Model
Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.
ALBERT EINSTEIN
Caro und ich saßen auf einer halbhohen Mauer im Pausenhof. Caro war meine Banknachbarin, seit ich auf der Realschule war und nicht mehr neben Silvia und Steffi sitzen konnte, die beide auf dem Gymnasium geblieben waren. Gerade war ein Vortrag von einem Berufsberater in der Aula gewesen. Zum Glück war der Vortrag jetzt vorbei. Es war superlangweilig gewesen. Der Typ vom Arbeitsamt hatte nichts erzählt, was wir nicht schon gewusst hätten, trotzdem musste der ganze Jahrgang zu dem Vortrag anrücken.
»Was ist denn eigentlich deine Mutter von Beruf?«
»Meine Mutter ist Hausfrau«, antwortete ich.
»Nein, ich meine, deine leibliche Mutter«, sagte Caro.
»Ach so. Die modelt und ist Tänzerin. Deshalb ist sie immer viel unterwegs.« Ich hatte im Moment überhaupt keine Lust, über sie zu reden. Aber wenn ich Caro das sagen würde, würde sie nur noch mehr bohren.
»Wie, die ist ein richtiges Model? Mit Fotoshootings und so?« Caro schien ziemlich beeindruckt zu sein.
»Mhm.« Ich dachte an den Modekatalog, den Helmut mir einmal gezeigt hatte. Wenn ich ehrlich war, waren das die einzigen Modefotos, die ich je von ihr gesehen hatte. Ich wusste eigentlich gar nichts darüber. Ich hatte noch nicht mal eine Ahnung, ob meine Mutter das immer noch machte oder nicht. Auch über das Tanzen wusste ich eigentlich nichts Genaues. War es nicht bescheuert, dass eine Frau, über die ich so wenig wusste, so viel Macht über mich hatte?
Egal. Wenn ich sagte, dass sie tanzte und Model war, hörte es sich danach an, dass sie viel unterwegs war und deshalb keine Zeit für mich hatte. So war es ja auch gewesen, deshalb hatte sie mich ja auch weggegeben, als ich ein kleines Baby war. Oder? Mir fiel auf, dass ich eigentlich gar keine Ahnung hatte, wieso sie mich weggegeben hatte. Früher hieß es auch mal, sie würde als Kellnerin arbeiten und die Arbeitszeiten wären blöd für ein Kind. Caro sah mich ungeduldig an.
»Ja, sie modelt für verschiedene Modekataloge, da gibt es dann natürlich auch Fotoshootings«, sagte ich und hoffte, sie wäre damit zufrieden und wir könnten endlich das Thema wechseln.
»Das ist ja total cool! Siehst du ihr ähnlich?«
»Ja, ziemlich.«
»Und, willst du auch mal Model werden? Oder Tänzerin?«
»Vielleicht«, antwortete ich ausweichend. Ich durfte gar nicht daran denken, was Mama zu so einem Berufswunsch sagen würde.
»Ich weiß noch gar nicht, was ich mal machen soll. Irgendwie finde ich alle Berufe langweilig.« Caro war anscheinend vom Thema abgekommen. Gott sei Dank!
»Mhm, geht mir auch so.«
Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Nach einer kurzen Pause sagte Caro:
»Hey, bring doch mal ein Foto von deiner Mutter mit! Ich würd echt gerne mal ein echtes Model sehen, und ob du so aussiehst wie sie!«
»Ja, klar, mach ich!«, sagte ich und hoffte, dass Caro das bald wieder vergessen würde.
Leider wurde diese Hoffnung nicht erfüllt. Am nächsten Tag fragte Caro, ob ich an die Fotos gedacht hätte. Ich sagte, ich hätte sie vergessen. Am übernächsten Tag fing sie wieder damit an. Die Sache schien sie wirklich zu beschäftigen, sie ließ einfach nicht locker. Zwei Tage später sagte sie:
»Du hast doch bloß Mist erzählt, deine Mutter ist überhaupt kein Model! Hab ich mir gleich gedacht. Niemand hat eine Mutter, die Model und Tänzerin ist!«
»Doch, ist sie schon, aber ich hab die Fotos von ihr nicht gefunden!«, verteidigte ich mich.
»Das glaubst du doch selber nicht! Wenn meine Mutter Model wäre, würden überall in meinem Zimmer Fotos von ihr hängen!«
Ja, aber nur wenn sie dir nicht gerade die Adoption vermasselt hätte und ihr dein Glück nicht scheißegal wäre, dachte ich, sagte aber lieber nichts. Caro musste ja nicht alles wissen.
