Jugendamt
Ein Kind kann einen Erwachsenen immer drei Dinge lehren: grundlos fröhlich zu sein, immer mit irgendetwas beschäftigt zu sein und nachdrücklich das zu fordern, was es will.
PAULO COELHO
»Kinder, übermorgen Nachmittag kommt Frau Antunes. Es gibt ein paar Sachen zu besprechen, da wäre es gut, wenn wir uns noch einmal in Ruhe zusammensetzen würden. Heute Abend nach dem Abendessen halten wir Familienrat und besprechen, was noch alles zu tun ist«, sagte Mama beim Mittagessen.
Die Beerdigung von Oma war jetzt zwei Wochen her. Es war komisch, dass sie nicht mehr da war. Einfach weg. Sie fehlte mir.
Zum Glück war super Wetter, obwohl es erst Mitte Mai war. So konnte ich viel unternehmen und mich ablenken. Heute Abend war eigentlich Leichtathletiktraining, zum ersten Mal dieses Jahr draußen auf dem Sportplatz. Aber ich wusste, dass man mit Mama bei dem anstehenden Besuch nicht diskutieren konnte. Ich würde hierbleiben müssen.
Frau Antunes war die Mitarbeiterin des Jugendamtes, die für uns zuständig war. Sie kam mehrmals im Jahr zu Besuch. Mama war dann immer sehr nervös und kochte, putzte und backte noch mehr, als sie es ohnehin schon tat.
Stefan verdrehte die Augen. Zum Glück hatte Mama das nicht gesehen. Wir alle hassten die Besuche vom Jugendamt.
»Oh nee, nicht schon wieder! Ich kann übermorgen Nachmittag nicht, Mama!«, sagte Kerstin. Sie studierte zwar schon, wohnte aber immer noch bei uns in einem großen Zimmer im ausgebauten Dachgeschoss. Sie war schon dreiundzwanzig und konnte eigentlich tun und lassen, was sie wollte. Trotzdem aß sie oft mit uns zu Mittag oder zu Abend und kochte sogar manchmal für uns alle.
»Da gibt’s kein ›Übermorgen kann ich nicht‹. Die Besuche des Jugendamts sind eine Pflichtveranstaltung, Kerstin. Und zwar für die ganze Familie. Und das weißt du genau. Solange du hier wohnst und Teil dieser Familie bist, bist du mit dabei.«
Kerstin nickte missmutig. Sie war nicht sauer, aber es passte ihr wohl einfach nicht in den Kram. Ich stocherte auf meinem Teller rum. So richtig Hunger hatte ich plötzlich nicht mehr.
Nach dem Abendessen blieben alle sitzen. Mama kochte eine Kanne Früchtetee und ich verteilte Tassen auf dem Tisch.
»Ich habe heute schon das Erdgeschoss geputzt und die Gardinen im Wohnzimmer gewaschen. Janine, du musst unbedingt heute Abend noch dein Zimmer aufräumen, damit ich da morgen früh staubsaugen kann, ja? Und mit aufräumen meine ich aufräumen und nicht: ›Alles, was rumliegt, in irgendeinen Schrank stopfen‹, klar?«
Ich nickte.
»Kerstin, könntest du heute Abend oder morgen früh noch einen Erdbeerkuchen machen? Ich habe alles eingekauft und den Boden schon gebacken. Du musst ihn also nur noch belegen und den Guss draufgießen.«
»Ja, kann ich machen«, Kerstin seufzte.
»Peter, schaffst du es, morgen schon um vier zu Hause zu sein? Frau Antunes hat sich für halb fünf angekündigt.«
»Ja, klar«, Papa nickte.
»Ich hab Fußballtraining morgen Nachmittag, Mama! Muss ich denn unbedingt hier sein oder kann ich nicht mal wegbleiben? Es geht doch sowieso immer um Janine«, maulte Stefan. Er war mittlerweile zwölf und das Einzige, was ihn interessierte, waren die Schule und Fußball.
