Abschied von Oma
Niemals geht man so ganz, irgendwas von mir bleibt hier.
Es hat seinen Platz, immer bei dir.
TRUDE HERR
Zu meinem vierzehnten Geburtstag Ende März hatte Oma uns noch einmal zu Hause besucht. Da sah sie schon richtig schlecht aus. Sie war sehr dünn. Weil sie so klein war, sah es so aus, als würde sie langsam verschwinden. Im Gesicht hatte sie plötzlich Falten, die sie vorher nie gehabt hatte. Sie sagte, sie wäre sehr krank und es könnte sein, dass sie ins Krankenhaus gehen müsste. Zum Geburtstag hatte sie mir ein Geschenk mitgebracht, ein kleines, quadratisches Päckchen. In dem bunten Geschenkpapier war eine schwarze Schmuckschachtel, die man aufklappen konnte. Ich machte sie auf und darin lag ihr grün-goldenes Armband, das zu ihr gehörte wie ihre Sommersprossen und ihre dunkelbraunen Locken. Ich konnte mich gar nicht erinnern, sie jemals ohne dieses Armband gesehen zu haben. Ich strich mit den Fingerkuppen über die grünen Steine. Warum schenkte sie mir ihr Armband? Das trug sie doch immer selbst. Oma lächelte.
»Ich möchte, dass du etwas hast, das dich immer an mich erinnert. Deine Mama wird es für dich aufheben, bis du erwachsen bist und es selbst tragen möchtest. Meine Handgelenke sind so schmal geworden, es passt mir gar nicht mehr. Außerdem bin ich doch schon viel zu alt für so einen zarten Schmuck!«
Vier Wochen später war es dann so weit. Kurz nach dem Mittagessen rief meine Mutter an. Sie sprach mit Mama. Ich war gerade hochgegangen, stand oben an der Treppe und hörte zu. Als Mama aufgelegt hatte, kam ich runter und wir setzten uns an den Küchentisch. Mama war erschüttert. Sie hatte eine ganz belegte Stimme, als sie sagte:
»Deine Oma ist gestern ins Krankenhaus gekommen, Janine. Deine Mutter holt dich in einer Stunde ab, damit ihr sie zusammen besuchen könnt.«
Das war mal wieder typisch meine Mutter: Statt bei schlechten Nachrichten direkt mit mir zu sprechen, sprach sie mit Mama! Unser Verhältnis war im letzten Jahr nicht besser geworden, eher schlechter. Es regte mich immer mehr auf, dass sie über mein Leben bestimmen konnte. Und dass sie immer nur an sich dachte, dass immer alles so sein musste, wie es für sie am besten, am praktischsten, am bequemsten war. Was für mich oder für andere am besten war, interessierte sie gar nicht!
»Deine Oma ist so ein großartiger Mensch und jetzt diese schlimme Krankheit. Mein Gott, wie schrecklich«, Mama schüttelte leicht den Kopf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das tut mir wirklich furchtbar leid, Janine!«
Das kam mir alles ganz unwirklich vor, deshalb sagte ich nur: »Die Arme. Was soll ich denn jetzt tun, Mama?«
»Wir werden jeden Abend für sie beten. Und vielleicht hilft es, wenn du deine Oma nicht spüren lässt, dass du dich gerade nicht so gut mit deiner Mutter verstehst. Das regt sie sicher nur auf.«
Mama hatte recht. Jetzt ging es um Oma, nicht um mich oder um meine Mutter. Oma würde sterben, weil sie einen Gehirntumor hatte. Das hatte meine Mutter Mama gerade erzählt. Ich konnte mir trotzdem nicht vorstellen, dass sie bald nicht mehr da sein würde. Ich konnte das einfach nicht glauben!
»Vielleicht wird sie ja doch noch gesund, oder, Mama?«
»Ja, vielleicht«, sagte Mama, aber sie sah sehr traurig aus.
Ich war auch traurig, aber ich konnte trotzdem nicht weinen.
