Bloß ein Name
Nicht die Vollkommenen,
sondern die Unvollkommenen brauchen Liebe.
OSCAR WILDE
Ich packte meinen Malblock und mein Heft aus dem Ranzen und legte beides auf den Tisch. Es war die erste Stunde am Montagmorgen: Kunst. »Hast du die Hausaufgabe gemacht?«, fragte Steffi, meine Banknachbarin.
Klar hatte ich das. Ich nickte und schob ihr mein Heft zu.
Wir hatten zwei verschiedene Wiesenblumen möglichst genau mit Buntstiften abmalen sollen. Ich hatte mich für eine Glockenblume und ein Gänseblümchen entschieden. Kerstin hatte mir ein bisschen geholfen, aber nur bei den Umrissen, die sie ganz leicht mit Bleistift vorgemalt hatte. Sie war acht Jahre älter als ich und ziemlich gut im Malen.
Steffi nahm das in einer dunkelblauen Plastikhülle eingebundene DIN-A4-Heft. Seit ich auf dem Gymnasium war, hatten alle meine Hefte die gleiche Art von Schutzhülle: einfarbig, mit einem riffeligen Karomuster in dem Plastik. In der Mitte oben hatten sie ein kleines Fach aus durchsichtigem Plastik, in dem das Namensschild steckte: Janine Götz, Klasse 5a, stand da. Bis gestern.
»Welche Blume hast du genommen? Ich hab …«, Steffi hörte plötzlich auf zu reden. »Warum steht da Janine Schuster? Du heißt doch Janine Götz?«, sie sah von dem Namensschild auf.
Gestern hatte ich alle Namensschilder aus allen Heften herausgenommen, umgedreht und auf die Rückseite den neuen Namen geschrieben: Janine Schuster. Die beiden Jungs in der Bank vor uns, Kazim und Mathias, drehten sich neugierig um.
»Ach, das ist egal. Meine Mutter hat geheiratet und deshalb heißen wir jetzt anders«, antwortete ich schnell, machte eine grinsende Grimasse und zuckte mit den Schultern. »Mein Nachname ist mir sowieso total egal!« War ja bloß ein Name. Der gar nichts bedeutete.
»Hier gibt’s nichts umsonst und auch nichts zu sehen, ihr könnt euch wieder umdrehen!«, sagte ich lachend zu den beiden Jungs in der Bank vor uns und machte eine wegscheuchende Handbewegung. So wie Oma, wenn sie die Tauben an der Bushaltestelle wegscheuchte.
Ich drehte mich zu Steffi und sagte: »Ich hab eine Glockenblume und ein Gänseblümchen gemalt. Das Gänseblümchen war aber viel einfacher. Und du?«
Ich hatte heute keine große Lust, über diese Pflegekind-Sache zu reden. In der Schule wussten sowieso alle, dass ich ein Pflegekind war. Ich war zwar noch nicht lange auf dem Gymnasium, aber viele kannte ich ja noch von der Grundschule und die wussten, dass ich nicht wie meine Familie Kunze hieß, sondern den Namen meiner Mutter hatte. Mama hatte mir erklärt, dass das daran lag, dass ich nicht adoptiert war, sondern ein Pflegekind. Aber es war ja bloß ein Name. Zum Glück hatten es die, die ich aus der Grundschule kannte, den anderen erzählt, sodass ich selten etwas dazu gefragt wurde. Ich hasste es, wenn meine Schulfreundinnen sagten: »Oh du Arme, wie ist das denn, ein Pflegekind zu sein?«
Ich sagte dann immer: »Wieso denn ›Arme‹, seh ich etwa so aus, als ginge es mir schlecht?«, und grinste dabei. Ich war ja gar keine »Arme«, mir ging’s super! Klar, ein paar Dinge nervten manchmal, aber im Grunde war zu Hause alles genauso wie bei allen anderen. Total normal.
Steffi war zum Glück anders. Sie fand es cool, dass ich noch eine zweite Mutter hatte, und wollte immer Geschichten von ihr hören. Was sie angehabt hatte, was wir gemacht hatten, wenn ich mal am Wochenende bei ihr gewesen war. Ich hatte ihr erzählt, dass sie mir immer super Klamotten kaufte, dass wir Taxi fuhren, wann immer sie Lust dazu hatte, und chinesisch oder italienisch essen gingen. Und, dass ich Fernsehen durfte, wann ich wollte. Sogar Videos anschauen.
