Adoption
Das erste, das der Mensch im Leben
vorfindet,
das letzte, wonach er die Hand ausstreckt, das
kostbarste,
was er im Leben besitzt, ist die Familie.
ADOLF KOLPING
»Und du bist dir sicher, dass meine Mutter bei meiner Anhörung nicht dabei ist?«
»Ich hoffe es, Janine, ich hoffe es. Frau Antunes hat gesagt, sie tut alles in ihrer Macht Stehende, damit dir diese Situation vor Gericht erspart bleibt.«
Seit wir losgefahren waren, hatte Papa kein Wort gesagt. Deshalb hatte ich das Schweigen gebrochen, auch wenn ich eigentlich schon wusste, was er antworten würde. Es wäre schön, wenn Mama jetzt doch mit dabei wäre. Ihr wäre sicher etwas eingefallen, um uns von dem, was uns erwartete, abzulenken. Irgendetwas, worüber wir quatschen könnten, damit endlich dieses Kribbeln im Bauch aufhörte und die schwitzigen Hände wieder trocken würden. Mein Kopf war komplett leer. Und Papa war einfach kein großer Redner. Auf den konnte man in Sachen Ablenkung echt nicht zählen! Aber wir hatten es im Familienrat hin und her diskutiert. Und Papa und Kerstin hatten Mama schließlich davon überzeugt, dass es besser wäre, wenn sie nicht mit zum Gericht kam. Sonst könnte vielleicht irgendjemand sagen, sie hätte mich beeinflusst, und auf die Idee kommen, es wäre in Wirklichkeit gar nicht mein eigener Wunsch gewesen, von Mama und Papa adoptiert zu werden und mich endgültig von meiner leiblichen Mutter zu lösen. Dabei war es mein sehnlichster Wunsch! Papa hatte eine distanziertere Art als Mama und alle glaubten, es wäre besser, wenn nur er mit mir zum Gericht ging.
Mama und Papa hatten immer so viel Angst, irgendetwas falsch zu machen! Wie oft ich in den letzten Monaten Sätze wie diese gehört hatte: »Janine, wir müssen tun, was die sagen! Janine, reiß dich zusammen! Janine, sei vernünftig! Es ist gerade jetzt so wichtig, dass wir keinen Fehler machen!« Immer ging es nur darum, sich an die Regeln zu halten, niemanden zu verärgern, es allen recht zu machen. Es war mir schleierhaft, woher sie die Geduld dafür nahmen. Dabei ging es bei all dem doch eigentlich nur darum, dass meine Eltern endlich auch vor dem Gesetz meine Eltern sein durften. Es war schließlich nicht meine Idee gewesen, als Pflegekind aufzuwachsen! Und auch nicht die von Mama und Papa. Sondern die Idee von der Frau, die uns all diese Probleme eingebrockt hatte: meine leibliche Mutter.
Frau Antunes und Mama hatten gesagt, eine Adoption sei sehr kompliziert und langwierig und es könnte sein, dass es nicht klappt, wenn meine Mutter nicht zustimmt. Natürlich hatte sie nicht zugestimmt. Deshalb mussten wir heute vor Gericht zu dieser Anhörung. Anhörung hieß, dass meine Mutter und ich befragt wurden. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie dabei war, wenn ich befragt wurde.
Ich fand es so ungerecht, dass sie die Macht hatte, uns allen so viel Angst zu machen. Dass sie die Macht hatte, mein Leben zu zerstören. Das durfte einfach nicht mehr sein. Ich wollte endlich frei sein!
Der Auftritt, den ich hingelegt hatte, als Frau Antunes wegen der Geburtstagskarte bei uns war, war mittlerweile legendär. Dass ich so rumgebrüllt hatte und einfach auf mein Zimmer gerannt war, hatte natürlich ein Nachspiel gehabt. Es war zwar eigentlich erst einmal gar nichts Großes passiert, trotzdem war es ganz schön turbulent gewesen in den Wochen nach »dem Eklat«. So wurde der Tag, an dem ich einfach alles gesagt hatte, bei uns seitdem genannt. Endlose Diskussionen und Streits mit Mama und Papa sowie ständige Besuche von Frau Antunes folgten. Und viele Stunden, die ich alleine in meinem Zimmer verbracht hatte, in denen ich Musik hörte und meine Gedanken aufschrieb, in Gedichten und in meinem Tagebuch.