Eine Stunde später klingelte es an der Tür und meine Mutter stand davor, um mich abzuholen und ins Krankenhaus zu fahren. Ich nahm Cheeta mit, das Stoffäffchen, das mir Oma geschenkt hatte, als ich ganz klein war, und steckte sie in meinen Rucksack. Vielleicht freute sich Oma darüber. Sie mochte ja auch so gerne Steiff-Tiere wie ich.
Meine Mutter sah total verheult aus. Mama kam in den Flur, nahm ihre Hand und drückte sie.
»Grüßen Sie Ihre Mutter ganz herzlich. Ich wünsche Ihnen beiden alles Gute und viel Kraft! Gott beschütze Sie«, sagte Mama. Ich wusste, dass sie es ehrlich meinte. Sie hatte Oma immer schon sehr gerne gemocht.
Meine Mutter begann leicht zu heulen und schnäuzte sich. Danach tupfte sie vorsichtig mit dem zerknüllten Taschentuch unter ihre Augen, um die Tränen zu trocknen, ohne ihre Schminke zu verwischen.
»Ach, es ist alles so furchtbar. Ich habe seit Tagen nicht geschlafen. Komm, Janine. Wir müssen los.«
Auf der Straße vor dem Gartentürchen stand ein Taxi. Meine Mutter hatte es dort warten lassen. Eigentlich liebte ich Taxifahren, aber heute war die Fahrt schrecklich. Ich musste die ganze Zeit an Oma denken. Meine Mutter ging mir jetzt schon auf die Nerven.
Als wir zwanzig Minuten später das Krankenzimmer betraten, bekam ich einen Schock. Oma sah grauenhaft aus! Es kam mir so vor, als wäre sie nur noch halb so groß wie früher. Sie war ganz grau im Gesicht und hatte viele Falten. Aber das Schlimmste war: Sie hatten ihr die Haare ganz kurz abgeschnitten! Sie lächelte, aber ich sah, wie viel Mühe es ihr bereitete. Ich lief zu ihrem Bett und umarmte sie vorsichtig. Sie kam mir vor wie ein kleines Vögelchen, bei dem man aufpassen muss, dass man es nicht zerdrückt.
»Janine, ist das schön, dass wir uns noch mal sehen. Ach, mein Engel!«, sagte sie ganz leise.
Plötzlich wusste ich, dass sie nicht mehr gesund werden würde. Dass heute vielleicht das letzte Mal war, dass ich sie sah. Weil sie sterben würde. Mein Hals war wie zugeschnürt. Ich hatte schreckliche Angst.
Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, löste ich mich aus der Umarmung, nahm meinen Rucksack von den Schultern und holte Cheeta heraus.
»Ich dachte, du wolltest Cheeta vielleicht auch noch einmal sehen«, murmelte ich und hielt Oma den Stoffaffen hin.
»Eine wunderschöne Idee, danke, Janine!«, sagte Oma lächelnd und nahm Cheeta in den Arm. »Aber du spielst nicht mehr mit ihr, oder? Mit vierzehn spielt man doch nicht mehr mit Stofftieren, da ist man ja schon fast erwachsen!«
Ich musste lächeln. »Ja, du hast recht, ich spiele nicht mehr mit Stofftieren. Aber in meinem Bett darf Cheeta trotzdem schlafen.«
Plötzlich begann meine Mutter laut zu schluchzen. Sie stand vor dem Fenster, hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen und beugte sich nach vorne, als hätte sie Magenkrämpfe.
»Ach, Kind«, sagte Oma leise und blickte zu ihr rüber.
Meine Mutter richtete sich wieder auf. Sie schüttelte immer wieder den Kopf und unter lauten Schluchzern rief sie: »Das darf nicht sein, das darf einfach nicht sein! Du darfst mich jetzt nicht alleine lassen!«
»Ruhig, Kind, ruhig!«, sagte Oma und versuchte, sich aufzurichten. Aber es fehlte ihr die Kraft, das konnte ich sehen.
