Heimat

Im Sommer 2006 wurde die Ausstellung „Erzwungene Wege“ in Berlin gezeigt. Sie macht die Vertreibungen in Europa im 20. Jahrhundert von den Armeniern 1915 bis zum Kosovokonflikt deutlich. Und ja, es wird auch an die mehr als zwölf Millionen Vertriebenen aus Ostdeutschland erinnert, von denen sehr viele in Niedersachsen eine neue Heimat gefunden haben.

Warum nur erregt das immer wieder so die Gemüter in Deutschland und auch in Polen? Liegt es allein daran, dass der Bund der Vertriebenen (BdV) hinter der Ausstellung steht? Ihm wird unterstellt, die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Leid, das dieser über Europa brachte, mit dem Hinweis auf das Leiden der vertriebenen Deutschen relativieren zu wollen. Allerdings hat sich Erika Steinbach, die Präsidentin des BdV, ganz klar von solchen Interpretationen distanziert und erklärt, es gehe um den Geist der Versöhnung. Auch das geplante und umstrittene Zentrum gegen Vertreibungen wolle Vorurteile abbauen. Den Film „Die Flucht“ haben Millionen Fernsehzuschauer gesehen. Ich finde gut, wenn so die Möglichkeit eröffnet wird, über das Erlebte zu sprechen.

Viele Vertriebene mussten lange schweigen über ihr Schicksal, niemand wollte genauer wissen, was sie erlitten haben. In den ersten Jahren ging es um Wiederaufbau, die Vertreibungen wurden als Strafe für den Nationalsozialismus gesehen. Wir sollten endlich diese Geschichten hören, denn Versöhnung ist nur möglich, wenn Opfer auch sprechen dürfen. Es ist wichtig, zu erinnern, wie Polen, Russen und andere Opfer der Deutschen wurden. Und ebenso wichtig ist die Erinnerung an deutsche Opfer, die ihre Heimat verloren, auf der Flucht starben, vergewaltigt wurden. Es gibt dramatische Schicksale auf allen Seiten. Wenn wir uns gemeinsam erinnern, können wir auch gemeinsam Zukunft bauen in Europa. Wir können einer zerrissenen Welt zeigen, dass Versöhnung möglich ist.

Meine Familie stammt aus Hinterpommern, auch sie wurde vertrieben. Ich bin froh, die vielen Geschichten zu kennen, sie sind Teil der Familienerinnerung. Niemand von uns käme auf die Idee, deshalb jetzt nach Polen ziehen zu wollen. Heimat ist da, wo wir heute leben. Und doch ist es gut, die eigenen Wurzeln zu kennen. Die Erzählungen haben mir klar gemacht: Wir müssen alles tun, um Krieg in Zukunft zu verhindern! Wenn die Ausstellung, die gezeigt wird, und auch ein Zentrum dieser Überzeugung dienen, kann doch niemand dagegen sein.

Wir müssen diese Geschichten neu erzählen. „Erinnere dich!“, „Gedenke!“, das sind immer wieder Mahnungen der Bibel. Immer neu wird erzählt vom Auszug aus Ägypten, als Israel sich auf die Flucht begab, weg aus dem Land der Unterdrückung, hin ins Gelobte Land. Das sind Geschichten von Leid und Entbehrung, von Hunger und Verführbarkeit. Diese Geschichten haben die Jungen geprägt.

Heute wissen wir, wie viele Traumata die Vertreibungen des 20. Jahrhunderts hinterlassen haben in ganz Europa, in Israel, aber auch in Afrika und Asien. Auch das deutsche Tätervolk war traumatisiert. Befreiung von den vergangenen Traumata gibt es aber nur, wenn die Geschichten der Opfer gehört werden und die Schuld der Täter ausgesprochen wird. Ich wünsche mir, dass wir die Geschichten und die Schuldbekenntnisse hören, bevor die Generation der Zeuginnen und Zeugen für immer verstummt.

„Und nun höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich euch lehre, dass ihr sie tun sollt, auf dass ihr lebet und hineinkommt und das Land einnehmt, das euch der Herr, der Gott eurer Väter, gibt. Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davon tun, auf dass ihr bewahrt die Gebote des Herrn, eures Gottes, die ich euch gebiete.“ (5. Mose 4,1ff.)

Mehr als fromme Wuensche
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