»Und, wie war die Hochzeit? Wie sah ihr Kleid aus?«, fragte Steffi. Die Jungs hatten sich wieder nach vorne gedreht.
»Äh, keine Ahnung, ich war ja gar nicht dabei«, antwortete ich. Meine Mutter hatte ja nur angerufen und mir erklärt, dass sich ihr und mein Name zum 1. September geändert hatten, weil sie meinen Vater geheiratet hatte. Und dass sie mich nächstes Wochenende abholen und wir alle zusammen was Tolles machen würden. Dass er mein Vater war, wussten wir jetzt seit drei Monaten, da hatte ich diesen blöden Test gemacht. Seitdem war ich zwei oder dreimal bei ihnen gewesen am Wochenende.
»Ich konnte nicht, ich war krank«, log ich für alle Fälle.
Mittlerweile hatte die Stunde angefangen. Unsere Kunstlehrerin ging langsam durch die Reihen, sah sich unsere Hausaufgaben an und blieb ab und zu stehen, um leise etwas zu erklären oder jemanden zu loben. Währenddessen hatten wir alle begonnen, das Bild einer Mohnblume abzuzeichnen, das mit einem Dia an die Wand über der Tafel geworfen wurde.
»Kommst du eigentlich auf deine Mutter? Deinen Eltern siehst du ja gar nicht ähnlich«, fragte Steffi leise. Steffi und ihre Eltern waren in der gleichen Kirchengemeinde wie wir, wir sahen uns deshalb öfter mal am Sonntag in der Messe.
»Doch, ich seh meinem Papa voll ähnlich, der hat doch auch blonde Haare und blaue Augen!«, antwortete ich. »Willst du jetzt meine Hausaufgabe sehen?«
Steffi nickte und ich blätterte in meinem Heft bis zur heutigen Hausaufgabe und deutete auf die Glockenblume. Sie nahm das Heft und sah sich meine Glockenblume und das Gänseblümchen an.
»Sieht voll super aus. Schöner als mein Bild«, sagte sie.
Ich nahm mir ihr Heft von ihrer Seite der Bank und schlug es auf. Sie hatte recht. Es hatte sich gelohnt, dass ich Kerstin um Hilfe gebeten hatte.
Die Lehrerin näherte sich und wir tauschten die Hefte zurück. Ich klappte meins zu. Janine Schuster, Klasse 5a, stand da. Götz hatte mir besser gefallen. Vor allem, weil auch Oma so hieß. Jetzt hatten wir nicht mehr den gleichen Namen.
Für Janine von Kazim stand auf dem zusammengefalteten Zettel, den Mathias zehn Minuten später an Steffi nach hinten gegeben hatte und Steffi jetzt zu mir rüberschob. Oh nein, nicht Kazim!, dachte ich nur. Steffi hatte mir letzte Woche schon erzählt, dass Kazim ihr gesagt hätte, er wäre total in mich verknallt. Ich faltete den Zettel auf.
Liebe Janine, willst du mit mir gehen? Kazim
Ich verdrehte die Augen und hoffte, dass Steffi es gesehen hatte. Nicht, dass die dachte, ich fände Kazim süß. Ich stupste sie an und hielt ihr den Zettel hin. Sie las ihn, zur Sicherheit verdrehte ich noch mal die Augen und wir mussten beide anfangen zu kichern. Kazim nervte! Echt!
Unten auf dem Zettel war noch etwas Platz. Ich überlegte. Dann nahm ich den Bleistift, mit dem ich gerade gezeichnet hatte, und schrieb: Nein, danke. Ich möchte gerade keinen Freund haben. Janine
Ich faltete den Zettel wieder zusammen und ließ ihn über Steffi und Mathias zurück zu Kazim wandern. Ich sah, wie Kazim den Zettel mit seiner Handfläche bedeckte, zu sich rüberschob und unter die Bank gleiten ließ. Er faltete ihn auf und las. Sein Nacken spannte sich an. Seine Schultern hoben sich ein bisschen. Plötzlich drehte er sich um. Er sah total wütend aus und hatte rote Flecken auf den Wangen. Völlig ohne Vorwarnung schrie er:
»Du hast doch noch nicht mal richtige Eltern, du kannst doch froh sein, wenn überhaupt einer was von dir will!«
In der Klasse war es plötzlich mucksmäuschenstill. Die Lehrerin starrte zu uns herüber. Ich wollte irgendetwas sagen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Mir fiel überhaupt nichts ein und ich fühlte mich wie gelähmt. Niemand sagte ein Wort. Ich nahm mein Heft, meinen Malblock und meine Stifte und stopfte alles so schnell ich konnte in meinen Schulranzen. Ich schnappte mir im Gehen meine Jacke von der Stuhllehne und rannte aus dem Klassenzimmer und die Treppe hinunter.