Ich wurde wütend. Jetzt musste Oma auch noch meine Mutter trösten. Dabei war Oma doch die, die hier am meisten litt! Konnte sich meine Mutter nicht ein bisschen mehr zusammenreißen? Oma war immer unglücklich darüber gewesen, dass wir keine richtige Familie waren. Oma hatte sich dauernd Sorgen um sie machen müssen. Ohne sie würde so viel fehlen! Was sollte bloß werden, wenn sie nicht mehr da war?
Ich musste mich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht auszuflippen und meine Mutter anzuschreien. Aber ich dachte an Mamas Worte, dass es für Oma noch schlimmer war, wenn wir uns stritten. Also schaute ich grimmig zu meiner Mutter rüber und hoffte, dass sie sich endlich beruhigte. Plötzlich wurde mir klar, was passieren würde, wenn Oma nicht mehr da wäre: Es würde noch schwieriger für mich werden, weil das wichtigste Verbindungsglied zwischen meiner Mutter und mir weg sein würde. Schon jetzt war sie mir so fremd. Wie sollte ich mich ihr ohne meine Oma noch verbunden fühlen?
Ich hätte gerne etwas Liebes zu Oma gesagt, aber es war so schwer, den richtigen Satz zu finden. Außerdem hatte ich einen dicken Kloß im Hals. Wenn ich etwas sagen würde, müsste ich bestimmt auch losheulen. Das wollte ich auf keinen Fall. Das wäre das Schlimmste überhaupt. Deshalb sagte ich gar nichts und hoffte, dass meine Mutter sich bald zusammenreißen würde.
Oma lag nur da – ein krankes, graues Vögelchen. Ihre Stirn hatte lauter Sorgenfalten und sie sah sehr, sehr erschöpft aus.
Plötzlich ging die Tür auf und eine Krankenschwester kam herein. Sie sah zu meiner Mutter und dann zu Oma und mir. Sie hatte die Situation sofort durchblickt, ging zu meiner Mutter, fasste sie an den Schultern und führte sie aus dem Krankenzimmer heraus. »Na, kommen Sie mal mit, ich geb Ihnen was zur Beruhigung«, sagte sie.
»Danke, Schwester«, sagte Oma erleichtert. Sie lächelte mich kurz an, dann sagte sie:
»Janine, mein Schatz, ich bin schrecklich müde. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber vielleicht schlaf ich gleich ein.«
Ich umarmte sie noch einmal so fest, wie ich mich traute. Oma küsste Cheeta auf die Stirn, dann gab sie sie mir zurück. Ich steckte Cheeta in den Rucksack.
»Janine?«, sagte Oma da ganz leise.
»Ja?«
»Komm noch mal her!« Omas Stimme war fast nur noch ein Flüstern.
Ich beugte mich langsam zu ihr. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich auf beide Wangen. Dann nahmen wir uns ganz fest in den Arm. Ich atmete tief und sog noch einmal ihren Geruch ein. Obwohl sie schon so lange im Krankenhaus war, roch sie immer noch nach ihrem Opium-Parfüm und nach frischem Kaffee. An diesen Geruch wollte ich mich mein ganzes Leben lang erinnern. Ich versuchte, ihn jetzt so intensiv wie möglich zu riechen, damit ich ihn nicht vergessen könnte. Ich spürte, wie mir zwei Tränen aus den Augen über das Gesicht rollten, und musste kurz schniefen. Für Oma wollte ich stark sein, aber es war so schwer! Ach Oma, wie sehr würde ich dich vermissen!
Eine Woche später starb sie. Zusammen mit Mama und Papa sprach ich ein Gebet für sie. Ich war sehr froh, dass Mama und Papa mit mir zu der Beerdigung gehen würden. Sie hatten Oma auch sehr gern gehabt.
