Nachwort
Außer dem Armband meiner Oma sind mir aus meiner Kindheit noch einige weitere Erbstücke geblieben. Meine Verlustangst ist eines davon, mein Familiensinn ein anderes. Das ungeliebteste war lange Jahre meine Nase. Durch die Worte des Richters, er stimme unserem Antrag nicht zu, weil ich vielleicht in ein paar Jahren wissen wolle, woher meine Nase komme, blieb sie für mich ein Symbol für die Ignoranz und Willkür, mit der damals über meinen Kopf hinweg entschieden worden war. Seit ich sie mir in meiner Zeit als Krankenschwester dann auch gebrochen hatte und der Knochen nicht mehr ganz gerade zusammengewachsen war, hatte ich endlich einen vernünftigen Grund, sie operieren zu lassen. Jetzt lebe ich glücklich mit einer Nase, die nirgendwo herkommt, nichts bedeutet und einfach nur meine Nase ist.
Natürlich gibt es auch heute noch viele Momente, in denen ich an meine leibliche Mutter denke. Ich hoffe, dass es ihr gut geht, und bin ihr nach wie vor dankbar. Für mich ist sie auf ihre Weise eine ganz besondere Frau.
Ihre Art, mit den Dingen umzugehen, ist sicherlich nicht meine, aber ohne ihre Entscheidungen würde ich heute nicht das Leben führen, das ich führe. Ich habe eine tolle Zeit gehabt bis jetzt, das kann ich nicht anders sagen. Ich bin glücklich, heute sagen zu können, dass ich mit ihr im Reinen bin.
Meine leibliche Mutter mag unbewusst im richtigen Moment die entscheidenden Weichen gestellt haben, wirklich Bewundernswertes haben aber vor allem meine Eltern geleistet, denen ich immer unendlich dankbar sein werde für das Leben und das Zuhause, das sie mir geschenkt haben. Es gibt keine bedingungslosere Liebe einer Mutter als die, die ich erlebt habe. Blut ist dicker als Wasser ist einer der dümmsten Sprüche, die ich kenne; ich habe am eigenen Leib erfahren, dass er nicht stimmt.
Was wäre ohne meine Eltern aus mir geworden? Daran möchte ich gar nicht denken. Ich finde es großartig, dass es Menschen wie meine Eltern gibt, die das Wagnis auf sich nehmen, ein Pflegekind in ihre Familie aufzunehmen, und sich mit Haut und Haar darauf einlassen. Ein Pflegekind ist nicht einfach nur ein zusätzliches Kind, sondern wirbelt das komplette Familiensystem durcheinander. Jedes Familienmitglied, auch die leiblichen Kinder, die plötzlich eine weitere Schwester oder einen weiteren Bruder bekommen, sind existentiell davon betroffen und werden davon geprägt. Das Risiko, dass es schiefgeht, ist nicht gering, deshalb ist die Bereitschaft, für ein Pflegekind da zu sein, gar nicht hoch genug zu schätzen.
Obwohl ich selbst mein Leben, wie ich es heute führe, sicher in großen Teilen der Institution Pflegefamilie verdanke, sehe ich diese Einrichtung mittlerweile kritisch. So sehr ich davon profitiert habe, dass meine Eltern mich aufgenommen haben, so sehr hat unsere gesamte Familie jahrelang unter dem Schwebezustand »Pflegekind« gelitten. Unsere Familie wäre von der Unsicherheit und dem dadurch verursachten Leid fast auseinandergerissen worden. Erst der klare Schritt der Adoption hat uns wieder zusammengebracht.
Verglichen mit den meisten anderen Pflegekindern hatte ich eine glückliche Kindheit und Jugend. Trotzdem habe ich eine Ahnung bekommen, was angerichtet werden kann, wenn man Familien rechtlich so lange in der Luft hängen lässt, während sie tiefe emotionale Bindungen aufbauen und das reale Leben den juristischen Status längst überholt hat.
Ich bin alles andere als eine Familienrechts-Expertin und mir ist bewusst, dass meine Meinung zum Thema Pflegekinder durch mein ganz persönliches Erleben geprägt wurde. Aber ich frage mich, warum in Deutschland die Adoption nicht leichter gemacht wird. Ich möchte bezweifeln, dass die aktuelle Gesetzgebung dafür sorgt, dass das Wohl des Kindes immer an erster Stelle steht.
Ich würde jederzeit ein Kind adoptieren, in meine Familie aufnehmen und es lieben wie meine eigenen Kinder. Doch trotz meiner Biografie muss ich zugeben, dass ich davor zurückschrecke, ein Pflegekind aufzunehmen. Ich würde es einfach nicht aushalten, wenn es mir wieder weggenommen würde.