»Janine, warte!«, rief meine Kunstlehrerin hinter mir.
Ich hörte ihre Schritte. Und lief einfach weiter. Im Erdgeschoss hatte sie mich eingeholt, hielt mich an der Schulter fest und sagte außer Atem: »Komm, lass uns darüber reden!«
Ich schüttelte mit einem Ruck ihre Hand ab, drehte mich um und erwiderte: »Ich brauche hier über gar nichts zu reden! Mit solchen Idioten in der Klasse muss ich mich nicht abgeben. Ich gehe jetzt nach Hause!«
Ich ging auf die große Schultür zu.
»Du kannst doch nicht einfach nach Hause gehen!«, rief sie mir hinterher, aber das war mir komplett egal. Ich ging zum Fahrradständer, schloss mein Fahrrad auf und fuhr los.
Mama machte die Haustür auf. Sie hatte ein Geschirrtuch in der Hand.
»Was ist denn mit dir los? Ist irgendwas passiert?«, fragte sie.
Ich war so wütend! Was fiel diesem Asi eigentlich ein? Ich würde nie mehr ein Wort mit ihm reden.
Mama schob mich in die Küche, wir setzten uns an den Tisch und ich erzählte ihr, was passiert war. Die Sache, dass ich Steffi erzählt hatte, ich wäre bei der Hochzeit meiner Mutter krank gewesen, ließ ich vorsichtshalber weg.
Als ich mich etwas beruhigt und Mama alles erzählt hatte, fragte sie: »Sag mal, hat in der Schule schon öfter jemand so etwas Gemeines zu dir gesagt, seit du auf dem Gymnasium bist?«
»Nein«, antwortete ich. Allein der Gedanke machte mich schon wieder total wütend. »Aber die wissen ja auch alle, dass ich ein Pflegekind bin, und das ist ja auch nichts Schlimmes.« Zum Glück stimmte das: Normalerweise war das allen wurscht. Es hatte vorher noch nie jemand gesagt, dass ich keine richtigen Eltern hatte.
»Dann ist ja gut. Wenn doch mal jemand etwas sagt, würde ich sofort zu den Eltern des Kindes gehen und mit ihnen reden. Du musst dir da nichts gefallen lassen, hörst du! Es ist wirklich nichts Schlimmes, ein Pflegekind zu sein. Das ist etwas ganz Normales und es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen. Papa und ich sind genauso richtige Eltern wie die von allen anderen.«
Ich überlegte. »Aber wenn es so normal ist, warum bin ich dann das einzige Kind, das nicht bei seinen leiblichen Eltern wohnt, sondern bei anderen Eltern? In der Gemeinde, in der Schule – nirgendwo gibt es noch ein Kind wie mich. Alle anderen haben normale Familien. Manchmal sind die Eltern geschieden, wie die Eltern von Silvia, aber so wie bei uns ist es sonst bei niemandem!«
»Ja, das stimmt, aber …«
»Warum sagst du dann, das ist normal?« Ich war eigentlich gar nicht sauer auf Mama, aber ich schrie sie trotzdem an.
»Nina, beruhige dich. Es gibt viele andere Pflegekinder, und nur, weil du kein anderes Kind in dieser Situation kennst, heißt das noch lange nicht, dass du nicht normal bist«, sagte Mama entschieden. Ich wusste, dass sie recht hatte. Papa und sie gingen regelmäßig zu Treffen mit anderen Pflegeeltern. Also gab es auch andere Pflegekinder.
»Aber jetzt mal zu etwas ganz anderem. Ist dir eigentlich klar, dass du heute sehr ungezogen warst? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, einfach so aus der Schule wegzurennen?« Mama sah mich streng an.
»Ich hab dir doch erzählt, was Kazim zu mir gesagt hat«, sagte ich.
»Das ist noch lange kein Grund, einfach so wegzulaufen. Man kann sich auch mit Worten wehren. Weglaufen ist meistens die schlechteste Lösung. Und in diesem Fall sogar verboten. Du kannst nicht einfach so aus der Schule wegrennen, hast du mich verstanden?« Sie war jetzt sehr ernst.
Ich nickte genauso ernst.