Die Beerdigung war an einem Freitagvormittag. Papa hatte sich extra freigenommen und ich musste nicht zur Schule gehen. Als wir ankamen, war der Friedhof schon voller Menschen. So viele Leute hatten Oma gekannt! Die Kapelle, in der der Trauergottesdienst stattfand, war bis auf den letzten Platz besetzt. Viele Menschen mussten draußen bleiben, weil sie gar nicht alle reinpassten. Für mich war ein Platz in der ersten Reihe reserviert, neben Helmut und meiner Mutter. Aber ich stellte mich lieber zu Mama und Papa an den Rand. Papa stand hinter mir und legte seine Hände auf meine Schultern, Mama nahm meine Hand und hielt sie ganz fest. Vorne im Altarraum stand der Sarg. Auf seinem Deckel war ein riesiges Gesteck aus verschiedenen weißen Blumen. Vor dem Sarg lehnten mehrere Kränze, die mit Blumen und Schleifen verziert waren. Auf einer stand: In tiefer Trauer, Janine und Familie Kunze. Den Spruch und die Blumen hatte ich zusammen mit Mama ausgesucht. Es waren ganz viele verschiedene Blumen in allen Farben. Das passte am besten zu Oma, die immer so fröhlich gewesen war, auch wenn sie es oft schwer hatte, fanden Mama und ich.
Der Pfarrer hielt eine Rede und die Gemeinde sang zwei Lieder. Dann kamen die Träger, hoben den Sarg hoch und schritten langsam den Mittelgang der Kapelle entlang zum Ausgang. Die Leute reihten sich ein hinter den Sarg und gingen hinter ihm her. Keiner sagte ein Wort und man hörte nur die Glocken der Kapelle, die die ganze Zeit läuteten, bis wir am Grab angekommen waren. Die Träger stellten den Sarg auf ein Metallgestell, das über der Graböffnung angebracht war, sodass er über dem Grab schwebte. Die vielen Menschen stellten sich alle um das Grab herum. Mama sagte mir leise, ich sollte mich neben meine Mutter und Helmut stellen, weil die Leute uns gleich ihr Beileid aussprechen wollten.
Der Pfarrer sprengte etwas Weihwasser auf den Sarg und wir beteten zusammen das Vaterunser. Dann wurde der Sarg langsam ins Grab hinuntergelassen. Der Pfarrer nahm drei Mal mit einer kleinen Schaufel etwas Sand aus einer Schale, warf den Sand ins Grab und sagte dazu: »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Und nach einer kleinen Pause: »Ruhe in Frieden.«
Plötzlich ertönte ein lautes Schluchzen. Meiner Mutter liefen die Tränen über das Gesicht. Die rote Rose, die sie in der Hand gehalten hatte, fiel auf den Boden. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schwankte leicht. Helmut versuchte, sie zu stützen, aber sie sackte in sich zusammen. Sie kauerte in der Hocke am Boden und weinte. Helmut beugte sich zu ihr hinunter und versuchte, sie wieder nach oben zu ziehen. Leise redete er auf sie ein.
Es war schrecklich. Die anderen Leute sahen sie voller Mitleid an, aber mir war es vor allem peinlich. Warum tat sie mir nicht leid? Ich wandte mich ab und sah absichtlich in eine andere Richtung. Mit Omas Tod war etwas kaputtgegangen. Ich spürte gar keine Verbindung mehr zu ihr. Ich hatte mit dieser Frau nichts zu tun. Ohne Oma war sie mir so fremd. Ohne Oma gab es gar keinen Grund mehr, das nicht auch zu zeigen. Für sie hatte ich all die Jahre den Mund gehalten. Ich verzog keine Miene und blieb ganz ruhig. Ich würde keine Träne vergießen. Weil sie so weinte, würde ich nicht weinen. Weil ich nicht mehr zu ihr gehörte. Ich würde niemals heulen, um mich in den Mittelpunkt zu stellen. Ich würde mich niemals so gehen lassen. Ich konnte gar nicht mehr traurig sein, weil ich so wütend war! Noch nie im Leben war mir meine leibliche Mutter so fremd gewesen.