Ich versuchte, in der Schule so wenig wie möglich über die Pflegekind-Sache zu sprechen. Trotzdem hatten natürlich alle etwas von der Adoptionssache mitbekommen. Das konnte ich schon wegen der Gesprächsstunden direkt nach der Schule nicht vermeiden.
Im Laufe der Jahre hatte ich nie gute Erfahrungen damit gemacht, dass die Leute über die Pflegekind-Sache Bescheid wussten. Für Außenstehende war das immer etwas komisch. Die wenigsten wussten überhaupt, was ein Pflegekind ist. Adoptiert sein, ja, aber ein Pflegekind? Und niemand konnte sich vorstellen, was es bedeutete, eines zu sein. Entweder man bemitleidete mich oder sie sahen mich an wie einen Freak. Beides fand ich nicht besonders angenehm. Es war wie ein Makel, den ich von Anfang an gehabt hatte und der mich von allen anderen unterschied.
Nach wie vor kannte ich kein einziges anderes Pflegekind. Hatten sie die gleichen Probleme wie ich? Oder war ihr Leben ganz anders als meins? Heute Abend gingen Mama und Papa wieder zu so einem Treffen mit anderen Pflegeeltern. Das war für sie eher ein Hilfsprojekt, um den anderen zu raten und bei Problemen zu helfen, hatte Mama mir erklärt. Ich war noch nie auf die Idee gekommen, sie mal nach den anderen Pflegekindern zu fragen, mit deren Eltern sie sich da immer traf. Heute Abend würde ich das machen, nahm ich mir vor. Aber erst mal musste ich das Problem mit den Fotos irgendwie lösen.
Nach dem Abendessen saß ich auf dem Boden in meinem Zimmer und blätterte alle Modekataloge durch, die ich im Hause gefunden hatte. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, in welchem Katalog mir Helmut damals die Bilder meiner Mutter gezeigt hatte. Aber irgendwo musste doch ein Foto von ihr zu finden sein! Als Model war man doch schließlich in vielen verschiedenen Katalogen, oder? Jetzt tat es mir leid, dass ich die Bilder von meiner Mutter zerschnitten und weggeworfen hatte. Ich hätte mir wenigstens eins in Reserve behalten sollen. Das hätte ich jetzt gut gebrauchen können, damit Caro endlich Ruhe gab. Dass ich mit meiner leiblichen Mutter nichts mehr zu tun hatte, wollte ich Caro nicht unbedingt auf die Nase binden. Wir waren zwar befreundet, aber ich wusste, dass sie eine der größten Tratschtanten der Schule war. Ihr konnte ich nicht so vertrauen wie Silvia. Die in der Schule mussten ja nicht unbedingt von dem ganzen Generve mit meiner Mutter wissen. Das würden die sicher bloß wieder komisch finden.
Auch in dem dritten und letzten Katalog war nichts. Ein paar Mal hatte ich gedacht, ich hätte sie gefunden. Aber als ich dann genauer hinsah, war sie es doch nicht. Mist. Oder sollte ich Caro einfach sagen, dass ich kein Foto mehr von meiner Mutter hatte, weil ich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte? Nein, das war nicht so gut, sie würde das überhaupt nicht verstehen. Plötzlich kam mir eine Idee: Caro hatte meine Mutter noch nie gesehen. Wenn ich nun einfach eines der Fotos nahm, die ihr ähnlich sahen? Dann hätte Caro, was sie wollte, die ganze Sache wäre sicher schnell vergessen und ich hätte wieder meine Ruhe. Ich überlegte. Lügen wollte ich eigentlich nicht, aber das war ja eine Notlüge, oder? Ich nahm den ersten Katalog und blätterte zu den Jeans. Da war ein Foto von dieser Frau, die meiner Mutter wirklich ähnlich sah. Ich nahm die Schere und schnitt es sorgfältig aus. Ein paar Seiten später kam das gleiche Model noch einmal mit anderen Klamotten, ich schnitt das zweite Foto auch noch aus.
Als ich die beiden Fotos in meinen Schulranzen packte, hörte ich im Flur ein Geräusch. Das mussten meine Eltern sein, die von dem Pflegeeltern-Treffen zurückkamen. Kurz darauf hörte ich Mama auch schon die Treppe hochkommen. Ich erkannte alle Familienmitglieder an der Art, wie sie die Treppe raufgingen. Stefan rannte immer. Papa ging schnell und leichtfüßig. Bei Mama merkte man, dass sie ein bisschen dicker war und es sie anstrengte. Jetzt hörte ich ihre gleichmäßigen Schritte.
