Christian
Der Erfinder der Notlüge liebte den Frieden
mehr
als die Wahrheit.
JAMES JOYCE
Die nächsten zwei Wochen waren die Hölle. Ich versuchte, möglichst alles richtig zu machen. Immer öfter packte ich die Klamotten, die ich anziehen wollte, in meine Schultasche und zog zum Frühstück Sachen an, über die sich Mama nicht aufregen würde. Vor der ersten Stunde zog ich mich dann auf dem Schulklo kurz um und schminkte mich.
Ich sagte fast alle Verabredungen ab, ging nur noch zum Sport, zum Tanzen und zum Chor und blieb ansonsten so viel wie möglich zu Hause. Dazu musste ich mich richtig zwingen, denn dort war die Stimmung immer noch sehr angespannt. Stefan war mehr und mehr genervt, dass es immer nur um mich und meine Probleme ging. Wir redeten kaum noch miteinander. Kerstin machte sich Sorgen um Mama und war deshalb auch nicht gut auf mich zu sprechen. Papa arbeitete viel und war wenig zu Hause. Ich versuchte mich klein zu machen, keine neuen Probleme zu verursachen und verzog mich so oft es ging in mein Zimmer.
Im Sommer würde ich Mittlere Reife machen, was danach kam, war noch völlig unklar. Zumindest bis zum Beginn meiner Krankenpflege-Ausbildung, die ich aber erst mit siebzehn beginnen konnte.
Eine Woche nach dem schlimmen Gespräch mit Mama und der Diskussion über das Schwarzfahren kam Mama nachmittags in mein Zimmer. Sie sah ein bisschen entspannter aus als noch vor einer Woche.
Ich saß am Schreibtisch und machte Hausaufgaben. Das kam nicht oft vor, aber ich war froh, dass Mama zur Abwechslung mal im richtigen Moment reingekommen war.
Sie lächelte, als sie mich am Schreibtisch sah. »Janine, du lernst ja! Wie geht’s denn in der Schule? So schlecht waren deine Noten in letzter Zeit ja gar nicht.«
»Nee, na ja, geht so. Ich bin froh, wenn es vorbei ist«, sagte ich vorsichtig. Was hatte sie vor?
Sie setzte sich auf mein Bett und strich abwesend die Bettdecke glatt. »Ich wollte etwas mit dir besprechen. Du hast noch nicht entschieden, wie du das Jahr bis zum Beginn der Ausbildung überbrücken willst. Langsam nahen die Anmeldefristen für die verschiedenen Schulen. Wir müssen uns entscheiden.«
Oh nein! Nicht wieder dieses Thema. Ich wollte am liebsten einfach ein Jahr jobben. Auf Schule hatte ich auf jeden Fall überhaupt keinen Bock mehr.
»Ich hab mich da mal erkundigt. Am Sachsenring gibt es das Erzbischöfliche Berufskolleg. Dazu gehört eine Fachoberschule für soziale Berufe. Das würde doch passen, oder?«
»Die Hauswirtschaftsschule?«, fragte ich entgeistert. Ein Mädchen aus der Gemeinde ging da hin. Aber was sollte ich denn mit Kochen, Putzen und lauter so einem Käse?
»Na ja, wenn man nur ein Jahr dabeibleibt, ist es nur eine Hauswirtschaftsschule. Aber in zwei Jahren kann man sogar sein Fachabitur …«
»Wie oft soll ich es eigentlich noch sagen! Ich werde kein Abi machen! Ich will das nicht und ich brauch das nicht! Und ich will auch nicht mehr darüber reden. Warum wollt ihr mich alle dazu zwingen, Abi zu machen?« Warum kam sie immer wieder damit an? Das Thema Abi war für mich gegessen. Und das würde es auch bleiben.
Mama nickte. »Ja, ja, okay. Ist ja schon gut. Niemand will dich zwingen, Abitur zu machen. Aber du bist noch jung und vielleicht siehst du das in einem Jahr ja anders. Die Hauswirtschaftsschule wäre auf jeden Fall eine gute Möglichkeit, das Jahr zu überbrücken. So oder so.«
»Ich hab aber keine Lust mehr auf Schule, Mama. Ich such mir einen Job für das Jahr.« Es fiel mir schwer, einigermaßen ruhig zu bleiben.
