Endlich sechzehn

We hurt the ones we love the most.

SHAKESPEARS SISTER

Wie ich einen Tag später von Silvia erfuhr, war Christian die nächsten zwei Wochen mit der Schule auf Skifreizeit in Österreich. Der hatte echt Nerven, mir so eine Kassette zu schenken und dann einfach zu verschwinden! Warum hatte er mir nicht erzählt, dass er für zwei Wochen wegfuhr?

So konnte ich ihn nicht fragen, was er mir damit eigentlich hatte sagen wollen. Okay, ganz blöd war ich auch nicht. Aber warum redete er nicht einfach mit mir, statt mir eine Kassette aufzunehmen? Wollte er sich bloß über mich lustig machen, weil er genau wusste, dass ich auf ihn stand? Oder war er wirklich in mich verknallt?

Nach zwei Tagen Grübeln hatte ich keine Lust mehr. Ich beschloss, nicht länger darüber nachzudenken. Ich ließ mich doch von ihm nicht zum Idioten machen! Es gab schon genug schwierige Themen in meinem Leben.

Und außerdem noch etwas anderes, das wie geschaffen war, mich von der ganzen Sache abzulenken: Mein sechzehnter Geburtstag nahte! Zum ersten Mal wollte ich unten im Partykeller feiern. So wie Kerstin das immer machte.

Mama und Papa waren einverstanden, wenn ich nicht mehr als zwanzig Leute einlud und kein Alkohol getrunken wurde. Ich machte eine Liste: Kerstin und Stefan natürlich, Caro und ein paar andere Mädchen aus meiner Klasse, Silvia, Steffi und die Mädels aus der Tanzgruppe, Marco, Silvias Bruder, und ein paar von seinen Freunden, mit denen wir auch an Karneval gefeiert hatten. Ich stockte. Christian Engels? Ja, klar würde ich ihn einladen, es wäre superalbern, das nicht zu tun. Aber wenn er kam, musste ich auch noch seine beiden besten Freunde, Florian und Marc, einladen, sonst war es zu auffällig und jeder würde denken, ich wollte was von ihm. Meine Liste war fertig. Ich hatte an einem Dienstag Geburtstag, deshalb beschloss ich, dass die Party am Samstag danach stattfinden sollte.

Ich hatte Christian zweimal gesehen, seit er aus Österreich zurück war. Aber keiner von uns hatte die Kassette angesprochen. Es war wie verhext! Er tat einfach so, als hätte es diese Kassette gar nicht gegeben. Ob er bereute, sie mir geschenkt zu haben? Wir unterhielten uns über die Schule, das Skifahren, die aktuellen Charts und alles Mögliche. Das Einzige, worüber wir anscheinend nicht reden konnten, war diese Kassette. Oder das, was sie bedeutete. Warum war das so schwierig? Ich zählte die Tage, bis es endlich Samstag war. Ich war so gespannt, ob er mir etwas zum Geburtstag schenken würde. Und wenn ja, was.

Es dauerte ewig, aber irgendwann war der 24. März. Mama hatte ein richtiges kaltes Buffet aufgebaut. Mit verschiedenen Salaten, Frikadellen, Chili con Carne und kleinen Knoblauchbroten. Als Erstes kamen Silvia und Marco, der heute den DJ machte. Kurz danach kamen die Mädels aus der Tanzgruppe. Sie schenkten mir die CD von Sinéad O’Connor, auf der Nothing Compares 2 U drauf war. Das Lied hatte ich mir schon lange aufgenommen und hörte es rauf und runter. Endlich hatte ich die ganze CD. Ich freute mich total! Von meinen Eltern hatte ich eine Stereoanlage bekommen und jetzt konnte ich endlich in meinem Zimmer CDs hören.

Während meine Gäste im Partykeller rumstanden, sich unterhielten oder etwas aßen oder tranken, war ich die ganze Zeit zwischen Haustür und Partykeller unterwegs. Dauernd klingelte es und neue Leute kamen. Bei jedem Klingeln kribbelte es vor Aufregung in meinem Bauch. Aber immer war es jemand anderes. Um kurz vor neun, als alle anderen schon da waren, war es endlich so weit. Ich öffnete die Haustür und davor standen Christian, Flo und Marc. Christian küsste mich zur Begrüßung auf beide Wangen. Das hatte er noch nie gemacht. Flo und Marc gaben mir die Hand, gratulierten mir und grinsten breit.