»Stefan, es ist wichtig, dass du da bist, auch wenn du den Eindruck hast, es würde nicht um dich gehen. Aber es geht um uns alle, um uns als Familie. Wir müssen zeigen, dass hier alles gut funktioniert und in normalen Bahnen verläuft. Dass Janine hier ein gutes Umfeld hat und gut aufgehoben ist. Da spielt jeder von uns eine Rolle.« Sie machte eine Pause. Papa tat sich Zucker in den Tee.
»Es ist einfach wichtig, dass wir zeigen, dass wir eine sehr stabile Familie sind und gerade jetzt, wo Janines Oma gestorben ist, für sie da sind.« Mama wirkte nervös und drehte dauernd an ihrer Tasse rum.
»Gibt es denn noch etwas zu klären, bevor Frau Antunes kommt? Sie wird uns allen wie immer Fragen stellen. Es ist besser, wir sprechen vorher darüber, was wir ihr antworten.« Mama schaute uns an.
»Kann ich sagen, dass ich ein paarmal mit Janine im Kino war? Spricht da irgendwas dagegen?«, fragte Kerstin.
»Nein, gar nicht. Wir haben ja immer genau geguckt, dass ihr in Filme geht, die ab vierzehn freigegeben sind. Da gibt’s sicher keine Probleme«, antwortete Mama.
»Ich möchte meine Mutter nicht mehr besuchen«, sagte ich.
Mama sah mich nachdenklich an. »Ja, ich habe auch schon darüber nachgedacht, ob wir nicht mal ansprechen, dass es dir immer so schlecht geht, wenn du wieder nach Hause kommst. Vielleicht finden wir ja irgendeinen Kompromiss, der es dir ein bisschen leichter macht.«
»Ich will da wirklich nicht mehr hin!«, sagte ich noch einmal.
»Nina, tu mir einen Gefallen, raste nicht aus, wenn Frau Antunes da ist. Auch wenn sie was sagt, was dir nicht passt. Bleib einfach ruhig. Sag in Ruhe, was du möchtest, wir kriegen das schon alles hin. Aber brüll nicht, okay?« Mama war sehr ernst. Sie hatte immer furchtbar Angst, dass ich im Beisein der Leute vom Jugendamt einen Ausraster bekam.
Ich nickte. Es war ja nicht so, dass ich diese Ausraster bekommen wollte. Manchmal konnte ich nur einfach nicht anders.
Mama nahm meine Hand und sah mir in die Augen.
»Nina, wenn du rumschreist, kann es sein, dass die vor mir sitzen und zu mir sagen: ›Hören Sie mal, was machen Sie denn eigentlich aus dem Kind? Die ist ja völlig irre. Die brüllt hier rum, hat sich überhaupt nicht im Griff.‹«
»Was heißt denn, ›die brüllt hier nur rum‹! Jeder meint hier, über mich bestimmen zu können!« Ich riss meine Hand aus ihrer und sprang auf. »Ich bin kein Kind mehr! Ich habe doch selber eine Vorstellung von meinem Leben. Ich muss mir doch nicht von jedem Arsch, der hier alle paar Monate reinkommt, mein Leben erklären lassen! Oder du dir deins«, schrie ich. Stefan hielt sich die Ohren zu.
Meine Wut war plötzlich wieder weg.
»Sorry«, murmelte ich und setzte mich.
»Siehst du, genau das meine ich. Bleib morgen einfach mal ruhig. Du kannst meinetwegen genau das sagen, was du gerade gesagt hast. Aber verkneif dir die Kraftausdrücke und tu es, ohne zu schreien, okay? Denk einfach nach, bevor du anfängst zu reden!«
Der Tag, an dem Frau Antunes kommen sollte, war ein wunderschöner Tag und ich wäre viel lieber mit Silvia rausgegangen. Aber das ging natürlich nicht. Als es um halb fünf klingelte, blitzte und blinkte das ganze Haus. Ich fand ja, dass Mama übertrieb mit dem ganzen Aufwand. Bei uns war es sowieso schon immer super sauber und aufgeräumt. Andererseits achteten erwachsene Frauen oft auf so seltsame Dinge und bemerkten Veränderungen, die ich überhaupt nicht wahrnahm. Zum Beispiel sahen die gewaschenen Wohnzimmergardinen für mich genauso aus wie die ungewaschenen. Aber gestern war eine Freundin von Mama zu Besuch gewesen, die sofort registriert hatte, dass sie frisch gewaschen waren. Mir war völlig schleierhaft, wie sie das erkannt hatte.
