Eine Welt

9. Juli 1706 – die beiden jungen lutherischen Missionare Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau aus Deutschland kommen in Tranquebar, Südindien an. Sie lernen Portugiesisch zur Verständigung, anschließend Tamil, sie schreiben eine Grammatik und übersetzen die Bibel. Bald gründen sie Schulen für Jungen und Mädchen(!).

Juli 2006 – In Chennai (Madras) und Tranquebar kommen lutherische Christinnen und Christen aus vielen Ländern zusammen, um mit der tamilischen lutherischen Kirche das 300-jährige Jubiläum zu feiern. In diesem Land sind unfassbar viel Armut und Dreck und Smog zu sehen, unendlich viele Menschen, Verkehr, hungernde Kinder, bettelnde Alte. Am Strand sind noch die grausamen Spuren des Tsunami.

Dazwischen diese kleine lutherische Kirche, die mit inneren Spannungen kämpft und gleichzeitig ein Hoffnungsschimmer für die allerärmsten Menschen ist. Ich habe eine Mädchenschule besucht, die für Kinder da ist, die von den Eltern verlassen werden, missbraucht vom Vater oder geschlagen von der Stiefmutter. Gäbe es diese Schule nicht, würden sie sich auf der Straße herumschlagen müssen.

Ja, die Missionare haben vieles falsch gemacht, die neue Welt mit ihren alten Maßstäben beurteilt. Wir müssen die Missionsgeschichte mit kritischen Augen sehen. Aber wahr ist auch, dass ein ungeheurer Mut dazu gehörte, vor dreihundert Jahren nach Indien zu gehen! Und viele Menschen schätzen ganz besonders, dass die Missionare den Gedanken von Gleichheit und Freiheit nach Indien gebracht haben. Ein indischer Bischof sagte: Gerade die Dalits, die Unberührbaren, die im indischen Kastensystem keine Chance auf ein würdiges Leben hatten, erlebten plötzlich, dass sie als Personen mit eigener Würde ernst genommen wurden. Schulen, Bildung, Gesundheitsversorgung wurden ihnen angeboten. Ja, sagte er, das ganze Kastensystem wurde erst durch die Missionare in Frage gestellt, und das Sozialsystem in Indien wurde durch die Missionare angeregt.

Nein, nicht alles war schlecht, auch wenn manches fraglich war. Aber bei weitem noch nicht alles ist gut in Indien! Diese Armut, diese zum Teil chaotischen Zustände sind eine enorme Herausforderung, darüber können alle Statistiken über ökonomischen Fortschritt nicht hinweg täuschen. Der Wirtschaftsindex eines Landes jedenfalls sagt bei weitem nicht alles über die Realität. Ich erinnere mich an eine Fahrt durch das stickig-heiße Chennai, in einem dieser höllischen dreirädrigen Taxen. An einer Ampel hielt der Fahrer wild hupend. Im Rinnstein lag ein Mann. Ich dachte, er sei tot. Da drehte er sich halb auf die Seite und sah mich aus halboffenem Auge an. Die Ampel sprang auf Grün, wir fuhren weiter. Der barmherzige Samariter wäre ausgestiegen... Wir sind schuldhaft verstrickt in die globalisierte brutale Wirklichkeit dieser Welt.

Angesichts solcher Armut wirst du als Deutsche ganz still und denkst: Bei allen Problemen – in was für wunderbaren Verhältnissen leben wir doch! Vielleicht fehlt uns manchmal eine Portion Dankbarkeit.

„Gelobt sei der Herr; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens. Der Herr ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn hofft mein Herz, und mir ist geholfen. Nun ist mein Herz fröhlich, und ich will ihm danken mit meinem Lied.“ (Psalm 28,6ff.)

Mehr als fromme Wuensche
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