»Hey, Janine, alles Gute zum Geburtstag. Das ist von uns«, sagte Christian und gab mir ein kleines weiches Päckchen.

»Was ist denn das?«, fragte ich.

»Pack’s aus, dann siehst du es«, sagte Christian und grinste.

Doch erst mal kam ich nicht dazu. Mama kam gerade aus der Küche. Flo gab ihr die Hand und sagte brav: »Guten Abend, Frau Kunze.«

»Mama, das hier sind Christian Engels und Marc Odenthal.« Beide gaben ihr die Hand.

»Ihr seid Freunde von Florian, nehme ich an?« Mama zwang sich zu einem Lächeln.

Flos Vater war Arzt und spielte im gleichen Tennisclub wie Papa. Mama und Papa hatten es nie ausdrücklich gesagt, aber ich wusste, dass sie Flo für einen reichen Schnösel und seine Eltern für Snobs hielten. Diese ganze Lacoste-Fraktion war nicht ihr Fall.

Christian und Marc nickten. »Ja, wir kennen uns von der Schule«, sagte Christian.

Na prima! Mama wusste natürlich, dass Flo auf eine Privatschule ging. Ihrer Meinung nach schickten reiche Eltern ihre Kinder auf Privatschulen, weil sie es auf einer normalen Schule nicht schafften. Privatschulen waren für Mama und Papa Schulen, auf denen man sich sein Abitur kaufen konnte.

»Kommt, lasst uns nach unten gehen!«, sagte ich und wollte die drei in Richtung Kellertreppe bewegen.

»Zuerst das Geschenk auspacken!«, sagte Flo.

Mann, raffte der denn gar nichts? Ich verdrehte die Augen, aber jetzt blieb mir wohl nichts anderes übrig, als das Päckchen vor Mamas Augen auszupacken. Plötzlich hoffte ich, dass in dem Päckchen irgendetwas Langweiliges, Normales drin war. Was schenkten drei neunzehnjährige Jungs einer Sechzehnjährigen? Wenige Sekunden später wusste ich es. Ich hielt den Atem an: Unterwäsche! Sie hatten mir allen Ernstes einen BH und einen Slip geschenkt! Immerhin waren sie nicht rot oder lila, sondern weiß mit dünnen schwarzen Streifen und schwarzer Spitze. Ein Blick in Mamas Gesicht machte mir allerdings schlagartig klar, dass es schlimmer nicht hätte kommen können. Sie verzog keine Miene und sah gleichzeitig so sauer aus, als hätte ich ihr gerade gebeichtet, dass ich im dritten Monat schwanger sei.

Ich merkte, dass mein Gesicht brannte. Bestimmt hatte ich einen hochroten Kopf. »Toll, danke!«, presste ich hervor und versuchte ein Lächeln. »Kommt mit nach unten!«, murmelte ich und stürzte in Richtung Kellertreppe.

»Janine, kommst du dann gleich noch mal rauf? Hier sind noch ein paar Tüten Chips!«, sagte Mama. Ihr drohender Ton entging mir nicht.

»Ja, mach ich!«, rief ich ihr von der Treppe aus zu.

»Was habt ihr euch dabei gedacht, mir vor den Augen meiner Mutter Spitzenwäsche zu schenken? Seid ihr eigentlich völlig bescheuert?«, zischte ich Christian zu.

»Wieso? Was ist denn dabei? Konnte doch keiner ahnen, dass die so prüde ist«, sagte Christian beleidigt. »Gefällt dir die Wäsche etwa nicht?«

»Geht so. Eine CD wär mir lieber gewesen.«, sagte ich und drehte wieder um in Richtung Küche. Die Wäsche stopfte ich im Flur in meine Sporttasche.

»Okay, wo sind die Chips?«, fragte ich Mama, als ich die Küche betrat.

