Patriotismus
Ich bin ein Kind der 50er Jahre. Als unsere Eltern jung waren, wurden sie vom Nationalsozialismus zu einer Ideologie von Nationalismus und Rassenwahn verführt. Mein Vater war dreizehn, meine Mutter elf, als Hitler die Macht ergriff. Sie waren 25 und 23, als sie vor den Trümmern dessen standen, was der Nationalsozialismus zurückgelassen hatte. Nie mehr Nationalismus, nie mehr Fahnen, nie mehr Hymnen singen – das war ihnen klar. Und das haben sie uns als Kindern mitgegeben.
So bin ich aufgewachsen, wie viele meiner Generation. Als ich das erste Mal in den USA war, hat es mir gegraust mit dem Flaggenhissen und dem Fahnenwehen und der Hand auf dem Herz bei der Nationalhymne. Das alles konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen. Stolz sein auf dein Land – das gibt es nicht, das tut man doch nicht, so eine Haltung haben wir gelernt. Und wenn Deutsche im Sport irgendwo gewonnen haben, dann haben wir uns fast geschämt, Deutsche zu sein. Die deutsche Teilung war für uns Strafe für nationale Sünden.
Diese Haltung hat sich bei mir erst nach und nach verändert. Ich erinnere mich während meiner Arbeit beim Weltrat der Kirchen, dass ich heilfroh war, als ein Deutscher die Abteilungsleitung eines Bereichs übernahm. Plötzlich wurde dort alles klar, planbar, übersichtlich. Sofort leuchtete aber auch die innere rote Warnlampe: Auch Auschwitz war gut organisiert! – Wir mussten nach dem Grauen des nationalsozialistischen Systems neu lernen, dass deutsche Tugenden wie Ordnungssinn und Gründlichkeit auch sehr konstruktiv sein können. Die deutsche Nationalhymne schließlich habe ich das erste Mal im Jahr 2000 auf der EXPO lauthals mitgesungen. Es war am Tag der Ungarn. Eine große Kirchendelegation mit mehreren Bischöfen kam von dort, und alle schmetterten laut die ungarische Hymne. Unsere Seite war eher schwach besetzt, da dachte ich: Da musst du jetzt ran! Es ist die Hymne meines Landes, auch wenn ich mir 1989 gewünscht habe, wir könnten uns auf einen neuen, gemeinsamen Text einigen.
Insofern konnte ich die schwarz-rot-goldenen Flaggen im Sommer 2006 mit Erstaunen, aber auch mit Gelassenheit sehen. Vielleicht hat die junge Generation ja schlicht ein unverkrampftes Verhältnis zu ihrem Land. Wenn diese Zugehörigkeit auch das Wissen um die Geschichte mit einschließt, kann ich gut Ja dazu sagen. Und schließe gern die biblische Mahnung mit ein: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“ (Sprüche 14,34). Das wäre doch ein schönes schwarz-rot-goldenes Motto.