»Janine, diese Schule war doch nur ein Vorschlag. Jobben kommt überhaupt nicht in Frage und das weißt du auch. Das kann ich nicht verantworten, wir haben oft genug darüber gesprochen. Du kannst gerne auf eine andere Schule gehen im nächsten Jahr, aber arbeiten und rumhängen wirst du nicht«, Mamas Ton war bestimmt und duldete keinen Widerspruch. »Die Anmeldefrist für die Hauswirtschaftsschule ist in wenigen Wochen zu Ende. Wenn du bis nächste Woche keinen anderen vernünftigen Vorschlag hast, melden wir dich da an.«
Damit stand sie auf und ging aus dem Zimmer.
Natürlich fiel mir keine Alternative zur Hauswirtschaftsschule ein. Es ging mir total gegen den Strich, aber mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als der Anmeldung für nächstes Jahr zuzustimmen. Ich hatte mittlerweile auch einfach Angst, dass es Mama irgendwann mit mir reichte und sie mich dafür verantwortlich machte, dass der Haussegen in der kompletten Familie so oft schief hing. Insgeheim schwor ich mir, dass Mamas Rechnung, dass ich im Laufe des nächsten Jahres doch wieder Spaß an der Schule finden würde und noch Abi machen würde, nicht aufgehen würde.
Im Laufe des Sommers war ich ein paarmal bei Christian zu Hause gewesen. Zweimal waren wir sogar zu mir gegangen. Ich dachte, wenn Mama und Papa ihn erst ein bisschen besser kennen würden, würden sie ihn vielleicht akzeptieren. Er war Mama gegenüber extrem höflich, aber ich merkte sofort, dass das nichts werden würde. Für Mama war er einfach ein Schönling, dem man nicht trauen konnte. Sie sagte zwar nichts mehr, aber sie lehnte ihn ab, das merkte ich deutlich.
Viel Zeit, die wir zusammen verbringen konnten, hatten wir sowieso nicht. Christian machte dieses Jahr Abitur und ich Mittlere Reife. Er musste viel lernen und tat es auch. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern beschränkten sich meine Aktivitäten auf meine Sportgruppen und Verabredungen mit meinen Freunden. Mit der Schule hatte ich abgeschlossen und das würde sich auch nach den Sommerferien nicht ändern. Für die Hauswirtschaftsschule würde ich mir definitiv kein Bein ausreißen.
Ich mochte Christian sehr gerne und bewunderte ihn, weil er so erwachsen und cool war. Trotzdem kamen mir manchmal Zweifel, ob wir wirklich zueinander passten. Außerdem wusste ich nach wie vor nicht, ob ich ihm vertrauen konnte. Hatte Mama vielleicht doch ein bisschen recht mit ihren Vorbehalten? An den Wochenenden ging er immer aus. Da ich nach wie vor um zwölf zu Hause sein musste, konnte ich nur selten mitkommen. Ich hatte keine Ahnung, was er trieb, wenn ich nicht dabei war, und mit wem er unterwegs war. Aber wenn ich seine blauen Augen sah, waren alle diese Gedanken wie weggewischt.
Trotz meines geringen Engagements schaffte ich die Mittlere Reife ohne Probleme. Anfang August begann die Hauswirtschaftsschule, die ich gähnend langweilig fand. Wir lernten kochen, putzen und bügeln, hatten aber auch jede Menge normale Fächer wie Bio, Mathe, Chemie und so weiter. Christian hatte sein Abi geschafft und war vor einer Woche aus dem Urlaub zurückgekommen. Wir hatten uns seitdem zwei Mal gesehen und er kannte nur ein Thema: Wann ich endlich mal bei ihm übernachten würde. Zuerst hatte ich gesagt: »Nicht, bevor ich achtzehn bin.« Seitdem nannte er mich nur noch »kleine Nonne«. Das fand ich nicht besonders schmeichelhaft. Aber ich wusste, ich brauchte Mama gar nicht erst zu fragen. Sie würde mir niemals erlauben, bei einem Jungen zu übernachten. Ganz egal, was ich ihr versprach oder was meine Freundinnen durften. Bei mir war es immer »etwas anderes«.
