Wir holen dich da raus!
Die Liebe besitzt nicht, noch will sie Besitz
sein,
denn die Liebe ist der Liebe genug.
KHALIL GIBRAN
Zwei Wochen später, also eine Woche vor Weihnachten, sollte ich das Wochenende schon wieder bei meinen leiblichen Eltern verbringen. Normalerweise war immer mehr Zeit zwischen den Besuchen. Ich hatte keine Ahnung, warum es diesmal anders war. Am Wochenende war dritter Advent und der Kinderchor hatte am Sonntag in der Messe einen Auftritt. Seit drei Wochen übten wir Weihnachtslieder. Bei Sei uns willkommen, Herre Christ durfte ich ein Stück ganz alleine singen. Am Samstag wollten wir eigentlich alle zusammen Plätzchen backen. Sogar Kerstin und Papa hatten versprochen, mitzumachen. Aber meine Mutter hatte am Mittwochabend angerufen:
»Ich hol dich am Samstagmorgen ab.«
»Aber am Sonntag singe ich doch mit dem Chor in der Kirche!«, hatte ich gesagt.
»Das kannst du doch auch ein anderes Mal machen. Ihr singt da doch sowieso die ganze Zeit. Wir holen dich am Samstag morgen ab«, hatte sie geantwortet. Dann hatte sie aufgelegt. Heute war Donnerstag. Papa war gerade nach Hause gekommen und gleich sollte es Abendessen geben. Ich war mit Mama in der Küche und half ihr den Tisch zu decken.
»Mama, warum muss ich denn am Wochenende zu meiner Mutter? Ich möchte viel lieber hierbleiben«, sagte ich zu Mama.
»Ja, ich weiß, Schatz, aber da kommen wir nicht drum herum, das muss leider sein.«
»Warum denn?«
»Sie ist deine Mutter und kann bestimmen, wann sie dich sehen möchte.«
»Aber wieso kann ich nicht bestimmen, wann ich sie sehen möchte?«
»Weil du ein Kind bist und so etwas noch nicht bestimmen kannst.«
»Aber ich möchte doch so gerne am Sonntag singen!« Ich fand es so ungerecht. Nie durfte ich etwas bestimmen.
Mama sah mich traurig an. »Es tut mir leid, Schatz, daraus wird wohl nichts. Aber ihr macht doch sicher auch wieder etwas Schönes zusammen. Und mit dem Chor singst du ja öfter, das läuft dir nicht weg.«
Sie ging in den Keller, um noch schnell die Wäsche aufzuhängen. Ich überlegte. Und wenn ich meiner Mutter einfach sagte, dass ich lieber hierbleiben wollte am Wochenende? Sie könnte mich ja nicht zwingen. Ich konnte es ja wenigstens mal versuchen.
Ich ging in den Flur. Das Telefon war auf einer kleinen Kommode. Daneben stand ein Stuhl, damit man sich hinsetzen konnte, wenn man länger telefonierte, aber ich blieb stehen. Ich hob ab und wählte die Nummer. Es tutete. Dann meldete sich meine Mutter und ich sagte:
»Hallo, Mutti, hier ist Janine.«
»Ach Janine, hallo! Was gibt’s denn? Wir wollen gleich aus dem Haus, also sag schnell, was los ist.«
»Ich möchte nicht zu euch am Wochenende«, sagte ich leise.
»Was hast du gesagt? Ich hab dich nicht verstanden, Janine. Sag das bitte noch mal lauter.«
»Ich will nicht zu euch am Wochenende!«, sagte ich laut. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass meine Mutter die Kellertreppe nach oben kam. Sie sah mich erschrocken an.
»Aber das haben wir fest ausgemacht. Wir haben doch Onkel Horst und meine Cousinen eingeladen. Das können wir jetzt nicht mehr absagen. Ich hole dich am Samstag ab, wie ausgemacht.«
Mutti klang ein bisschen sauer. Aber plötzlich war mir das egal.
»Ich möchte aber nicht. Ich komme nicht mit«, sagte ich jetzt ziemlich laut. Mama lief zu mir, schüttelte heftig mit dem Kopf und machte mir irgendwelche Zeichen.