Mama schloss die Küchentür hinter mir.

»Was hast du mit diesen reichen Schönlingen zu schaffen, Janine? Und was erlauben die sich, dir Reizwäsche zu schenken? Das ist doch unmöglich!«

Ich seufzte. »Ach Mama, reg dich nicht auf. Das ist gerade so eine Mode mit der Wäsche. Silvia hat auch welche zum Geburtstag bekommen. Das hat gar nichts zu bedeuten. Jetzt verkrampf mal nicht, ich zieh das Zeug ja nicht an, das war einfach ein Witz, okay?«

»Ganz schön schlechter Witz«, sagte Mama. Sie war immer noch pampig, aber anscheinend einigermaßen beruhigt. Oder das richtige Donnerwetter würde es erst morgen geben.

»Okay, kann ich wieder runter?«

»Ja, klar, kümmere dich um deine Gäste.«

Als ich den Partykeller wieder betrat, hatte sich etwas verändert. Das Licht war aus, man sah nur noch die zuckenden bunten Lichter aus Marcos Lichtorgel, die er extra mitgebracht hatte, und es wurde getanzt! Ich hatte gedacht, es wäre viel schwieriger, die Leute zum Tanzen zu kriegen, aber Marco hatte das anscheinend im Handumdrehen hingekriegt. Ich musste grinsen, ich kam mir vor wie bei La Boum, die Fete. Und das an meinem sechzehnten Geburtstag! Ich sah mich um. Die Mädels aus dem Jazzdance, Caro und Steffi tanzten wie die Wilden, und sogar zwei von Marcos Kumpels machten mit. Marco wusste natürlich auch genau, welche Musik man spielen musste.

Christian saß mit Flo und Silvia auf der großen Ledercouch hinten in der Ecke. Da stand unsere alte Wohnzimmergarnitur als kleine Sitzecke, für alle, die gerade nicht tanzen wollten. Christian winkte mich zu sich. Anscheinend war er nicht allzu beleidigt wegen meiner mangelnden Begeisterung für sein Geschenk. Ich wollte gerade zu ihm rübergehen, da erschallten die ersten Takte von Tainted Love. Caro kreischte und zog mich auf die Tanzfläche. Ich konnte das Lied eigentlich schon nicht mehr hören. Seit wir auf Partys gingen, wurde es jedes Mal mindestens zwei Mal gespielt. Aber Caro liebte es. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen. Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern und lächelte zu Christian rüber. Dann tanzte ich mit Caro und den anderen Mädels. Gleich danach kam She Drives me Crazy, danach We Didn’t Start the Fire. Ich war schon völlig verschwitzt, als ich dachte: Nach diesem Lied gehst du rüber zu Christian. Als Billy Joel zu Ende war, hörte ich nur einen Takt und erkannte das Lied sofort. Ich schaute zur Couch rüber. Christian grinste mich an. Anscheinend hatte er sich das Lied gewünscht. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er aufgestanden war. Das war Kiss von Prince. Meine Knie wurden weich, als ich langsam Richtung Couch ging. Ich setzte mich neben ihn. Als wäre es das Normalste der Welt, legte Christian den Arm um meine Schulter. Ganz langsam näherte sich sein Gesicht. Er schaute mir ganz tief in die Augen, bis er so nah war, dass ich die Augen schloss. Dann küsste er mich. Fünf Minuten später war mir klar, dass stimmte, was in der BRAVO stand: Küssen muss man nicht üben, das kann man von alleine.

»Was hältst du davon, wenn wir das jetzt öfter machen?«, fragte Christian zwischen zwei Küssen.

Als Antwort küsste ich ihn einfach noch mal.

Irgendwann tippte mich jemand auf die Schulter. Es war Silvia, die neben Christian saß. Anscheinend wollte sie mir etwas sagen. Ich beugte mich über Christian und sie rief mir ins Ohr:

»Deine Mutter war gerade hier unten. Hat nur um die Ecke geguckt. Ich glaube, sie war … na ja … nicht gerade begeistert.«

Ach du Scheiße! Ich nickte Silvia zu und sagte Christian Bescheid. Dann schnappte ich mir eine leere Schüssel vom Buffet und ging nach oben. Besser gleich mal die Lage checken. Das würde mir jetzt sowieso keine Ruhe lassen.

