten gehabt hatte – dass man ihn aus seinem Haus vertrieb, kostete ihn das Leben. Er hielt nur einen Monat durch. Wir konnten ihn nicht bei uns aufnehmen, da wir ja schon die behinderte Großmutter mütterlicherseits bei uns hatten. Wir hatten einfach nicht genug Platz.

Er ist in einem Stall gestorben, einem winzigen Geviert, in dem man früher Feuer machte und bei großen Familienfesten kochte; in dem meine Tante während des Kriegs Kaffeebohnen mahlte und geröstete Gerste und noch etwas, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere.

Er, der eines der größten Häuser in Auderville besaß, ist eingesperrt gestorben, in seinem eigenen Schützengraben, wo er als einzige Waffe einen Stock besaß, mit dem er nicht mehr zu kämpfen wagte.

Die Waffe der Armen.

Ich höre ihn noch, wie er in seinem Hof tobte und den unglücklichen Frauen die übelsten Beschimpfungen an den Kopf warf. Sie fürchteten ihn mehr als den Krieg. Er hat seinen eigenen Krieg geführt. Er hat ihn nicht gewonnen, aber was für eine Courage!

Sein Enkel hat ihn auch einige Jahrzehnte danach noch nicht vergessen. Wenn heute wieder Krieg wäre, würde ich mir als Erstes so einen Stock schneiden und würde, wie er, bis an mein Lebensende aufpassen wie ein Schießhund.

Denn die Freiheit, die trage ich in mir.