»Janine! Ich bin deine Mutter, du tust, was ich dir sage!« Jetzt war sie richtig sauer, aber ich auch!
»Nein!«, schrie ich und Mama versuchte, mir den Telefonhörer wegzunehmen. Sie sah ängstlich aus. Aber ich drehte mich weg.
»Ich will am Samstag mit Mama Plätzchen backen und am Sonntag in der Kirche singen! Das kannst du mir nicht wegnehmen! Das war alles schon viel länger ausgemacht!« Ich war jetzt so wütend, dass ich fast heulen musste.
»Gib mir sofort deine Mutter!«, schrie sie ins Telefon. Ich hielt Mama den Hörer hin. Jetzt hatte ich alles gesagt. Sie schrie jetzt so laut, dass man sie verstehen konnte, auch wenn man nur danebenstand. Ich hörte, wie sie Mama ins Ohr schrie:
»Ich hole das Kind jetzt sofort! Das hab ich Ihnen immer gesagt! Das reicht jetzt, ich hole sie zurück!«
Mama versuchte etwas zu sagen, aber am anderen Ende der Leitung schrie plötzlich eine Männerstimme:
»Wir holen das Kind jetzt da raus! Das ist mein Kind! Wir sind eine Familie! Ihr habt es nicht anders gewollt, jetzt ist es so weit! Wir sind in zehn Minuten da!«
Dann war es plötzlich still. Meine Mama hielt den Telefonhörer. Ihre Hand zitterte. Plötzlich fing sie an zu weinen und setzte sich auf den Stuhl neben der Telefonkommode. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte ganz laut. Ich stand einfach nur da und wusste nicht, was ich machen sollte.
»Karin, was ist denn los?« Papa kam aus dem Wohnzimmer und ging schnell zu Mama. Er streichelte ihr über den Rücken und das Schluchzen wurde ein bisschen leiser. Dann ließ sie langsam die Hände sinken und schaute Papa an.
»Das ist der Mann, nicht sie«, sagte sie.
»Was meinst du damit? Was ist denn überhaupt passiert?« Papa nahm ihr den Telefonhörer aus der Hand, hielt ihn an sein Ohr und fragte. »Hallo?« Aber es war keiner mehr dran und er legte auf.
»Das war Ninas Vater. Er hat gesagt, sie holen sie hier weg. Sie kommen in zehn Minuten. Was sollen wir bloß tun?«, sagte Mama.
Papa hielt sich die Hand vor den Mund. Er sah sehr erschrocken aus.
Plötzlich begriff ich. Sie wollten mich für immer von hier wegholen. Nur weil ich am Sonntag singen wollte.
»Das dürfen die nicht! Ich bleibe hier!«, schrie ich und rannte in die Küche. Ich setzte mich ganz hinten auf die Eckbank, zog die Füße hoch und machte mich so klein wie möglich. Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht, ging es in meinem Kopf immer weiter. Mama und Papa redeten im Flur miteinander. Sie klangen total aufgeregt. Ich hatte Angst.
Als wäre es ganz weit weg, hörte ich die Rollläden runterrasseln. Zuerst im Erdgeschoss. Dann das gleiche Geräusch leiser. Das waren die Rollläden oben. Jemand schloss die Haustür ab. Ich hörte, dass Kerstin und Stefan mit Mama redeten, konnte aber nicht verstehen, was.
Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht.
Papa kam in die Küche und setzte sich neben mich auf die Eckbank an den Küchentisch. Er legte den Arm um mich und sagte leise in mein Ohr: »Hab keine Angst! Ich passe auf dich auf.«
»Ich rufe jetzt das Jugendamt an. Sie müssen die Leute zur Vernunft bringen!«, sagte Mama von der Tür zum Flur. Sie sah ganz verknautscht aus im Gesicht und das Weiße in ihren Augen war rot.
»Gut. Mach das. Ich bleibe bei Janine«, sagte Papa.