Als sie sich endlich etwas beruhigt hatte, ging sie, gestützt von Helmut, zum Grab und warf ihre Rose hinein. Sie schluchzte noch einmal auf und stellte sich wieder neben mich. Ich hatte einen kleinen Strauß Maiglöckchen dabei. Oma hatte mir vor Jahren Maiglöckchen gezeigt und gesagt, dass sie fand, dass sie lustig aussahen. Lauter kleine weiße Glöckchen, die an dem Stängel rumbaumelten, wenn man sie anstupste. Wir hatten uns immer gefreut, wenn wir irgendwo Maiglöckchen sahen. Es war Mamas Idee gewesen, ihr einen Strauß Maiglöckchen ins Grab zu legen. Ich warf den Strauß ins Grab. Außerdem einen kleinen gefalteten Zettel. Auf ihn hatte ich ein Gedicht geschrieben, das Oma und ich immer sehr traurig, aber auch sehr schön fanden. Seit Oma tot war, sagte ich es mir oft vor. Es tröstete mich ein bisschen, weil es sich anhörte, als würde Oma mit mir sprechen:
Schau hoch zum Mond, da wo mein Blick jetzt wohnt.
Er schenkt dir tausend Küsse, weil ich dich so vermisse.
Ich vermisste sie auch so sehr! Oma war im Himmel angekommen. Ich hoffte, dass sie endlich ihre ersehnte Ruhe gefunden hatte.
Danach gingen alle anderen Trauergäste einzeln ans Grab, verabschiedeten sich von Oma, warfen Blumen oder Sand ins Grab und schüttelten uns die Hand oder umarmten uns. Die meisten kannte ich nicht. Ich stand wieder neben meiner Mutter und hielt es kaum aus, wie sie den Leuten gegenüber tat.
Irgendwann war die Zeremonie endlich vorbei und ich ging zu Mama und Papa, ohne noch etwas zu meiner Mutter zu sagen. Sie verabschiedeten sich von ihr, und wir gingen zum Auto. Als wir die Autotüren hinter uns geschlossen hatten, begann Mama leise zu weinen. Ich starrte aus dem Fenster. Kurz nachdem Papa losgefahren war, drehte Mama sich zu mir um und sagte:
»Janine, Mäuschen, wie geht es dir? Du bist so still. Konntest du gar nicht weinen?«
Ich sagte nichts, schaute Mama nur kurz an und schüttelte den Kopf. Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht so eine Show abziehen wollte wie meine Mutter, aber ich brachte keinen Ton raus. Ich konnte nicht weinen. Und ich konnte auch nicht sprechen.
»Dann lass ich dir mal deine Ruhe«, sagte sie, strich mir über das Knie und wandte sich wieder nach vorne.
Papa schaute in den Rückspiegel und sah mich prüfend an.
Ich blickte aus dem Fenster, bis wir zu Hause waren.
Kerstin hatte etwas zum Mittagessen gekocht und Stefan war gerade aus der Schule gekommen. Er fragte, wie es mir ginge, aber ich konnte immer noch nicht sprechen. Ich fühlte mich wie unter Wasser. Ganz weit weg und doch da. Mama sagte:
»Das war ein schlimmer Vormittag für Janine, Stefan. Es geht ihr nicht gut. Wir müssen alle sehr lieb zu ihr sein in der nächsten Zeit und Rücksicht nehmen.«
Stefan nickte. Ich war so froh, dass Mama mich immer verstand!
Ich konnte nichts essen, obwohl es extra wegen mir Spaghetti Bolognese gab. Aber ich blieb trotzdem bei den anderen sitzen. Nach dem Mittagessen ging ich in mein Zimmer und setzte mich auf mein Bett. Plötzlich kamen die Tränen. Und hörten nicht mehr auf zu fließen. Ich vermisste Oma so sehr! Ich fühlte mich so allein.
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann kam Mama ins Zimmer, nahm mich in den Arm und tröstete mich.
Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich:
»Oma war der einzige gute Mensch in meiner leiblichen Familie. Ich will mit denen nichts mehr zu tun haben. Ich gehöre zu euch und nicht zu denen.«
Mama sah mich besorgt an. Dann nickte sie.
