Verantwortung
Es gibt Daten, die haben sich uns tief eingeprägt. Wie der 26. April 1986. Gut zwanzig Jahre ist das nun her – Tschernobyl! Ich erinnere mich an den 29. April 1986. Auf der Rückfahrt vom Krankenhaus mit unseren neugeborenen Zwillingen war im Radio zu hören, irgendetwas sei wohl in der Sowjetunion passiert. Genauere Informationen gab es nicht, wie üblich in der UdSSR.
Am 1. Mai schien die Sonne, die Babys lagen friedlich auf einer Decke auf dem Rasen, die ältere Schwester spielte im Sandkasten. Abends in den Nachrichten hieß es, das sei das Schlimmste gewesen, was wir hätten tun können. Sand und Rasen waren verstrahlt. „Die Wolke“ war unsichtbar über das Land gezogen.
Wenn das schon bei uns dramatisch war, um wie viel grausamer waren die Ereignisse im Grenzgebiet zwischen der Ukraine, Russland und Weißrussland! Tausende von Einsatzhelfern wurden ohne Schutzkleidung und ohne dass sie sich der Gefahr bewusst waren, eingesetzt, um Grafitbrocken vom Dach des Reaktors zurück in die Halle zu werfen. Die Radioaktivität hat Tausende erkranken lassen, insbesondere in den Schilddrüsen hat das Jod seine Spur hinterlassen. Krebserkrankungen und Missbildungen sind bis heute die Folge bei Kindern. Die Cäsiumbelastung wird noch Jahrzehnte anhalten, Tier- und Pflanzenwelt wurden zerstört. Insgesamt starben 70000 Menschen unmittelbar oder an den Spätfolgen der Katastrophe. Mehr als 135000 Menschen wurden aus ihrer Heimat nahezu planlos umgesiedelt. Die Katastrophe hat auch offensichtlich gemacht, wie sehr in diesem Regime der Schein wichtiger war als die Menschlichkeit.
In Gottesdiensten haben wir 20 Jahre danach dieser Katastrophe gedacht und für die betroffenen Menschen gebetet. Tschernobyl mahnt uns, als Menschen nicht überheblich zu werden. Wir haben nicht alles unter Kontrolle. Wir dürfen nicht meinen, alles sei möglich – wie die Menschen beim Turmbau zu Babel. Tschernobyl galt als Vorzeigeobjekt der Sowjetunion. Aber Menschen machen Fehler, Material kann verschleißen. Als Christinnen und Christen können wir nur immer wieder zur Demut rufen. Die Katastrophe von 1986 mahnt uns, sehr darauf zu achten, wie und wofür wir Energie verwenden. Es ist längst bekannt, dass die Industrienationen ihren Energieverbrauch drastisch reduzieren müssen, zumal in Ländern wie China der Energieverbrauch dramatisch steigt. Wie können neue, erneuerbare Energiequellen erschlossen werden? Wie können wir unsere Welt insgesamt für kommende Generationen bewahren? Wird das Kyoto-Protokoll endlich in entschlossenes Handeln umgesetzt? Bei der Atomenergie geht es nicht nur um eine politische Frage, sondern auch um die Frage der Verantwortung für die Schöpfung.
„Und sie sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen.“ (1. Mose 11, 4)
Die Bibel zeigt die realistische Einschätzung, dass Menschen verführbar sind und oft größenwahnsinnig, wie schon beim Turmbau zu Babel und wie in Tschernobyl, dem Vorzeigeobjekt sowjetischer Leistungsfähigkeit. Das ist nicht neu, so sind die Menschen. Und trotzdem gibt es immer wieder einen Neuanfang, ist Vergebung möglich nach einem Scheitern, kann Versöhnung geschehen. Mir gefällt in diesem Zusammenhang der biblische Begriff der Haushalterschaft. Wir sind Haushalterinnen und Haushalter Gottes. Die Erde ist uns anvertraut, damit wir sie hegen und pflegen und weitergeben an kommende Generationen. Das stellt uns in eine verantwortliche Position. Auch ein Kind hat Verantwortung und wächst am Verantwortungsbewusstsein als ein Glied in der Reihe durch die Jahrhunderte und um den ganzen Erdkreis.