Papa und Mama waren sehr ernst und ich merkte, dass beide große Angst hatten, obwohl sie versuchten, es nicht zu zeigen.
Papa sagte noch einmal: »Hab keine Angst, so einfach kommen die hier nicht rein. So einfach können sie dich uns nicht wegnehmen.« Ich konnte gar nichts sagen. Und auch nicht weinen. Ich dachte nur immer: Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht.
Wir hörten Mama telefonieren. Nach einer Weile rief sie nach Stefan und Kerstin und kurz danach kamen alle zu uns in die Küche.
»Die Leute vom Jugendamt versuchen, sie zu erreichen. Wenn sie nicht mit ihnen sprechen können, kommen sie hierher. Sie sagen, die Lage ist ernst, aber so einfach ist es dann doch nicht. Wir können jetzt nur abwarten und versuchen, uns nicht verrückt zu machen.«
Mama setzte sich auf die Bank, Stefan fing an zu heulen und kuschelte sich ganz eng an sie ran. So blieben wir ziemlich lange sitzen. Irgendwann versuchten wir, zu Abend zu essen. Aber richtig viel Hunger hatten wir alle nicht und so räumten wir die Sachen schnell wieder weg. Mama fragte mich noch mal, was meine Mutter ganz genau am Telefon gesagt hatte, und was genau ich gesagt hatte. Ich versuchte, das alles noch mal zu wiederholen. Stefan schluchzte immer noch leise vor sich hin und irgendwann musste Mama auch wieder weinen.
»Es tut mir so leid!«, flüsterte sie.
»Ach Karin, mach dir doch jetzt keine Vorwürfe!«, sagte Papa und nahm ihre Hand.
Kerstin sagte: »So eine blöde Kuh! Kann die uns nicht in Ruhe lassen!«
»Kerstin, lass gut sein!«, murmelte Mama.
Dann sagte keiner mehr etwas. Es war ganz still. Wir hörten ein Auto. Ich hielt den Atem an. Aber es fuhr vorbei. Dann noch eins. Dann war es wieder still. So ging es eine Zeitlang. Ich legte meinen Kopf an Papas Schulter.
Ein ganz lautes Geräusch ließ mich plötzlich zusammenzucken. Es hatte geklingelt! Ich erschrak mich ganz fürchterlich und ließ mich blitzschnell unter die Eckbank gleiten. Ich quetschte mich in die hinterste Ecke und machte mich so klein es ging. So konnte mich keiner sehen. Vielleicht passierte nichts, wenn sie mich einfach nicht fanden! Ich presste meine Hände auf die Ohren und kniff die Augen ganz fest zu.
Eine Zeitlang passierte gar nichts. Ich hörte und sah ja nichts. Dann rüttelte jemand leicht an meinem Bein. Ich erschrak. Trotzdem machte ich eine klitzekleine Lücke zwischen Zeige- und Mittelfinger und öffnete das Auge dahinter so weit, dass ich ein bisschen was sehen konnte. Ich sah ein bekanntes Gesicht und war überrascht.
»Frau Antunes?«, flüsterte ich. Das war das erste Mal, dass ich mich freute, die Frau vom Jugendamt zu sehen. Normalerweise war es immer ein totaler Stress, wenn sie kam. Wir mussten überall aufräumen und alles perfekt und richtig machen. Mama sagte mir tausend Mal, dass ich ruhig bleiben sollte, egal, was sie mich fragen würde. Obwohl sie eigentlich immer nett war, fand ich es blöd, wenn sie kam. Außer jetzt.
Ich kroch unter der Bank hervor und wir setzten uns alle noch einmal zusammen an den Küchentisch und erzählten Frau Antunes, was passiert war. Als wir alles erzählt hatten, war es schon zehn Uhr abends und Mama schickte Stefan und mich nach oben ins Bett. Morgen war Schule und normalerweise musste ich unter der Woche um halb neun ins Bett. Stefan sogar schon um acht.
Gerade, als ich mir die Zähne geputzt hatte, hörte ich, dass unten das Telefon klingelte. Mama ging ran. Ich schlich mich aus dem Bad und blieb oben am Treppenabsatz stehen.