Es gab Erdbeerkuchen mit Schlagsahne, Käsekuchen und eine große Thermoskanne mit Kaffee. Der Couchtisch war hübsch gedeckt und ich hatte in Mamas Auftrag extra noch ein paar Blümchen im Garten gepflückt. Ich ging mit Mama zusammen zur Tür, Papa wartete mit Kerstin und Stefan im Wohnzimmer.
Wir kannten Frau Antunes schon viele Jahre. Sie hatte einen spanischen Mann, deshalb hatte sie so einen seltsamen Namen. Ich glaube, sie mochte uns. Manchmal brachte sie Praktikantinnen mit und sagte dann so Sachen wie: »Die Kunzes sind mal ein wirklich positives Beispiel für eine Pflegefamilie!« Das gefiel Mama natürlich.
Obwohl wir Frau Antunes schon länger kannten und ich sie eigentlich nett fand, merkte man ihr an, dass sie aus einem bestimmten Grund kam. Ich fühlte mich immer total beobachtet. Ich hatte oft das Gefühl, dass sie gar nicht wirklich wissen wollte, wie es mir geht, auch wenn sie ständig danach fragte. Die Frau hatte irgendwie einen doppelten Boden.
Wir setzten uns alle auf die Couchgarnitur. Frau Antunes bedankte sich bei Papa und Kerstin, dass sie sich die Zeit genommen hatten, da zu sein.
»Manchmal ist es einfach wichtig, die ganze Familie zusammen zu sehen«, sagte sie und lächelte betont freundlich. Dann wechselten sie und Mama ein paar Sätze über das Wetter im Mai und unsere Urlaubspläne für dieses Jahr.
»Wie geht’s dir, Janine?«, begann sie schließlich ihre Fragerei.
»Gut, danke.«
»Ich hab gehört, dass deine Oma gerade gestorben ist? Das war sicher schlimm für dich, du hast sie doch sehr gerne gehabt, nicht wahr?«
»Ja, sie ist im April gestorben. Sie hatte einen Gehirntumor«, antwortete ich.
»Vermisst du sie sehr?«
Ich nickte.
»Und deine Mutter?«
»Die vermisse ich überhaupt nicht, ich gehe da auch nicht mehr hin. Dazu können Sie mich nicht zwingen«, ich hatte gar nicht nachgedacht, das war einfach so aus mir rausgesprudelt.
Mama zupfte nervös an einem der Sofakissen.
»Wem kann ich denn eigentlich ein Stück Kuchen geben? Frau Antunes?« Mamas Ablenkungsmanöver war super auffällig und total peinlich. Aber es funktionierte trotzdem und alle waren erst mal beschäftigt mit ihren Kuchenstücken und ihren Kaffeetassen. Frau Antunes lobte den Erdbeerkuchen, Mama sagte, dass Kerstin ihn gemacht hatte, und Frau Antunes lächelte ihr zu. Dann war die Schonfrist vorüber.
»Janine, jetzt hast du gerade gesagt, dass du nicht mehr zu deiner Mutter möchtest. Wie kommst du denn plötzlich auf die Idee?«
»Sie hat bei der Beerdigung total rumgeschrien und geheult. Das war voll ätzend und peinlich. Die ist völlig ausgeflippt. Sie muss sich immer in den Mittelpunkt stellen. So was würde Mama zum Beispiel nie tun«, versuchte ich, die Lage zu erklären.
»Aber findest du es denn nicht normal, dass sie traurig ist? Immerhin ist doch ihre Mutter gestorben. Du bist ja auch traurig, weil du deine Oma verloren hast, oder?«
»Ja, aber deshalb schreie ich nicht rum, als wäre ich verrückt geworden.«
»Jeder hat eben andere Wege, mit Trauer umzugehen. Da solltest du nicht so kritisch sein, meinst du nicht?«
Sie hatte überhaupt nicht verstanden, was ich gemeint hatte. Redete ich denn Chinesisch? Ich holte tief Luft.
