Gardasee
Was du liebst, lass frei. Kommt es
zurück,
gehört es dir – für immer.
KONFUZIUS
Den ganzen Juni über hörten die Diskussionen über meine Klamotten nicht auf. Immer wieder gab es Streit mit Mama, weil sie fand, ich sähe zu auffällig oder zu aufreizend oder zu sonst was aus. Ich hatte das Gefühl, dass es immer schlimmer wurde, und fühlte mich mehr und mehr eingeengt. Dabei machte es mir so viel Spaß, mir schöne Sachen anzuziehen, mich zu schminken und mich mit Freunden zu treffen! Aber sie verstand das einfach nicht. Auf Miniröcke und Schminke war sie besonders allergisch. Mehrmals die Woche musste ich mich wieder umziehen, wenn ich zum Frühstück runterkam, manchmal weigerte ich mich und dann brüllten wir beide rum, bis uns nichts mehr einfiel.
Zweimal sagte sogar Papa zu Mama: »Jetzt beruhige dich doch mal. Das ist doch ganz normal, was sie da macht. Die anderen Mädchen in dem Alter laufen doch auch alle so rum.« Doch meistens hielt er zu Mama.
Ich konnte ja grundsätzlich verstehen, was ihr Problem war, und wir versuchten mehrmals, darüber zu reden. Aber es war nicht mehr wie früher. Meistens schrien wir uns zum Schluss nur an.
Ich sah einfach nicht ein, dass nur ich Rücksicht nehmen sollte. Ich war fünfzehn und wollte nicht in einen Käfig gesperrt werden, nur, weil sie Angst hatte! Wie sollte das denn weitergehen? Würde ich meine ganze Jugend durch mit langweiligen Klamotten zu Hause sitzen müssen, weil ich nicht so lange ausgehen durfte wie alle anderen und mich nicht schön anziehen durfte? Und das alles nur, weil Mama Schiss hatte, dass ich wie meine Mutter wurde oder irgendetwas tat, das dem Jugendamt nicht passte?
Mitte Juni kam zum ersten Mal das Thema Urlaub auf. Die Stimmung zwischen meinen Eltern und mir war so mies, dass ich schon die Vorstellung, zwei Wochen zusammen in Österreich wandern zu gehen, schrecklich fand. Es gab sowieso nichts Langweiligeres als Wandern.
Mit Stefan verstand ich mich auch nicht mehr so gut. Er war wahrscheinlich total genervt, weil sich zu Hause so viel um mich drehte. Zuerst die ganze Zeit vor der Gerichtsverhandlung. Und danach war es eigentlich noch schlimmer geworden. Aber ich konnte auch nichts daran ändern. Ich wollte ja gar nicht, dass es immer nur um mich ging! Mama und Papa fingen immer an, weil ihnen nichts mehr an mir passte, sie mich dauernd kontrollierten und ich angeblich alles falsch machte. Langsam fühlte ich mich wie das schwarze Schaf der Familie. Egal, was ich machte, es war verkehrt. Vielleicht war es am besten, wenn ich allen mehr aus dem Weg ging.
»Ich bleibe diesen Sommer zu Hause und fahre nicht mit euch nach Österreich«, kündigte ich meine Pläne beim Abendessen an.
»Du tust was?« Mama ließ sofort Messer und Gabel liegen.
Papa stutzte kurz und zog die Augenbrauen hoch, aß aber weiter. Stefan grinste.
»Ich habe überhaupt keine Lust mehr auf Wandern und hier in Köln ist viel los im Sommer. Da bleibe ich lieber hier.« Ich hatte mir das lange überlegt. Ich konnte öfter bei Silvia übernachten oder noch besser: sie bei mir. Kerstin würde ja hierbleiben und konnte auf mich aufpassen. Auch wenn wir uns nicht mehr so gut verstanden wie früher, war sie sicher nicht so streng wie Mama und machte sowieso ihr eigenes Ding.
»Du bleibst auf gar keinen Fall alleine hier. Das kommt überhaupt nicht in die Tüte!« Mama war schon wieder auf hundertachtzig.
»Wieso denn nicht? Ich nerve euch doch sowieso bloß! Ständig meckerst du an mir rum, ständig mach ich alles falsch!« Sie sollte sich endlich mal locker machen. Ich wollte ja einfach bloß zu Hause bleiben, das war doch wirklich nicht zu viel verlangt.
»Das stimmt doch überhaupt nicht! Ja, wir streiten viel in letzter Zeit, aber das heißt nicht, dass du uns bloß noch nervst!«, sagte Mama. Richtig überzeugend klang sie nicht, fand ich.