Mitte August machte Christians Freund Marc eine Party. Und mir kam eine Idee. Am Mittwoch bevor die Party steigen würde, beschloss ich, mit Mama zu reden:
»Am Samstag ist doch die Party bei Marc Odenthal«, begann ich. Ich hatte mich den ganzen Sommer extrem zusammengerissen und war wenig weg gewesen. Deshalb hatte sie mir die Party diesmal ohne große Diskussionen erlaubt.
»Ja, ja, ich weiß. Wir hatten ja schon darüber geredet. Bis um zwölf kannst du bleiben.«
»Könnte ich nicht bei Silvia übernachten am Samstag?«
»Wieso das denn? Silvia wohnt doch nur ein paar Straßen entfernt, das ist doch auch nicht näher bei den Odenthals als wir.«
»Ja, aber wenn ich bei ihr übernachte, muss ich nicht mehr mitten in der Nacht alleine mit dem Fahrrad durch die Gegend fahren.«
»Das macht dir doch sonst auch nichts aus. Im Gegenteil, es kann dir normalerweise ja gar nicht spät genug sein zum Fahrradfahren!«
»Ach bitte, Mama. Ich hab so lange nicht mehr bei Silvia übernachtet! Ihre Mutter ist ja da, wir sind auch auf jeden Fall um zwölf zu Hause, versprochen.«
Mama sah mich zweifelnd an. »Das muss ich mir erst noch überlegen.«
Damit war die Diskussion für sie anscheinend erst mal erledigt. Sie ließ mich alleine in der Küche sitzen und sagte, sie würde jetzt einkaufen fahren.
Nach dem Abendessen versuchte ich mein Glück erneut. Manchmal musste man bei Mama einfach hartnäckig bleiben. Und siehe da: Diesmal hatte diese Taktik tatsächlich Erfolg. Nach viel Hin und Her war Mama einverstanden. Aber nur, wenn ich ihr hoch und heilig versprach, dass wir um zwölf zu Hause bei Silvia sein würden. Ich fiel ihr um den Hals und bedankte mich.
Dabei kam ich mir ein bisschen schlecht vor. Denn ich hatte nicht wirklich vor, bei Silvia zu übernachten. Ich schob das Gefühl weg. Ich war sechzehn! Und ich hatte so etwas Ähnliches wie einen Freund. Was sollte ich denn tun? Wenn Mama mich dazu zwang, sie zu belügen, war es nicht meine Schuld, fand ich. Außerdem wäre es ja nur das eine Mal. Und sie würde es nie erfahren. Niemand würde es erfahren. Niemand außer Silvia und Christian natürlich. Silvias Mutter kannte Mama und Papa zwar, aber sie liefen sich so selten über den Weg, dass ich mir ziemlich sicher war, dass mein Täuschungsmanöver nicht auffliegen würde.
Ich traf Christian auf der Party. Wir hatten ausgemacht, dass wir getrennt voneinander kommen und gehen würden. Ich war total nervös. Christian wusste zwar, dass er sich keine Hoffnungen zu machen brauchte: Ich würde bei ihm übernachten, aber mehr auch nicht. Das hatte ich vorher völlig klargestellt. Trotzdem war ich nervös. Ich mochte Christian sehr gern, aber ich war mir nicht sicher, was ich eigentlich von ihm wollte. Würde ich es herausfinden, wenn ich endlich einmal ungestört genügend Zeit mit ihm verbringen konnte? Ich hoffte es.
Um halb zwölf verabschiedete ich mich von Silvia. Da ich immer früh gehen musste, fiel niemandem etwas auf. Silvia grinste: »Na dann, viel Spaß mit Mister Gigolo! Pass auf dich auf.«
»Keine Sorge«, sagte ich knapp. Silvia war kein großer Fan von Christian. Sie glaubte, dass er die Situation bestimmt ausnützen würde, und fand mich naiv.