»Ich bin nicht kritisch, aber ich möchte nicht mehr, dass sie mich abholt. Ich will da nicht mehr schlafen. Ich will da einfach nicht mehr hin, verstehen Sie?« Ich hatte ganz ruhig angefangen, aber dann war ich doch ein bisschen lauter geworden. Jetzt war ich richtig wütend und schrie: »Ich will ein Leben ohne meine Mutter. Ich habe einfach keinen Bock mehr auf den Scheiß! Ersparen Sie mir das!«
Keiner sagte etwas. Ich sprang auf und wollte aus dem Zimmer stürmen, aber Mama fasste mit einer Hand meinen Arm und hielt mich fest.
»Bleib hier, bitte«, sagte sie leise und bestimmt.
Ich machte mich los, drehte aber wieder um und setzte mich hin. Mein Blick fiel auf meine Geschwister und Papa. Sie waren so ruhig, dass ich sie schon fast vergessen hatte. Papa hatte eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn und versuchte, mich anzulächeln. Kerstin verschränkte finster die Arme vor der Brust. Stefan schaute auf den Boden.
»Na, das war ja mal wieder ein ganz schöner Ausbruch, Janine!« Frau Antunes lächelte, aber es sah nicht richtig nett aus. Sie tat so, als hätte sie alles im Griff. »Vielleicht war das jetzt gerade alles ein bisschen viel für dich. Die Krankheit deiner Oma, die Beerdigung … Jeder verarbeitet Trauer eben anders. Bei dir ist wohl die Wut das Ventil.«
»Ich bin nicht wütend, ich will da bloß einfach nicht mehr hin! Warum hören Sie mir eigentlich nie zu?« Ich war wieder kurz davor, total auszuflippen.
»Ich höre dir ja zu, Janine! Und ich glaube, dass dir der Tod deiner Oma mehr zusetzt, als du zugibst.«
Ich zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung, was Omas Tod damit zu tun haben sollte, dass ich meine Mutter nicht mehr besuchen wollte.
»Du bist dir also sicher, dass du deine Mutter eine Weile nicht mehr sehen möchtest, richtig?«
Ich nickte.
»Ich kann es nicht versprechen, weil ich es nicht alleine entscheiden kann. Deine Mutter müsste zustimmen. Aber ich möchte dir einen Vorschlag machen: Ich erkläre deiner Mutter, dass du die nächsten vier Monate eine Pause brauchst und sie in dieser Zeit nicht besuchen möchtest. Im Gegenzug schreibst du ihr gelegentlich.« Frau Antunes sah mich erwartungsvoll an.
»Das ist ein guter Vorschlag, danke für Ihr Verständnis und Ihre Kompromissbereitschaft, Frau Antunes«, sagte Mama. »Oder, Janine, das ist doch ein guter Vorschlag, so machen wir’s!« Sie lächelte mich an, aber ich sah in ihren Augen, dass sie Angst hatte.
Ich nickte.
Am nächsten Tag rief Frau Antunes an und gab Bescheid, dass meine Mutter mit ihrem Vorschlag einverstanden war. Aber auch wenn sie nicht einverstanden gewesen wäre: Ich wäre da nicht mehr hingegangen. Ich würde mich nie wieder zu etwas zwingen lassen. Ich würde mir von meiner Mutter nicht mehr in mein Leben reinreden lassen. Ich würde ihrem Egoismus etwas entgegensetzen! Ich wusste nicht, warum, aber mir wurde immer klarer, dass ich mit dieser Frau nichts mehr zu tun haben wollte. Hatte es mit ihrer schrecklich peinlichen Show auf der Beerdigung zu tun? Oder damit, dass Oma nicht mehr da war, der einzige Mensch aus meiner leiblichen Familie, der mir wirklich etwas bedeutete? Ich wollte nicht zu meiner Mutter gehören und gehörte nicht zu ihr. Ob sie nun meine leibliche Mutter war oder nicht: Sie war nicht meine Familie. Und dieser blöde Helmut erst recht nicht. Meine Familie waren Mama, Papa, Kerstin, Anne und Stefan. Hier war ich zu Hause und das würde sich nie ändern. Dafür würde ich kämpfen und wenn ich mir dabei die Seele aus dem Leib schreien müsste!