Trotzdem musste ich am Sonntag hin. Meine Mutter wollte noch einmal in Omas Wohnung gehen, bevor sie ausgeräumt wurde, und hatte gefragt, ob ich mitwollte. Ich hatte keine Lust, meine Mutter zu sehen, sah aber ein, dass das wohl die einzige Möglichkeit war, noch einmal Omas Sachen um mich herum zu haben und mich ihr nah zu fühlen. Meine Mutter holte mich mit dem Taxi ab und ließ uns zum Gottesweg fahren. Der Geruch in Omas Wohnung traf mich wie ein Schlag. Es war, als wäre sie noch hier. Ihr Duft war noch da.
Meine Mutter war wieder relativ normal. Sie ging quer durch die Wohnung in die Küche. Ich folgte ihr, weil ich in den verlassenen Zimmern nicht so gerne alleine sein wollte. Sie öffnete die beiden Türen zum Küchenbalkon und trat hinaus.
»Oh Gott, sieh nur, Janine, der Spatz!«, rief sie mir zu.
Ich ging zu ihr auf den Balkon und sah einen Spatz, der auf dem Geländer herumhüpfte. Er legte den Kopf schief und sah uns an. Er schien überhaupt keine Angst vor uns zu haben. Ich erinnerte mich, dass Oma immer ein bisschen Vogelfutter in einem Schraubglas auf dem Fenstersims der Speisekammer stehen hatte. Das kleine Fenster der Speisekammer ging auf den Balkon raus. Ich drehte mich um und richtig, da stand es! Mit möglichst wenigen, langsamen Bewegungen nahm ich das Glas, schraubte den Deckel ab und griff hinein. Ich streckte meine Hand mit den Körnern langsam in Richtung Spatz aus. Er guckte auf die Körner und legte wieder den Kopf schief. Die Körner auf meiner Hand lagen jetzt direkt unter ihm, wie auf einem Teller. Er pickte in meine Hand und schnappte sich ein paar Körner. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen und möglichst flach zu atmen, um ihn nicht zu verscheuchen.
»Oh mein Gott, das ist die Oma!«, flüsterte meine Mutter neben mir.
Ich dachte, ich hätte mich verhört.
»Was?«, flüsterte ich zurück.
»Das ist die Oma, die hat sich in einen Vogel verwandelt, Janine. Sie wollte uns noch mal besuchen! Oh Gott!« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Gleich würde sie garantiert wieder anfangen zu heulen.
»So ein Schwachsinn!«, sagte ich und ließ meine Hand sinken. Die restlichen Körner in meiner Hand fielen auf den Balkonboden und der Spatz flog zwei Meter weg, wo er sich wieder auf das Geländer setzte.
Meine Mutter schluchzte auf. Ich ging in die Wohnung. Lieber alleine in einem leeren Zimmer sein, als mir diesen Quatsch anhören!
Ich durchstreifte das Esszimmer, das Wohnzimmer und das Schlafzimmer. Überall waren Gegenstände, die mich an Erlebnisse mit Oma erinnerten: ihre Steiff-Tiere, die auf einer Anrichte im Wohnzimmer saßen. Ein Foto von uns beiden auf einem Regal in der Schrankwand, auf dem ich mein weißes Kommunionskleid trug. Eine von mir getöpferte Schale, die im Esszimmer in der Vitrine einen Ehrenplatz bekommen hatte.
Nach einer Weile ging ich wieder in die Küche. Meine Mutter stand immer noch auf dem Balkon und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie starrte auf den kleinen Spatz, der mittlerweile auf den Balkonboden gehüpft war und die Körner, die ich dort verstreut hatte, aufpickte.
»Das ist die Oma, echt! Sie ist zurückgekommen!«, murmelte sie.
Ich musste hier weg, dachte ich. Nach einer Ewigkeit kapierte meine Mutter, wie bescheuert ich diese Nummer fand, und hörte endlich damit auf. Sie schloss die Balkontür, holte eine große Schmuckschatulle aus dem Schlafzimmer und einen Ordner mit Papieren aus dem Wohnzimmerschrank. Dann bestellte sie ein Taxi und fuhr mich nach Hause.