Eine Viertelstunde später kam Christian zu der Straßenecke, an der wir uns verabredet hatten. Wir fuhren die fünf Minuten bis zu ihm nebeneinander. Mein Fahrrad stellten wir in eine der beiden Garagen, die zu dem Haus seiner Eltern gehörten. Sie waren im Urlaub, hätten aber auch sonst sicher nichts von meinem Besuch mitbekommen, weil Christian einen eigenen Eingang hatte. Er wohnte im ausgebauten Dachgeschoss in einer kleinen separaten Wohnung.
Als ich hinter ihm die Treppe nach oben ging, bekam ich weiche Knie. Würde er irgendetwas tun, was ich nicht wollte? War ich wirklich so naiv, wie Silvia dachte?
»Alles in Ordnung?«, fragte Christian, als wir oben angekommen waren.
Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln. Er nahm mich in den Arm und küsste mich. Seine Wohnung war eigentlich nur ein einziger riesiger Raum. Auf der einen Seite lag eine große Matratze als Bett auf dem Boden, auf der anderen Seite gab es eine kleine Sofaecke mit Stereoanlage und Fernseher. Dort setzten wir uns. Er machte Musik an, mir zuliebe Whitney Houston. Zur Feier des Tages wollte er eine Flasche Sekt aufmachen, aber ich lehnte dankend ab. Alkohol war einfach überhaupt nicht mein Fall.
Er setzte sich neben mich und wir küssten uns noch einmal lange.
»Du bist etwas ganz Besonderes für mich, Janine, weißt du das?«
Ich lächelte. Was sollte ich darauf sagen?
»Du glaubst mir nicht, stimmt’s?« Jetzt lächelte er auch. Seine blauen Augen strahlten.
»Aber es ist so. Bei dir fühle ich mich immer wie ein kleiner Junge. Du bringst mich ganz durcheinander.«
Während er das sagte, schob er seine Hand unter mein T-Shirt und strich über meinen Rücken.
»Ich vertraue dir, dass du dich an das hältst, was wir ausgemacht haben«, flüsterte ich in sein Ohr.
Er hielt in der Bewegung inne, fasste mich an den Schultern und sah mir tief in die Augen.
»Das kannst du auch. Es passiert nichts, was du nicht willst. Das verspreche ich dir.«
So war es dann auch. Wir redeten viel. Wenn uns nichts mehr einfiel, knutschten wir, bis uns wieder etwas einfiel, was wir uns unbedingt erzählen mussten. Christian spielte mir seine Lieblingslieder vor und zeigte mir alle möglichen Fotos, die er in einer großen Holzkiste aufbewahrte. Plötzlich war er gar kein Mister Gigolo mehr und ich merkte, wie gern ich ihn hatte, wenn er so offen und normal war wie jetzt.
Irgendwann schliefen wir sogar ein bisschen. Trotzdem war ich fast gar nicht müde, als ich am nächsten Morgen um halb acht aufwachte. Ich hatte mit Mama ausgemacht, dass ich mit dem Fahrrad direkt zum Gottesdienst kommen würde. Die Sonntagsmesse ausfallen zu lassen, kam bei ihr nicht in die Tüte. Ich hatte gar nicht erst versucht, mit ihr zu diskutieren.
Ich putzte mir die Zähne, kämmte mir die Haare und trank nebenbei von dem Tee, den mir Christian hingestellt hatte. Dann verabschiedeten wir uns mit einem langen Kuss und ich stieg auf mein Fahrrad.
Hatte ich zu lange getrödelt? Waren Mama und Papa spät dran? Im Nachhinein war es egal, wo der Fehler lag. Ein dummer Zufall brachte den ganzen Plan zum Einsturz. Als ich in die Straße unserer Kirche einbog, kam mir ein silberner Passat entgegen. Mir stockte der Atem und das letzte Fünkchen Hoffnung verglomm, als ich Papas Gesicht hinter dem Steuer erkannte. Mama hatte mich schon gesehen. In ihrem Gesicht sah ich die entscheidende Frage: Warum kommst du von rechts und nicht von links, von wo du kommen müsstest, wenn du bei Silvia gewesen wärst?
Mama genügten nur wenige Minuten, bis sie die Antwort selbst wusste. Als wir an der Kirche angekommen waren, fragte sie:
»Wohnt Silvia jetzt in der gleichen Siedlung wie Christian Engels?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war mir so peinlich, dass ich kein Wort herausbrachte. Ich konnte sie noch nicht mal ansehen.