Mama stand in der Küche und räumte den Geschirrspüler ein.

»Äh, Mama, kann ich noch was Salat haben?«, fragte ich.

Sie sah nicht auf und knallte die Teller geradezu in das Gitter der Spülmaschine. »Das scheint ja eine Bombenparty zu sein, da unten!«

Ich kam mir komplett bescheuert vor. Konnte sie nicht gleich sagen, dass sie stinksauer war? Was tat sie jetzt so blöd rum? Ich kam mir völlig bescheuert vor. Als sie nichts weiter sagte, drehte ich mich um und ging wieder nach unten.

Wir tanzten noch eine ganze Weile und nach zwei Liedern hatte ich Mamas Gesicht fast vergessen. Das mit dem Knutschen ließ ich trotzdem lieber sein. Mittlerweile waren fast alle auf der Tanzfläche. Auch Christian. Wir hatten einen Riesenspaß und ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Ich war so glücklich! Irgendwann spielte Marco ein langsames Lied und wir tanzten Blues. Mein ganzer Körper kribbelte.

Mitten im Lied ging plötzlich das große Deckenlicht an. Zuerst dachte ich, jemand wäre an den Lichtschalter gekommen und würde das Licht gleich wieder ausmachen. Doch stattdessen ging wenig später auch die Musik aus. Alle blieben stehen und schauten zur Tür. Da stand Mama. Mit finsterer Miene und vor der Brust verschränkten Armen.

»Die Party ist zu Ende«, sagte sie.

Ich starrte sie fassungslos an. Das war jetzt nicht ihr Ernst, oder? Ganz automatisch schaute ich auf die Uhr. Es war Punkt zwölf Uhr. Das konnte sie doch echt nicht bringen! Mich so zu blamieren vor meinen versammelten Freunden! Ich ging zu ihr und flüsterte, damit es nicht alle hörten:

»Mama, bitte! Tu das bitte nicht! Du machst mich doch total lächerlich vor allen! Das ist mein sechzehnter Geburtstag und wir sind bei uns zu Hause. Wir können die doch jetzt nicht einfach alle wegschicken.«

Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, Janine, es geht nicht anders. Das ist mein voller Ernst: Die Party ist zu Ende.«

Im Raum war es totenstill. Plötzlich sagte Flo frech:

»Frau Kunze, ich hab jetzt aber total Hunger. Können wir denn noch in Ruhe etwas essen?«

Mamas Augen sprühten zornige Funken in seine Richtung.

»Ich habe ganz viele Tupperdosen oben in der Küche. Sag mir einfach, was du haben möchtest, ich packe dir alles ein. So viel du möchtest. Aber ich möchte, dass ihr jetzt geht.«

Ich wäre am liebsten auf der Stelle im Boden versunken. Das hatte sie jetzt nicht wirklich gesagt? Konnte nicht einfach in dieser Sekunde eine Bombe auf unser Haus fallen, sodass das alles nicht mehr wichtig war? Bitte!

Aber nichts dergleichen geschah. Warum auch immer sie das tat, sie meinte es ernst. Ich hatte heute den ersten Kuss meines Lebens bekommen. Ich war so glücklich gewesen heute. Und sie machte mit einem Schlag alles kaputt. Ich war den Tränen nahe.

Christian flüsterte mir ins Ohr: »Ich seh dich am Montag an der Bahn.«

Ich nickte.

Meine Mutter begann aufzuräumen und sammelte Teller und Gläser ein. Ich brachte meine Freunde zur Tür und versuchte möglichst gute Miene zu der Sache zu machen.

»Mach dir keine Gedanken«, sagte Silvia, die genau wusste, wie es unter meiner angestrengt lächelnden Fassade aussah.

Als alle weg waren, lief ich die Treppe hoch in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und schrie in mein Kissen. Ich war so wütend, dass ich es kaum noch aushielt. Das würde ich mir nicht gefallen lassen!