Eine Weile sagte keiner etwas. Dann schaltete sich Papa ein:
»Weißt du, Janine, ich kann sogar verstehen, dass du mit fünfzehn auch mal deine eigenen Wege gehen willst. Und es gibt im Moment tatsächlich viel Streit hier. Der auch Mama sehr anstrengt. Aber dass du alleine hierbleibst, ist definitiv keine Möglichkeit.«
Mama sah ihn nachdenklich an und nickte. Sie seufzte und sagte: »Lass mich ein bisschen nachdenken. Am Wochenende reden wir noch einmal darüber, ja?«
Ich zuckte mit den Schultern. Was auch immer das bringen sollte. Wandern würde ich diesen Sommer aber garantiert nicht. Und wenn sie sich auf den Kopf stellten.
Am Samstag nach dem Frühstück zog Mama ein Faltblatt aus ihrer Handtasche und gab es mir. Ferienlager am Gardasee stand darüber.
»Was soll ich denn damit?«, fragte ich.
»Da sind noch Plätze frei. Das ist ein Ferienlager für Vierzehn- bis Sechzehnjährige, das die Gemeinde in Lövenich organisiert. Sie fahren zur gleichen Zeit wie wir. Niemand zwingt dich, mit uns in den Urlaub zu fahren. Das ist die Alternative.«
»Aha.« Ich war erst mal sprachlos. Ich hatte nie daran gedacht, in ein Ferienlager zu fahren. Ein unangenehmer Gedanke schlich sich in meinen Kopf: Wollte mich Mama vielleicht tatsächlich loswerden? Hatte ich den Bogen überspannt? Aber eigentlich war das jetzt auch egal. Schnell wägte ich ab: Am besten wäre alleine zu Hause bleiben, aber die Chance, dass sie sich darauf einließen, war gering. Am schlechtesten war, mit nach Österreich zu fahren.
»Wo ist denn der Gardasee?«
»In Italien. Er ist riesig. Und die Berge sind auch nicht weit. Man kann da sicher eine Menge unternehmen«, sagte Mama und bemühte sich, begeistert zu klingen.
»Aber ich kenne ja überhaupt niemanden, der da mitfährt.«
»Da findest du sicher schnell Anschluss. Du kannst auch nach wie vor mit nach Österreich fahren. Aber vielleicht ist es für uns beide keine so schlechte Idee, wenn wir mal zwei Wochen nicht miteinander streiten.« Mama sah müde aus.
Wenige Wochen später stand ich mit Mama und Papa vor einem großen Reisebus. Die Gepäckklappen waren offen und um uns herum wimmelte es nur so von Jugendlichen und ihren Eltern. Überall lagen und standen Koffer und Reisetaschen herum. Ständig kam jemand Neues an und begrüßte seine Freunde. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich hier wirklich niemanden kannte. Mir wurde mulmig.
»Alles okay?«, fragte Mama.
»Mhm«, machte ich.
»Für etwas Neues braucht man immer ein bisschen Mut. Und den hast du doch! Also, hab keine Angst. Und genieß den Urlaub.«
Ich nickte. »Könnt ihr jetzt gehen? Das ist sonst peinlich.«
Mama und Papa lächelten – zum ersten Mal seit Langem. Papa lud meine Tasche in den Bus. Wir umarmten uns kurz. Mama drückte mich ganz fest und flüsterte mir ins Ohr:
»Pass auf dich auf. Und bitte, bitte, mach keine Dummheiten, ja? Da sind ein paar ältere Jungs dabei und …«
»Mama, hör auf!«, unterbrach ich sie. Sie hatte also bloß so cool getan! Ich löste mich aus der Umarmung, sah sie an und zischte: »Ich bin nicht blöd und du kannst mir vertrauen!« Warum konnte sie nicht einmal locker sein?
Papa sagte: »Vielleicht vermisst du uns ja ein bisschen.«
Da musste ich lächeln. »Bestimmt!«
Mama strich mir kurz durchs Haar. Ich sah, dass in ihren Augen zwei Tränen schwammen, aber sie lächelte trotzdem.
Als Mama und Papa weg waren, stieg ich in den Bus. Etwa in der Mitte saß ein Mädchen in meinem Alter alleine.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, setzte mein nettestes Lächeln auf und fragte: »Ist hier neben dir noch frei?«
Sie lächelte auch, nickte und sagte: »Ja, klar, setz dich ruhig.«
Als ich meinen Rucksack im Fußraum verstaut hatte und mich hingesetzt hatte, sagte sie: »Ich kenne hier keinen Einzigen!«
»Jetzt kennst du mich. Ich heiße Janine.« Ich tat viel selbstbewusster, als ich mich gerade fühlte.