»Wenn ich dir nicht vertrauen kann, dann …«, begann sie.
Plötzlich wurde ich wütend. »Du vertraust mir doch sowieso nicht. Ganz egal, wie brav ich mich an die Regeln halte und was ich tue. Du wirst mir nie vertrauen. Egal, um was ich dich bitte, ich darf es nicht!«, sagte ich.
Ich war so aufgeregt, dass ich lauter gesprochen hatte, als ich wollte. Ein paar von den anderen Kirchgängern, die sich vor der Kirche unterhielten, schauten zu uns herüber.
»Wir reden später weiter, lass uns reingehen«, sagte Mama.
Als wir wieder zu Hause waren, kochte Mama Tee und wir setzten uns an den Küchentisch. Sie sah sehr besorgt aus, aber gleichzeitig auch sehr sauer und erschöpft.
»Warum hast du mich angelogen?«, fragte sie.
Ich seufzte. »Mama, ich hab Scheiß gebaut. Ich hab dich angelogen und das tut mir wirklich leid. Aber hätte ich dich gefragt, ob ich bei Christian schlafen kann, hättest du mich im Leben nicht gehen lassen. Wahrscheinlich könnte ich noch fünfundzwanzig werden! Solange ich bei dir wohne, würdest du mir das nicht erlauben.«
»Janine, du bist nicht fünfundzwanzig, sondern sechzehn!«
Ich nickte. Da hatte sie natürlich recht.
»Ja, ich weiß. Wenn es dich beruhigt, wir haben überhaupt nichts gemacht. Wir haben geredet und Musik gehört, sonst nichts.«
»Ja, das wäre ja auch noch schöner! So weit kommt’s noch!«, rief sie.
Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Es war falsch, dass ich sie angelogen hatte, das sah ich ein. Aber es war auch falsch, dass sie mir nicht vertraute. Noch nie vertraut hatte. Obwohl ich nie irgendetwas verbrochen hatte. Als ob ich von Anfang an das Problemkind gewesen war, weil ich nicht war wie ihre anderen Kinder.
Wir schwiegen eine Weile, dann sagte sie: »Bitte tu mir das nicht an, dass du irgendwann schwanger nach Hause kommst.«
Wie konnte sie so was von mir denken? Ich merkte, dass meine Wangen brannten. Ich schrie:
»Ich hab dir doch gerade gesagt, dass wir nichts gemacht haben. Nichts! Verstehst du? Wie soll ich denn davon schwanger werden?« Es tat weh, dass sie mir so etwas zutraute. Ich lief aus der Küche und knallte die Tür zu. Was hatte ich hier eigentlich noch verloren?
Als ich in meinem Zimmer war, hatte ich das Gefühl, dass gerade etwas endgültig zwischen Mama und mir zerbrochen war. Wie konnte sie denken, dass ich plötzlich schwanger nach Hause kommen würde? Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn ich so schnell wie möglich auszog. Etwas Positives schien hier sowieso keiner mehr von mir zu erwarten. Wahrscheinlich würde ich nachher für das Unglück der ganzen Familie verantwortlich gemacht. Und ich selbst würde meinen Weg auch nie finden, wenn ich weiterhin so kurz gehalten wurde.
Wenige Tage später rief meine leibliche Mutter an und fragte, ob wir essen gehen wollten. Seit dem Wochenende nach meinem Geburtstag Ende März hatten wir uns nicht mehr gesehen und ich hatte kaum an sie gedacht. Zu Hause war nach wie vor schlechte Stimmung. Ich sagte zu. Schon allein, damit es nicht noch mehr Probleme gab. Obwohl Mama Angst davor hatte, dass es mit meiner Mutter wieder Streit gab, hatte ich das Gefühl, dass ich sie mit dem Treffen auch irgendwie verletzen konnte. Außerdem war das Treffen ein praktischer Vorwand, um einen Nachmittag bei Christian zu verbringen. Ich machte mit ihr aus, dass sie mich am späten Nachmittag dort abholen würde. Zu Mama sagte ich, dass ich gleich nach der Schule zu ihr ging. So hatte ich über zwei Stunden mit Christian. Was hatte es für einen Sinn, immer alles richtig zu machen, wenn mir Mama doch nicht vertraute?
