Das Kainsmal
„Die Kinder des Kain“ heißt ein Musical, das unlängst in unseren Kirchen aufgeführt wurde. Darin ist Kain alt geworden, schuftet auf dem Acker, und es fällt ihm noch immer schwer, sich mit seiner Schuld auseinander zu setzen. Er hat seinen Bruder Abel ermordet. Gott straft ihn, er wird hart den Acker bearbeiten müssen, keine Ruhe finden, „unstet und flüchtig“ bleiben, wie die Bibel sagt. Und er hat Angst vor der Rache anderer Menschen. Aber davor schützt Gott ihn. Im ersten Buch Mose heißt es: „Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände.“ (1. Mose 4,15)
Bis heute ist diese Geschichte bewegend. Wie gehe ich um mit eigener Schuld, wie mit der Schuld anderer? Und wie wird der Kreislauf der Gewalt durchbrochen? Kain muss seiner Schuld ins Gesicht sehen. Und diejenigen, die ihn anschauen, wissen um seine Schuld. Da gibt es kein Verleugnen und kein Entrinnen. Aber es gibt auch keine Rache, sondern ein Leben nach der Tat, das ein Leben mit der Tat ist. Gott schützt den Täter. Doch das wird erst möglich, nachdem der seine Schuld erkannt hat.
Mit Schuld umgehen, ist ein schweres Thema. In Niedersachsen bewegt viele das Transrapidunglück, bei dem im September 2006 23 Menschen ums Leben kamen. Wie konnte das passieren, wer hat versagt, wo sind die Schuldigen? Und schon beginnen die Prozesse, die Schuldzuweisungen, die Klagen auf Schadenersatz. Wie mag es den Menschen gehen, die verantwortlich sind. Ja, sie hätten in der Leitstelle wissen müssen, dass der andere Wagen auf der Schiene war. Ja, wahrscheinlich hätten auch aus den vorherigen Unfällen Konsequenzen gezogen werden müssen. Es wird am Ende sicher Schuldige geben. Aber niemand von uns kann ernsthaft annehmen, dass sie bewusst 23 Menschen in den Tod schicken wollten. Menschen versagen. Menschen laden Schuld auf sich. Allzu schnelle Beteuerungen von Vergebung werden den Opfern nicht gerecht. Aber es muss auch ein Leben nach der Schuld geben können. Voraussetzung dafür ist wohl wie bei Kain, dass die Schuld gesehen, bekannt wird. Und dann aber sollten wir Wege öffnen, damit Menschen in die Gemeinschaft zurückfinden.
Für mich ist manchmal bestürzend, wie schnell und hart viele urteilen. Als wären wir nicht alle fehlbar. Auch ich kann versagen, auch du. Und wir tun es doch auch. Wann immer wir nicht wirklich lieben, wo wir angesichts von Elend schweigen, wenn wir schlecht über andere reden, versagen wir am Liebesgebot Gottes. Ich weiß, dass Vergeben schwer ist. Und es ist manches Mal allzu leicht für nicht Betroffene, andere zur Vergebung aufzurufen. Am wichtigsten ist wohl, dass wir uns bewusst sind: Niemand von uns lebt ohne Schuld. Wir alle leben davon, dass uns von Gott vergeben wird und wir auch unseren Schuldigern vergeben können.