Papa war sicher noch unten geblieben und sah sich etwas im Fernsehen an, ihn hörte ich nicht. Wenn Mama bei mir Licht sah, kam sie normalerweise noch mal kurz rein. Heute ging sie an meiner Zimmertür vorbei. Komisch. Ich schaute auf die Uhr. Es war gerade mal neun. Das war selbst für Mama ganz schön früh, um ins Bett zu gehen. Ich beschloss nachzusehen, was los war.
Als ich leise die Tür des Schlafzimmers öffnete, erschrak ich. Mama war noch komplett angezogen, saß auf dem Bett und weinte.
»Mama, warum weinst du denn?«, fragte ich und setzte mich neben sie. Früher hätte ich den Arm um sie gelegt, wie sie das so oft bei mir gemacht hatte. Jetzt blieb ich einfach neben ihr sitzen.
»Ach, Janine, ist schon gut. Ich bin nur ein bisschen traurig.«
»Hat es was mit mir zu tun?« Der ganze Terror wegen der Adoption hatte Mama auch ganz schön zugesetzt, das war mir klar.
»Diesmal nicht, diesmal nicht«, sagte sie.
»Was ist denn dann los?«
Mama antwortete nicht sofort, dann sagte sie: »Ich bin nur traurig, weil es so viele Kinder gibt, denen es schlecht geht und denen ich nicht helfen kann.« Sie hatte aufgehört zu weinen.
Da fiel mir wieder ein, dass sie ja bei dem Pflegeeltern-Treffen gewesen war und dass ich sie eigentlich nach den anderen Pflegekindern fragen wollte.
»Meinst du die anderen Pflegekinder?«
»Ja, einige von ihnen«, sagte sie ausweichend.
»Warum geht es denen denn schlecht? Erzähl doch mal! Geht es denen schlechter als mir?«
Mama lachte kurz auf. Es klang bitter. »Oh Janine, wenn du wüsstest!«
»Wie ist das bei den anderen Pflegekindern? Haben die auch eine ganz normale Familie, so wie ich euch habe? Oder sind die total arm?«, fragte ich.
Mama sah mich an und sagte: »Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt viele, denen es schlechter geht als dir. Die wohnen nur zeitweise bei ihren Pflegefamilien und zeitweise im Heim.«
»Warum wohnen die denn zeitweise im Heim?« Ich war geschockt. Und fühlte plötzlich wieder diese Wut auf meine leibliche Mutter. Und alle anderen Eltern, die ihre Kinder nicht haben wollten.
»Ach, Janine, das ist doch jetzt nicht wichtig! Vergiss das doch einfach.«
»Nein, jetzt sag doch. Ich bin doch kein kleines Kind mehr, du kannst mir so was schon erzählen. Ich muss das wissen. Warum wohnen andere Pflegekinder manchmal im Heim?«
Mama seufzte.
»Also gut, aber versprich mir, dass du dir deshalb keine Sorgen machst. Das hat wirklich nichts mit dir zu tun und wird dir niemals in deinem Leben passieren, ja?« Sie sah mir fest in die Augen.
»Versprochen«, sagte ich und nickte.
»Also gut. Manche Pflegeeltern sind komische Leute. Sie nehmen das Kind vor allem wegen des Geldes, das ihnen das Jugendamt für die Verpflegung des Kindes bezahlt. Einige geben ihr Pflegekind ins Heim, wenn sie in den Urlaub fahren oder sogar an Weihnachten. Aber wie gesagt, das sind ganz wenige und es hat überhaupt nichts mit dir zu tun! Also vergiss es am besten gleich wieder.«
Ich musste schlucken. Ich wusste, dass Mama recht hatte: Das hatte alles gar nichts mit mir zu tun. Trotzdem fand ich die Vorstellung schrecklich, dass die Eltern ihre Kinder ins Heim steckten, wenn sie mal was Schönes machten, wie in den Urlaub fahren.
»Das ist alles so schlimm, und ich weiß nicht, warum man das nicht verändern kann. Natürlich ist es schwierig, allen gerecht zu werden. Gerade, wenn noch andere Kinder da sind. Aber es kann doch nicht sein, dass ich einem Kind einerseits helfen will. Und wenn es um die Dinge geht, die eine Familie letztlich ausmachen, wie Urlaub oder Weihnachten, gebe ich das Kind in ein Heim, weil mir das zu teuer wird. Was sind denn das für Eltern?« Mama hatte wieder Tränen in den Augen. Das schien sie wirklich aufzuwühlen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Wir haben das Geld für dich angespart, damit du etwas hast, wenn du achtzehn bist«, sagte sie leise.