»Weißt du, Janine, wir haben ja schon öfter darüber geredet: Es ist sehr wichtig, dass das alles gut läuft und du nichts Verbotenes tust. Das Jugendamt kann uns jederzeit Probleme machen und umso braver du bist, umso sicherer ist alles. Es ist also ganz wichtig, dass du nachdenkst, bevor du etwas machst, hörst du? Versuch, dich zu kontrollieren und nachzudenken, bevor du deinen Gefühlen nachgibst und irgendetwas Unüberlegtes tust, ja?«
Ich nickte wieder.
»Hast du mich verstanden?«
»Ja, Mama, ich weiß schon. Aber manchmal ist das echt schwierig«, sagte ich leise und malte mit meinem großen Zeh einen Kreis auf den Küchenfußboden.
»Ich weiß, Schatz. Ich weiß. Und ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun, um es dir leichter zu machen«, sagte sie und nahm mich in den Arm.
Am nächsten Tag in der Schule wurde ich zum Direktor gerufen. Wie mit Mama besprochen, entschuldigte ich mich und versprach, nie wieder einfach so aus der Schule wegzulaufen. Ich sagte, es täte mir sehr leid und dass ich jetzt wüsste, dass das verboten ist. Der Direktor lächelte und sagte:
»Weißt du, Janine, wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich sogar verstehen, dass du weggelaufen bist. Es war sehr dumm, was Kazim da gesagt hat. Aber es wird dir noch öfter in deinem Leben passieren, dass Leute dumme Sachen zu dir sagen. Da wirst du auch nicht immer weglaufen können, ohne dass es Konsequenzen hat. Was willst du denn eigentlich mal werden?«
»Ärztin«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. Ärztin war mein Lieblingsberuf.
»Mhm«, er überlegte. »Na ja, dann stell dir vor, ein Patient hat Husten. Du verschreibst ihm einen Hustensaft, aber nach drei Tagen kommt der Patient wieder und hat immer noch Husten. Vielleicht, weil er keine Lust hatte, sich ins Bett zu legen, wie du ihm geraten hast. Du kannst den Patienten sowieso nicht leiden und dann sagt der auch noch: ›Das war die falsche Medizin, die Sie mir da verschrieben haben! Die wirkt ja gar nicht! Was sind Sie denn für eine Ärztin?‹ Was würdest du denn dann machen?«
Das war nicht schwer: »Na, ich würde ihm das noch mal erklären. So lange, bis er es verstanden hat. Dass er sich auch ins Bett legen muss und Orangensaft und Tee trinken und warme Socken anziehen soll.«
»Genau! Du würdest erst mal mit ihm reden. Das hättest du mit Kazim auch machen können. Reden bringt einen meistens am weitesten. Egal, wer schuld an einem Streit ist.« Der Direktor lächelte.
Ich nickte. Es hatte jetzt keinen Sinn, zu erklären, dass ich ja gar nicht darüber nachgedacht hatte und dass mir gar keine Wahl geblieben war, als ganz schnell wegzulaufen.
Der Direktor sagte noch, Kazim hätte das mit meinen Eltern nicht so gemeint. Er hätte ihm versprochen, sich heute bei mir zu entschuldigen. Es täte ihm wirklich leid, das hätte er ihm versichert. Dann schickte er mich zurück in meine Klasse. Wenigstens hatte ich keine Strafe bekommen.
Als ich zu unserem Klassenzimmer ging, tippte mir von hinten jemand auf die Schulter.
»Hallo, Janine«, sagte Kazim schüchtern. »Kann ich kurz mit dir reden?«
Ich blieb stehen, schaute ihn voller Verachtung an und sagte kein Wort. Blöder Idiot!
»Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe! Entschuldigung!« Kazim war ganz rot angelaufen. Er streckte mir seine Hand entgegen. Sie zitterte ein bisschen.
Ich sah ihm in die Augen.
»Komm schon, Janine, das war echt nicht so gemeint. Tut mir echt leid.« Seine Hand zitterte immer noch vor mir.
Ich ignorierte sie und sagte eiskalt: »Ich möchte mich jetzt nicht mit dir vertragen. Es ist mir total egal, ob es dir leid tut. Es war völlig daneben, was du gesagt hast. Lass mich in Ruhe!«
Ich drehte mich um und ging zu unserem Klassenzimmer. Mit Kazim war ich fertig. Aber immerhin hatte ich mit ihm geredet, da konnte sich jetzt keiner beschweren.