Zwei Wochen nach dem Besuch von Frau Antunes hatte meine leibliche Mutter Geburtstag. Mama erinnerte mich zuvor daran, dass ich ihr nun endlich mal schreiben müsste. Das war schließlich Teil der Abmachung. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, nahm einen Bogen Briefpapier und schrieb: Liebe Mutti. Dann schrieb ich nichts mehr. Ich starrte endlos lange auf die beiden Wörter. Und dachte: Lüge. Alles Lüge! Sie war keine »Mutti« und »lieb« war sie auch nicht. Dass ich zu ihr »Mutti« sagen sollte und zu Mama »Mama«, hatten sich die beiden ausgedacht, als ich noch ganz klein war. Meine Geschwister sagten zu Mama »Mama«, deshalb war klar, dass ich das auch machen würde. Meine Mutter bestand dann darauf, dass ich zu ihr »Mutti« sagte. Je älter ich geworden war, umso mehr versuchte ich, es zu vermeiden.
Ich pfefferte den Stift auf den Tisch, knüllte das Papier zusammen und warf es weg. Dann packte ich meine Sachen und ging zum Tanztraining. Damit war das Thema »Briefe an meine Mutter« erst mal erledigt. Das war einfach eine super blöde Idee von Frau Antunes gewesen!
Aber so einfach kam ich aus der Sache dann doch nicht raus. Zwei Tage vor dem Geburtstag meiner Mutter kam das Ganze wieder auf. Mama und ich räumten gerade zusammen die Küche auf nach dem Mittagessen.
»Janine, was ist mit dem Brief an deine Mutter? Ich fahre später noch an der Post vorbei, soll ich ihn mitnehmen? Dann kommt er noch pünktlich an«, sagte Mama.
Ich spülte die Pfanne und den Topf, in dem Mama die Kartoffeln gekocht hatte. Mama wischte den Tisch ab.
»Ich hab keinen Brief geschrieben«, antwortete ich.
Mama seufzte und hörte auf zu wischen. Sie sah mich an.
»Ach Nina. Treib es lieber nicht auf die Spitze, wir sollten froh sein, dass sie und das Jugendamt sich überhaupt darauf eingelassen haben.«
»Aber mir fällt nichts ein! Ich hab ihr einfach nichts zu sagen.«
»Und wenn du ein bisschen nachdenkst? Vielleicht erzählst du ihr, was du so machst? Was ihr im Jazzdance gerade einstudiert, wie es in der Schule läuft und so weiter.«
»Das interessiert die doch sowieso nicht! Sie fragt nie, was ich so mache. Dafür ist die doch viel zu oberflächlich. Ich finde das einfach alles so bescheuert! Sie hat so wenig mit mir zu tun, kann aber über alles bestimmen. Warum kann ich denn nicht richtig zu euch gehören?«
»Du gehörst doch richtig zu uns, das ist gar keine Frage!«
»Aber nicht vor dem Gesetz. Sonst würden die vom Jugendamt doch nicht dauernd hier antanzen. Das tun die doch bei anderen Familien, wo es keine Pflegekinder gibt, auch nicht.« Ich ließ den Spülschwamm mit einem lauten Platsch ins Becken fallen.
Mama nahm automatisch ein Geschirrtuch und wischte die Spritzer weg.