Sie hieß Tanja und hatte sich auch ganz kurzfristig angemeldet. Sie wohnte in Widdersdorf und ging wie ich auf die Realschule, aber auf eine andere. Wir kamen sehr schnell ins Gespräch und merkten gar nicht, dass der Bus losfuhr. Erst auf der Autobahn wurde mir klar, dass ich es geschafft hatte. Mit Tanja würde es sicher ein super Urlaub werden!
Wir kamen spätabends an. Während der Pausen und im Bus hatten Tanja und ich schon ein paar von den anderen kennengelernt. Die meisten, die dabei waren, waren schon sechzehn oder siebzehn. Als wir ankamen, quartierten Tanja und ich uns zusammen mit zwei anderen Mädchen in einem Vierer-Zimmer ein. Wir fielen todmüde ins Bett und ich schlief sofort ein.
Gleich nach dem Frühstück am nächsten Tag erklärten die Betreuer, wie alles funktionierte und was in den nächsten Tagen geplant war. Man konnte hier jede Menge Sport machen, z. B. Segeln, Surfen, Volleyball und Radfahren. Ich war erleichtert, das klang alles gut und würde schon nett werden.
Tagsüber erkundeten Tanja und ich den Strand – es war fast wie am Meer! –, danach machten wir beim Volleyballturnier mit. Abends hatten die Betreuer einen Grillabend mit Lagerfeuer organisiert. Nach dem Essen saßen wir alle am Lagerfeuer. Andi, einer der Betreuer, hatte eine Gitarre dabei und spielte ein paar Lieder. Groß ist der Herr, Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, Kumbaya My Lord … Zuerst hielten sich alle zurück, aber irgendwann gab es lauten Protest, als er schon wieder ein Kirchenlied anstimmte. Das waren zwar alles einigermaßen moderne Kirchenlieder und Gospelsongs, aber wir wollten viel lieber was Poppiges hören. Andi überlegte und fing an: On a dark desert highway, cool wind in my hair … Na ja, poppig konnte man Hotel California jetzt auch nicht gerade nennen. Das Lied spielte Kerstin auf ihrer Stereoanlage ungefähr seit meiner Geburt rauf und runter. Weil ich jahrelang das Zimmer neben ihrem bewohnt hatte, hing es mir zum Hals raus.
Tanja stupste mich an und flüsterte: »Hey, Janine! Nicole, Evelyn und ein paar von den Jungs haben zwei Flaschen Wein und sind runter zum Strand gegangen. Hier ist es doch voll öde, sollen wir nicht mitgehen?«
Ich überlegte. Hier war es wirklich ein bisschen öde. Nicole und Evelyn waren schon sechzehn und wirkten ziemlich reif und erfahren. Was die wohl vorhatten? Ich stand auf.
Tanja und ich taten so, als würden wir zum Haus gehen. In einem weiten Bogen außerhalb des Lichtscheins bewegten wir uns unbemerkt in Richtung See. Als wir an den Steinstufen angekommen waren, die von der Seepromenade zum Strand hinunterführten, sahen wir plötzlich Nicole und einen der Jungs im Schatten der Mauer stehen. Sie waren alleine, wahrscheinlich waren die anderen schneller gegangen und schon weiter voraus. Sie lehnten an der Steinmauer, die den Strand von der etwas höher gelegenen Promenade trennte. Und knutschten.
Ich hielt Tanja am Arm fest und legte den Finger an die Lippen. Sie folgte meinem Blick und begann zu grinsen. Der Junge hatte seine Hand unter Nicoles T-Shirt geschoben.
Eigentlich war mir schon klar gewesen, worum es bei unserem kleinen Ausflug zum Strand ging. Ich war ja kein Baby mehr. Aber erst jetzt begriff ich, was es wirklich bedeutete: Wenn ich hier Alkohol trank oder mit einem der Jungen rummachte, würde Mama mit ihren Befürchtungen recht gehabt haben! Das war doch genau das, was sie von mir dachte!
»Ich geh wieder zurück. Ich mag sowieso keinen Alkohol«, flüsterte ich Tanja ins Ohr und drehte mich um. Sie kam mir hinterher.
»Hey, lass uns doch wenigstens mal schauen, was die anderen machen!«
»Nee, lass mal. Ich hab keine Lust mehr. Außerdem bin ich total müde.«
Tanja maulte zwar, kam aber schließlich mit. Wir setzten uns noch ein bisschen zu den anderen ans Lagerfeuer. Mittlerweile war sogar die Musik besser geworden.
Nicht zuletzt wegen Tanja hatte ich einen tollen Urlaub. Wir spielten jeden Tag Volleyball, gingen viel schwimmen und machten jede Menge Blödsinn. Aber ich trank den ganzen Urlaub über keinen einzigen Schluck Alkohol und ignorierte alle Annäherungsversuche.