Ich hatte einen Kloß im Hals. Ich dachte über das nach, was sie gesagt hatte. Vielleicht sollte man den Pflegeeltern einfach kein Geld dafür geben. Oder diesen ganzen Pflegeeltern-Quatsch einfach abschaffen!
»Wenn es so schwierig ist, gute Pflegeeltern zu finden, warum gibt es denn dann überhaupt Pflegeeltern? Warum dürfen die Kinder nicht einfach von jemandem adoptiert werden?«
»Viele leibliche Eltern lieben ihre Kinder, auch wenn sie eine Zeitlang nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern. Die Gesetze sollen verhindern, dass ein Kind zu schnell von seinen leiblichen Eltern entfernt wird und dass Familien ohne Not auseinandergerissen werden«, sagte Mama. Es hörte sich an, als hätte sie es auswendig gelernt. Sie klang müde.
»Meine Mutter hat mich nie geliebt.«
»Das stimmt nicht, Janine. Das darfst du nicht denken! Sie hat sicher viele Fehler gemacht, aber ich bin mir ganz sicher, dass sie dich auf ihre Weise sehr liebt.«
Warum verteidigte Mama sie immer? Und versuchte, ihr alles recht zu machen?
»Aber warum hat sie mich dann weggegeben? Ich meine, sie war doch nicht in einer Notlage oder so, oder? Sie war auch nicht krank oder arm oder so was. Sie hat mich einfach nicht genug geliebt!«
»Deine Mutter hat dich immer sehr geliebt, aber als du geboren wurdest, hatte sie keinen geregelten Job und kein geregeltes Leben. Ein Kind hatte in ihrem Leben keinen Platz.«
»Aber warum denn nicht?«
Mama seufzte. Ich hatte das Gefühl, dass sie mir auswich. Oder irgendetwas verschwieg.
»Mama, ich bin kein kleines Kind mehr. Ich bin fünfzehn!«
Mama lächelte leicht und sagte: »Ja, aber erst seit einer Woche.«
Ich verdrehte die Augen. Sie würde wahrscheinlich nie aufhören, mich wie ein kleines Kind zu behandeln. »Sag mir endlich, was damals war, als ich zu euch gekommen bin.«
»Deine Mutter hat damals vor allem nachts gearbeitet. Sie war ein Nachtmensch, eine … na ja, eine Partygängerin. Dein Vater und sie hatten noch keine feste Beziehung.«
»Aber als Model arbeitet man doch nicht nachts!«
Mama nickte. Nach einer Pause sagte sie: »Sie hat damals auch nicht als Model gearbeitet, Janine. Sie ist mit Männern ausgegangen und hat dafür Geld bekommen.«
Ich schluckte. Ich wusste nicht genau, was Mama damit meinte, aber ich ahnte, dass es nichts Gutes war. »Hat sie das lange gemacht?«
»Soweit ich weiß, nicht. Ich glaube, das war nur eine kurze Episode in ihrem Leben. Die meiste Zeit hat sie als Kellnerin und Tänzerin gearbeitet. Und eine Zeitlang eben auch als Model. Aber das könnte sie dir sicherlich alles noch viel besser selbst erzählen, wenn du sie mal wieder besuchen würdest.«
»So genau will ich das gar nicht wissen«, murmelte ich.
»Janine, jeder Mensch macht Fehler in seinem Leben. Verurteile deine Mutter nicht leichtfertig. Sieh es doch mal so: Hätte sie dich nicht weggegeben, wärst du nie zu uns gekommen! Das wäre doch schrecklich, oder?«
Ich nickte. Mama hatte recht. Wenn auch auf eine seltsam verdrehte Weise. Trotzdem würde ich meiner Mutter nicht verzeihen.
»Wie war das denn, als ich zu euch gekommen bin?«
»Das weißt du doch, das hab ich dir doch schon oft erzählt.«
»Erzähl es mir noch mal!«, sagte ich. Die Geschichte hörte ich gerne. Vor allem die Stelle, wenn Mama sagte, dass sie mich sofort mitnehmen wollte. Früher hatte ich mich immer an ihre Schulter gekuschelt, wenn sie mir das erzählt hatte. Jetzt kam mir das komisch vor.