Frau Antunes hatte den Stein mit der Adoption irgendwann ins Rollen gebracht. Mama und sie hatten mir gesagt, dass wir es versuchen könnten mit der Adoption, wenn ich das wollte. Sie hatten auch gesagt, dass es nicht leicht werden würde, weil das Gericht sich dazu über meine Mutter hinwegsetzen musste. Trotzdem: Es bestand die Chance, dass meine Eltern mich gegen den Willen meiner Mutter adoptieren konnten, weil das »zum Wohl des Kindes« war. Ich hatte allerdings nicht das Gefühl, dass sich in all den Jahren mal irgendjemand wirklich für mein »Wohl« interessiert hatte. Niemand außer Mama und Papa. Wieso sollte das also jetzt plötzlich irgendwen interessieren? Noch dazu einen Richter, der mich gar nicht kannte?
Dass es mir bei Mama und Papa grundsätzlich gut ging, war ja wohl so was von klar! Man brauchte echt keine Psychotante, um das rauszufinden.
Papa bog in den Hohenzollernring ein und ich schaltete das Radio ein. Papa hörte eigentlich nicht gerne Radio im Auto, weil er keine Popmusik mochte, aber ich wusste, dass es ihm heute nichts ausmachen würde. Alles, was ablenkte, war gut!
Wenn ich das zu der Psychotante gesagt hätte, hätte sie mich sicher wieder mit ihrem pseudo-entspannten Halblächeln angeschaut und so was in die Richtung gesagt wie: »Es ist immer besser, sich seinen Ängsten zu stellen, Janine. Ablenken ändert nichts!« Oh Mann. Wenn ich nur an die Stunden bei ihr dachte, wurde mir übel. Wenn ich alleine hinging, war es ja meistens noch okay. Alle paar Wochen nach der Schule musste ich das machen. Um mir darüber klar zu werden, »ob ich das mit der Adoption wirklich will«, wie Mama sagte. Das war zwar komplette Zeitverschwendung, weil mir schon längst und lange klar war, dass ich das mit der Adoption wollte. Außerdem ging es in den Sitzungen gar nicht in erster Linie um mich. Was Frau Antunes natürlich nicht wissen konnte. Schon in der ersten Sitzung hatte ich es geschafft, das Gespräch immer wieder von mir abzulenken. Ich quetschte einfach die Psychotante über ihr eigenes Leben aus. Und da die gerade Probleme in ihrer Ehe hatte, füllte sie jede Menge Zeit damit, mir von ihren Problemen zu erzählen. Das fand ich natürlich super und war froh, dass ich relativ wenig über mich erzählen musste. Außerdem hatte es zur Folge, dass sie mich total nett und »reif« fand.
Immerhin waren die Sitzungen, zu denen ich alleine ging, nicht so unangenehm und nervig wie die Termine, bei denen Mama und Papa mitkommen mussten. Am schlimmsten waren die, bei denen Mama, Papa und meine Geschwister mitkamen. Zum Glück war das nur zwei Mal vorgekommen. Das waren echte Horrorveranstaltungen. So was von peinlich!
Beim ersten Mal sollten wir mit Barbiepuppen unsere »Beziehung zueinander« nachspielen. So was Bescheuertes! Ich dachte währenddessen nur dauernd: Warum tun die mir das an? Mich so lächerlich zu machen vor meiner Familie! Was sollte dieser Quatsch mit den Puppen? Ich kam mir so dämlich vor und fand das so ätzend! Als ich klargemacht hatte, dass ich auf den Mist keinen Bock hatte, fing Mama wieder an zu weinen und sagte, ich solle mich zusammenreißen: »Wir finden das jetzt auch nicht toll und machen ja auch mit!« Okay, damit hatte sie recht, aber ich verstand eben nicht, warum wir diesen Mist überhaupt machen sollten.