Natürlich wollte Christian meine Mutter kennenlernen. Ich hatte nichts dagegen, eher im Gegenteil. Bisher hatten alle meine Mutter cool gefunden. Sie sah gut aus, war jung und locker – wie sollte man sie auch nicht cool finden? Zumindest von außen betrachtet. Sie klingelte um halb sechs, etwas später als wir eigentlich ausgemacht hatten, aber das war mir diesmal egal. Christian machte ihr die Tür auf und wir setzten uns in seine Sofaecke.
Sie sah sich um. »Tolles Zimmer, Christian!« Dann deutete sie auf das große Michael-Jackson-Tourplakat, das an der Dachschräge hing, und fragte: »Warst du etwa dort? Das war die Bad-Tour, richtig?«
»Ja, das war gigantisch! Das Konzert war im Müngersdorfer Stadion, das bis auf den letzten Platz ausverkauft war. Er ist einfach der beste Musiker, den ich kenne.« Bei Michael Jackson kam Christian immer richtig ins Schwärmen.
»Ja, es war ein tolles Konzert!«
»Waren Sie denn auch da?«, fragte Christian verwundert.
»Ja, mit meinem Mann und einigen Freunden. Es war wirklich super!«
Ich konnte mich gar nicht erinnern, dass meine Mutter auf einem Michael-Jackson-Konzert gewesen war. Auf dem Tourplakat stand, dass es im Juli 1988 gewesen war. Das war natürlich mitten während des ganzen Adoptions-Ärgers gewesen. Kein Wunder, dass ich davon nichts wusste.
Christian und meine Mutter unterhielten sich weiter über Michael Jackson und entdeckten außerdem ihre gemeinsame Leidenschaft für Prince. Ich mochte beide Sänger auch ganz gerne, aber meine Mutter überraschte mich mit ihrem Detailwissen. Christians Augen leuchteten. Er spielte ihr die B-Seite einer Michael-Jackson-Single vor, die sie anscheinend noch nicht kannte. Sie wippte im Takt dazu und schnippte leicht mit den Fingern. Die beiden verstanden sich auf Anhieb, das war nicht zu übersehen. Als das Lied vorbei war, erzählte Christian ihr, dass er nach dem Zivildienst BWL studieren wollte. Karriere zu machen, war ihm unheimlich wichtig. Ich hatte das Gefühl, dass die beiden mich völlig vergessen hatten.
»Wollen wir nicht mal aufbrechen?«, fragte ich irgendwann.
»Ja, wenn du dich von deinem Christian schon trennen willst! Mir fällt das wirklich schwer!«, sagte sie und warf lachend ihre Haare nach hinten.
Wir standen auf und verabschiedeten uns.
»Das nächste Mal kommst du mit zum Essen, Christian! Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen!«, sagte meine Mutter zum Abschied.
Christian gab mir einen Kuss auf die Wange und gab meiner Mutter die Hand.
»Sehr gerne! Es war ein Vergnügen, Sie endlich persönlich zu treffen.«
Das klang ja fast so, als hätte ich dauernd von ihr erzählt! Das hatte ich bestimmt nicht.
Beim Essen hörte meine Mutter gar nicht mehr auf, von Christian zu schwärmen. »Diese blauen Augen, Janine! Und so sportlich, der Junge! Der ist ja richtig gut gebaut! Das war ein Glücksgriff, den würde ich mir warmhalten.« Sie zwinkerte mir zu.
Ihre Zweideutigkeiten waren mir peinlich. Je mehr sie Christian lobte, umso stärker begann ich zu zweifeln. Ich musste an Helmut denken und an andere Freunde meiner Mutter, die ich früher als Kind mal gesehen hatte. War Christian so einer? Konnte er für mich der Richtige sein, wenn meine Mutter ihn so toll fand? Hatte Mama doch recht, wenn sie ihn als »Schönling« bezeichnete?
Wenige Tage nach dem Treffen mit meiner Mutter machte ich mit Christian Schluss.