»Beruhigen Sie sich doch!«, hörte ich Mama sagen. Und nach einer Pause: »Ist schon gut. Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« Wieder eine kurze Pause. Dann sagte sie: »Sie ist schon im Bett. – Nein, gerade eben erst. – Aber es wäre gut, wenn es nicht so lange dauert, sie hat sich große Sorgen gemacht und ist sehr erschöpft.« Ich hörte, wie sie den Hörer neben das Telefon legte und zur Treppe ging.
»Janine, stehst du da oben? Kommst du bitte noch mal kurz runter?«, sagte sie.
»Okay«, antwortete ich und kam die Treppe runter.
Sie ging wieder zum Telefon, nahm den Hörer und bedeckte die Seite, in die man reinsprach, mit einer Hand. »Deine Mutter ist dran. Sie möchte sich bei dir entschuldigen, dass sie uns heute so Angst gemacht hat.«
Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Auch wenn es schwerfällt, sei nett zu ihr, ja?«
Ich schüttelte wieder den Kopf. Warum sollte ich jetzt nett zu der sein?
»Bitte, Janine«, sagte Mama und sah mir fest in die Augen. »Wir wollen sie nicht verärgern, okay? Das ist jetzt wirklich wichtig.« Sie hielt mir den Hörer hin. »Bitte.« Zwischen ihren Augenbrauen war die Falte und sie sah sehr müde aus. Ihre Augen waren vom Weinen ganz rot.
Ich nahm den Hörer und sagte: »Hallo, hier ist Janine.«
»Janine, mein Schatz, es tut mir so leid!« Meine Mutter schniefte. »Wir wollten dir keine Angst machen. Bitte vergiss nicht, dass ich dich sehr lieb hab.« Sie sprach leise und klang, als würde sie gleich losheulen.
»Okay.«
»Bitte entschuldige. Du musst am Wochenende nicht zu uns kommen. Wir holen dich ein andermal. Ich melde mich wieder, ja?«
»Okay.«
»Gute Nacht. Schlaf schön!«
Ich sagte auch gute Nacht und legte auf.
Danach ging ich ins Bett, aber obwohl ich total müde war, konnte ich nicht einschlafen. Irgendwann hörte ich, wie die Haustür auf- und wieder zugemacht wurde. Wahrscheinlich war Frau Antunes jetzt gegangen.
Kurz danach telefonierte Mama noch einmal. Ich lauschte ein bisschen und verstand, dass sie mit meiner ältesten Schwester Anne sprach und ihr von dem ganzen Terror erzählte. Sie fragte, ob sie am Wochenende kommen könnte. Ich würde Mama morgen fragen, was Anne geantwortet hatte. Ich würde mich so freuen, wenn sie käme! Seit sie zum Studium weggezogen war, kam es mir manchmal so vor, als fehlte jemand.
Kurz nachdem Mama aufgelegt hatte, kamen Mama und Papa die Treppe nach oben. Als alles ruhig war, fiel mir ein, dass wir uns heute gar keinen Gutenachtkuss gegeben hatten. Alles war so durcheinander gewesen. Ich stand auf und ging zum Schlafzimmer hinüber. Die Tür war nur angelehnt, Mama sagte gerade:
»Wie kann der nach all den Jahren hier ankommen und versuchen, unsere Familie kaputtzumachen? Es war alles friedlich, als nur Janines Mutter im Spiel war. Jetzt kommt dieser Mann und bringt hier eine Unruhe rein, wiegelt die Frau gegen uns auf und versucht uns das Kind wegzunehmen. Es hat doch all die Jahre so wunderbar funktioniert!«
»Mach dir keine Sorgen, es wird sich schon alles wieder einrenken. Solange wir kooperativ sind, keine Fehler machen und die Sache nicht eskalieren lassen, haben wir trotz allem gute Chancen, dass alles so bleiben kann. Das hat Frau Antunes ja gerade bestätigt.«
Mir wurde plötzlich ganz kalt. Schnell ging ich wieder ins Bett.