In der zweiten Gemeinschaftssitzung hatte sich die Psychologin etwas Neues ausgedacht. Das war aber um keinen Deut besser als die Sache mit den Barbiepuppen: Sie zeigte uns Karten, auf denen standen Begriffe wie Liebe, Geborgenheit, Geschwister. Wir sollten dann ganz schnell sagen, was wir spontan empfinden, wenn wir diese Wörter lesen. So ein Quatsch!
Auch wenn mich die Psychofrau, zumindest in den Stunden, in denen wir alleine waren, nett und erwachsen fand, war mir eins klar: Egal, wie nett die mich und meine Familie fand, die Leute vom Amt würden nicht in meinem Sinne handeln. Das würden sie auch überhaupt nicht können. Denn die Gesetze sprachen nicht für mich. Deshalb würde ich denen nie vertrauen. Noch nicht einmal Frau Antunes. Denn auch sie nahm ein Kind oder eine Jugendliche nicht wirklich ernst. Die hatten ihre Gesetze, danach handelten die. Darum hatte ich in den letzten Monaten meinen eigenen Weg gefunden: Ich würde mich ganz ruhig verhalten. Ich würde nicht mehr kämpfen und so wenig wie möglich zu all dem sagen. Aber wenn ich merkte, dass etwas passierte, das mir gegen den Strich ging, dann würde ich ausrasten, dass ihnen allen Hören und Sehen verging!
Papa blinkte. Er fuhr von der Riehler Straße ab in Richtung Reichensperger Platz, wo das Amtsgericht war.
»Wir sind gleich da. Ist alles klar bei dir?«, fragte er mich.
»Ja. Alles okay«, sagte ich und lächelte zum Beweis zu ihm rüber. Eigentlich war mir nicht nach Lächeln, aber ich wollte ihm Mut machen. Oder mir selber. Beim Anblick des Gerichtsgebäudes wurde mir nämlich richtig mulmig. Es war riesig und hatte die Form eines Halbkreises. In der Mitte gab es eine Rasenfläche, die von Blumenbeeten eingefasst war. Und von Parkplätzen. Papa stellte das Auto ab und wir stiegen aus.
»Das sieht schon imposant aus, nicht war?«, sagte Papa, als wir vor dem Eingang standen und hinaufschauten. Sechs sehr hohe Säulen bildeten die Mitte des halbkreisförmigen, alten Gebäudes und umrahmten seinen Eingang. Überall waren Engelfiguren und Blumenranken und Verzierungen angebracht. Es sah aus wie ein Schloss. Oder wie eine Festung.
Wir gingen die wenigen Stufen hinauf zum Eingang und Papa lächelte mir aufmunternd zu, als er die riesige Tür aus dunkelbraunem Holz öffnete.
»Das wird schon alles, mach dir keine Sorgen.«
Aber ich sah ihm an, dass er sich selbst Sorgen machte.
Als sich die Tür hinter uns schloss, mussten sich meine Augen kurz an das dunklere Lampenlicht gewöhnen. Vor uns war eine breite Treppe aus braunem Stein, aus der an ihrem Ende drei Treppen wurden: eine ging nach hinten, eine nach rechts und eine nach links. Sie führten zum zweiten Stock, der wie eine Galerie zum Treppenhaus offen war. Ringsum gab es verschnörkelte Geländer aus schwarzem Eisen. Darüber sah man noch ein Stockwerk. Und ganz oben gab es sogar noch eine Fensterreihe! Auch von innen war das Gebäude ganz schön groß. Überall liefen Menschen herum, viele hatten irgendwelche Mappen unter den Arm geklemmt. Einige von ihnen trugen lange schwarze Umhänge, wie Pfarrer. Meine Kehle wurde eng.
»Unser Sitzungssaal ist im ersten Stock. Versuchen wir es mal über die rechte Treppe«, sagte Papa. Ich folgte ihm zuerst die Haupttreppe hinauf. Dann nahmen wir die Treppe, die auf die rechte Seite der großen kuppelartigen Eingangshalle abzweigte.