»Na gut. Frau Antunes hat uns angerufen und gefragt, ob wir wieder ein Pflegekind aufnehmen würden. Du weißt ja, dass wir vor dir schon mehrere Pflegekinder für kürzere Zeit hatten.«
»Ja, das hast du mir erzählt.«
»Diesmal wäre es für länger, hatte sie gesagt. Die Zeit wäre unbestimmt, aber die Mutter würde das Kind auf keinen Fall zur Adoption freigeben wollen. Du warst bei Bekannten deiner Mutter, als wir dich zum ersten Mal gesehen haben. Du warst gerade ein paar Tage alt.« Mama lächelte. »Ich hatte sofort den Eindruck, dass du bei der Familie nicht am richtigen Platz warst, und hätte dich am liebsten sofort mitgenommen. So schnell ging es dann natürlich nicht. Oma Anna, Papa und ich saßen abends hier zusammen und haben nachgedacht. Ich wollte dich unbedingt zu uns nehmen. Aber Oma Anna war dagegen. Sie sagte: ›Mach das nicht! Wenn du ein Kind für ein paar Wochen hast, ist das ja schon schlimm genug für alle, da können wir deinen Wunsch zu helfen ja noch verstehen. Aber ein Kind auf unbestimmte Zeit zu nehmen, und die kommen nach einem Jahr oder zwei und sagen: Jetzt ist es vorbei. Das ist so eine Belastung, das solltest du euch allen ersparen.‹ Nicht nur meine Mutter, deine Oma Anna, sondern auch andere haben das gesagt. Und sie hatten recht, sich Sorgen zu machen. Denn es war ein großes Wagnis. Aber Papa und ich wollten dich trotzdem zu uns nehmen.«
Mama drückte mich und wir sagten eine Weile gar nichts.
»Wie war meine Mutter damals?«
»Eine schöne Frau, wie heute«, sagte Mama.
»Ja, aber was hat sie gesagt, als ihr mich abgeholt habt? Hat sie geweint?«
Mama schaute mich ein bisschen traurig an. »Nein, geweint hat sie nicht. Aber ich hatte trotzdem nicht das Gefühl, dass es ihr leichtfiel, dich wegzugeben. Sie hat gesagt …« Mama zögerte.
»Was hat sie gesagt?«
Sie überlegte.
»Mama, bitte sag es mir. Findest du nicht, ich sollte langsam die ganze Geschichte kennen?«
Sie nickte und seufzte. »Ja, vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass ich dir das erzähle.« Sie machte eine Pause. Es schien ihr richtig schwerzufallen, weiterzusprechen.
»Sie sah mir direkt in die Augen und war sehr ernst, dann sagte sie: ›Denken Sie daran, Sie bekommen das Kind nur auf Zeit. Ich hol es in spätestens drei Jahren wieder ab.‹«
Plötzlich verstand ich. »Hast du deshalb immer so Angst, dass sie mich euch wegnimmt?«
Mama presste die Lippen aufeinander und nickte.
»Ich bin so froh, dass sie mich nicht wieder abgeholt hat«, flüsterte ich.
Mama nickte.
Eine Weile sagten wir gar nichts. Ich dachte nach, über das, was sie mir erzählt hatte.
»Es hätte nichts genützt, wenn ich vor Gericht mehr gesagt hätte, oder?«
»Nein, es hätte nichts genützt. Deine Mutter wird dich nie freigeben. Wir dürfen jetzt nichts mehr falsch machen, hörst du?«
Ich seufzte. Dass es für sie immer darauf hinauslief, nervte. Aber ich sagte nichts.
Am nächsten Tag auf dem Weg zur Schule entschloss ich mich, die dämlichen Fotos aus dem Modekatalog wegzuschmeißen. Sollten die in der Schule doch denken, was sie wollten! Ob sie nun Fotos sahen oder nicht – sie würden das alles sowieso nie verstehen. Und deshalb immer seltsam finden. Ich verstand es ja selbst schon kaum.
Caro sagte, ich wäre eine Lügnerin und meine Mutter wär’ gar kein Model. Ich zuckte bloß die Schultern und antwortete, es wäre mir egal, was sie glaubte oder nicht glaubte, ich wäre ihr keine Rechenschaft schuldig. Dass ich mich nicht provozieren ließ, überzeugte sie anscheinend. Nach der Pause brachte sie mir eine Milchschnitte mit, auf der ein Zettel klebte. Sorry, dass ich dich so genervt hab. Caro, stand darauf. Damit war die Sache zum Glück endgültig erledigt.