»Ja, da hast du natürlich recht. Aber darüber haben wir doch schon oft gesprochen. Damit Papa und ich das volle Sorgerecht für dich haben, müssten wir dich adoptieren. Und dem würde deine Mutter nie zustimmen.«
»Na und? Dann stimmt sie eben nicht zu. Es sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass ihr meine Eltern seid!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wenn sie nicht zustimmt, wird es einen hässlichen Streit geben. Und wenn wir den nicht gewinnen, wird es für dich noch schlimmer werden.«
Mama ging zur Arbeitsplatte und zog eine der Küchenschubladen heraus. Es war die Krimskrams-Schublade, in der Mama von Gummibändern über Bleistifte bis zu Aufklebern für Einmachgläser alles Mögliche aufbewahrte. Sie zog einen kleinen Stapel mit Glückwunschkarten heraus, blätterte sie durch und hielt mir zwei verschiedene hin.
»Wenn das mit dem Brief nicht klappt, schreib ihr doch wenigstens eine Karte. Da musst du nicht ganz so viel draufschreiben, es ist aber trotzdem eine nette Geste.«
Auf einer der beiden Karten, die Mama ausgesucht hatte, war ein bunter Blumenstrauß abgebildet. Aus dem goldenen Band, das den Strauß zusammenhielt, wurde ein schnörkeliger Schriftzug, der fünf Worte formte: Von Herzen die besten Wünsche. Die andere Karte sah moderner aus: Ein Mordillo-Männchen hielt eine Torte mit roten Kerzen, darüber stand Alles Gute zum Geburtstag.
»Wenn du eine Karte schreibst, mache ich für dich den Abwasch fertig«, versuchte Mama mich herumzukriegen. Ich hasste Abspülen. Und sie wusste es.
Mit einem Seufzen schnappte ich mir das Mordillo-Männchen und ging in mein Zimmer. An meinem Schreibtisch öffnete ich das durchsichtige Plastiktütchen, in dem Karte und Kuvert verpackt waren. Ich klappte die Karte auf und nahm einen Stift.
Nach zehn Minuten hatte ich drei Blumen und zwei kunstvoll verzierte Kringel auf meine Schreibtischunterlage gemalt. In der Karte stand immer noch nichts. Ich hatte ihr wirklich nichts zu sagen. Ich brauchte sie einfach nicht. Dieses ganze komische Leben, das sie führte, mit ihrem Tänzerinnen- oder Kellnerinnen-Job oder was auch immer, diesem blöden Helmut und ihrem dauernden oberflächlichen Getue. Selbst wenn ich bei ihr war, fühlte ich mich in ihrem Leben überflüssig. Nur ein einziges Mal hatte sie sich ernsthaft für meine Schule interessiert. Das war letztes Jahr gewesen, als ich ihr gesagt hatte, dass ich auf die Realschule wechselte. Sie war nur entsetzt gewesen, weil sie jetzt nicht mehr mit ihrer Tochter, die mal Ärztin werden würde, angeben konnte. Aber nach zwanzig Minuten hatte sie selbst an dieser Diskussion das Interesse verloren. Es war ihr eben doch nicht wirklich wichtig.
Nie ging es bei ihr um irgendetwas, das wirklich wichtig war. In der Kirchengemeinde überlegten wir uns Aktionen, wie wir Geld sammeln konnten für Menschen in der Dritten Welt. Kerstin war bei Greenpeace, Mama kümmerte sich um die alten Gemeindemitglieder und war zusammen mit Papa in der Pflegeelterngruppe aktiv. Sie half jedem, dem sie irgendwie helfen konnte. Und was tat meine Mutter? Sie lackierte sich die Nägel. Und pfuschte in mein Leben rein.
Ich nahm den Stift, schrieb in die Mitte der aufgeklappten Karte
Herzlichen Glückwunsch!
Janine
klappte die Karte zu, steckte sie in das Kuvert und klebte es zu. Dann schrieb ich ihre Adresse auf die Vorderseite und meine auf die Rückseite. Ich ging nach unten.
»Mama! Nimmst du die noch mit zur Post?« Ich hielt Mama die Karte hin.
Sie lächelte. »Da bin ich aber erleichtert! Gut, dass du das noch gemacht hast!« Mama steckte die Karte in ihre Handtasche. Ich ging wieder in mein Zimmer. Wenig später hörte ich die Haustür zuschnappen.