Liebe Leserinnen, lieber Leser,

 

 

Ein Kind wird geboren. In eine Familie, die es mit Spannung erwartet. Mit einem Vater und einer Mutter, die es mit tief empfundener Liebe empfangen und bereit sind, ihre Zukunft liebevoll mit ihm zu teilen, das Kind zu begleiten und ihm Werte zu vermitteln. »Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel«, wie es bei Goethe heißt. Wurzeln im sicheren Wissen, wo unser Zuhause und unsere Herkunft liegen, Flügel, die uns in die Welt hinaustragen und unseren Horizont erweitern.

Das ist unsere Vorstellung davon, was ein Kind idealerweise auf dieser Welt erwarten sollte. Doch viele Kinder werden in ganz andere Situationen hineingeboren. So ging es auch mir.

Im September 2011 wurde die Bitte an mich herangetragen, ein Buch über meine Kindheit und Jugend zu schreiben. Ich hatte vorher in einer Fernsehsendung zum ersten Mal öffentlich über meine Vergangenheit als Pflegekind gesprochen und – für mich ganz überraschend – eine Flut an positiver Resonanz erhalten. Vielen Betroffenen machte meine Geschichte Mut. Andere erkannten sich in meinen Erzählungen wieder und waren erleichtert, dass jemand öffentlich erzählte, wie sich ein Kind fühlt, das in einer Welt ankommt, die nicht so recht weiß, wohin mit ihm. In einer Welt, die es zunächst nicht liebevoll empfängt.

In den kommenden Tagen folgten viele Gespräche mit meinem Mann und einigen engen Freunden. Schnell war mir klar, dass es mir ein großes Anliegen ist, ein Bewusstsein für Kinder zu schaffen, die wie ich keine idealen Startvoraussetzungen haben. Verständnis für sie und die Familien, in denen sie aufwachsen, zu stiften. Ihnen Mut zu machen. Trotzdem blieben Zweifel. Würden meine Erinnerungen für ein ganzes Buch ausreichen? Konnte ich den Erinnerungen meines neun- oder zehnjährigen Ichs überhaupt trauen?

An Vieles aus meiner Kindheit und Jugend kann ich mich nämlich gar nicht mehr detailliert erinnern. Vielleicht sind diese Lücken das Ergebnis eines Mechanismus, der mich vor schmerzhaften Erinnerungen schützt. Oft sind mir lediglich die Gefühle, die ich in den verschiedenen Situationen empfunden habe im Gedächtnis geblieben. Was genau passiert ist und wer was wann gesagt hat, weiß ich heute nicht mehr. Manchmal könnte ich noch nicht mal mit Sicherheit sagen, wer in welcher Situation anwesend war oder wo sich etwas abgespielt hat. Manchmal vermischen sich mehrere Begebenheiten im Rückblick zu einer einzigen.

Deshalb schlug ich dem Verlag vor, die Mosaiksteine meiner Erinnerung und das, was mir andere später aus meiner Kindheit erzählt haben, zu einer Geschichte zusammenzusetzen, die meinen Empfindungen entspricht, aber nicht den Anspruch erhebt, die alleinige Wahrheit zu sein.

Ich möchte mit diesem Buch niemanden bloßstellen. Ich habe heute ein wunderschönes Leben und eine großartige eigene Familie. Dafür bin ich sehr dankbar. Es gibt für mich keinen Grund, andere zu kritisieren oder zu verletzen. Ich hege keinen Groll, gegen niemanden.

Jeder Mensch denkt, fühlt und handelt anders. Ich lasse Sie teilhaben an einigen ganz persönlichen Gedanken und Begebenheiten aus meiner Vergangenheit.

Außer meinem eigenen Namen habe ich die Namen aller Personen in diesem Buch verändert, weil es mir sehr wichtig ist, die Privatsphäre derer zu wahren, die mir am Herzen liegen. Ebenso wichtig ist es mir, Verständnis für betroffene Kinder und Familien zu wecken und vor allem den Kindern eine Stimme zu geben. Deshalb erzähle ich meine Geschichte.

Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, mein Buch zu lesen!

 

 

Janine Kunze, im März 2013