Kiss

Wo Liebe ist, da ist Leben.

MAHATMA GANDHI

Zwei Wochen nach Karneval passierte es: Ich stieg aus der Bahn und wer lehnte am Zaun direkt neben der Ampel, an der ich auf meinem Nachhauseweg vorbei musste? Christian Engels! Der Bus seiner Schule, einer privaten Jungenschule, hielt an der Bahnstation, an der ich aussteigen musste. Ich wusste, dass Christian eigentlich erst zwei Haltestellen später aussteigen musste, aber jetzt war er hier und begrüßte mich: »Hallo, Janine!«

Er begleitete mich nach Hause. Fast bis nach Hause, denn Mama wäre sicher nicht begeistert gewesen, wenn sie mich mit einem drei Jahre älteren Jungen gesehen hätte. Er erzählte mir, dass er am Wochenende in irgendwelchen Diskos, deren Namen ich noch nie gehört hatte, tanzen gewesen war. Er stand auf schwarze Musik, Michael Jackson, Prince und solche Sachen. Ich musste mir mittlerweile eingestehen, dass ich ihn wirklich cool fand.

Trotzdem konnte ich nicht vergessen, was Silvia mir gesagt hatte: Nachdem er mich im Herbst angequatscht hatte, war er mit zwei anderen Mädchen gegangen. Ich war nicht die Einzige, die er um den Finger wickelte. Es gab noch jede Menge andere, da brauchte ich mir nichts vorzumachen. Und mit denen knutschte er bestimmt sogar. Oder machte sonst was. Deshalb ließ ich mir nicht anmerken, dass ich ihn cool fand.

Als wir an der Straßenecke vor unserem Haus angekommen waren, sagte ich, dass es besser wäre, wenn er jetzt nach Hause ging.

Er grinste und sagte zum Abschied: »Bis bald, Eisprinzessin!«

Ich musste auch grinsen. Da war meine Botschaft wohl angekommen. Er wusste, dass er mich nicht so schnell rumkriegen würde.

Kerstin hatte mittlerweile ein Auto: einen grasgrünen Fiat 500. Ich fand den ein bisschen peinlich, aber es war toll, dass wir damit jetzt unabhängig von meinen Eltern mobil waren. Wenn Anne da war, machten wir manchmal zu dritt oder zu viert Tagesausflüge, nur wir Geschwister, ohne die Eltern. Wir besuchten die Verwandten in Wuppertal oder fuhren ins Freilichtmuseum Kommern. Mama gab uns Geld mit und wir gingen mittags essen. Manchmal war es gar nicht so schlecht, zwei ältere Schwestern zu haben.

Dummerweise war auch Papa ein großer Fan des grünen Fiat 500. Weil er wusste, dass mir das peinlich war, holte er mich, wann immer ihn Kerstin nicht brauchte, damit vom Tanztraining ab. Ich dachte mir jedes Mal: Das kann doch nicht wahr sein, dass der schon wieder mit der Karre ankommt. Wenn ich sagte: »Kannst du mich nicht einfach mit unserem normalen Auto abholen?«, grinste er nur und sagte: »Das würde ich ja gerne, mein Schatz, aber das braucht Mama heute. Was hast du gegen den Kleinen hier? Er fährt doch prima und ist so schön grün!« Ich verdrehte die Augen. Er würde es nie kapieren!

An einem Samstag Ende Februar hatten wir einen Auftritt mit der Tanzgruppe. Am Mittwoch hatte mich Christian nach Hause begleitet und seitdem hatte ich insgeheim jeden Mittag gehofft, dass er wieder an der Bahn auf mich warten würde. Tat er aber nicht. Ich war fast froh, dass heute Samstag war und ich mir keine Hoffnungen machen brauchte, ihn heute zu sehen.

Papa ließ es sich nicht nehmen, mich mit dem Fiat zur Turnhalle zu fahren. Mama hatte in der Gemeinde zu tun, also würde heute nur er zusehen. Es war Tag der offenen Tür in der Turnhalle, in der wir immer probten, und die einzelnen Gruppen präsentierten sich mit kleinen Aufführungen. Wir hatten die neue Choreografie wochenlang geprobt. Das Lied dazu war I Will Survive von Gloria Gaynor, das ich super fand. Die Schrittfolge war diesmal mit vielen Drehungen. An manchen Stellen waren wir in zwei Gruppen aufgeteilt, die aufeinander zutanzten. Das war ein bisschen wie in den Videos, die ich immer bei Formel Eins guckte. Manchmal stellte ich mir beim Tanzen vor, ich wäre bei einem Videodreh dabei. Mittlerweile war ich in der Fortgeschrittenengruppe. Silvia und ich waren die jüngsten, die anderen waren alle sechzehn, siebzehn oder achtzehn.

Papa musste den grünen Fiat auf dem Parkplatz der Turnhalle abstellen, wo ihn zum Glück keine meiner Freundinnen sehen konnte. Er ging schon in den Zuschauerraum, ich in den Umkleidebereich. Ich war eine der Letzten: Silvia, die meisten anderen Mädchen und Frau Grundel, die unsere Gruppe seit Jahren leitete, waren schon da. Ich schlüpfte in meine schwarze Leggins und eines der schwarzen T-Shirts, die wir mit Nieten und hellgrauer Stofffarbe rockig gestylt hatten. Diese Kostüme waren richtig cool.

»Ist Susanne schon da?«, fragte Frau Grundel. Susanne war das älteste Mädchen, sie war gerade neunzehn geworden. Sie hatte einen kleinen Solopart in unserem Tanz. Wahrscheinlich wollte Frau Grundel das noch mal mit ihr durchsprechen.

»Keine Ahnung, ich hab mich auch schon gefragt, wo sie bleibt. Normalerweise ist sie doch immer eine der Ersten«, sagte Kathrin, Susannes Freundin.

In zehn Minuten waren wir dran, lange hatte Susanne also nicht mehr Zeit. Als Susanne auch eine Minute vor dem Auftritt noch nicht aufgetaucht war, sagte Frau Grundel:

»Okay, Mädchen. Das wird ein Nachspiel für Susanne haben. Aber jetzt konzentrieren wir uns auf den Aufritt. Das Solo von Susanne fällt weg. Ihr tanzt einfach euren Part so, als würde sie ihr Solo machen. Das fällt bestimmt niemandem auf. Schafft ihr das?«

Wir nickten.

»Also gut. Dann raus mit euch. Viel Glück!«

Ich fand es schade, dass Susannes Solo wegfiel, sie konnte so cool tanzen! Ich bewunderte sie und hoffte, ich würde auch mal so gut werden wie sie.

Als wir auf die Bühne gingen und die ersten Takte der Musik erklangen, dachte ich schon nicht mehr daran. Auf der Bühne tanzen war einfach das Größte! Aus dem Augenwinkel sah ich Papa in der zweiten Reihe sitzen und lächeln. Ob noch jemand anderes hier war, den ich kannte? Mittlerweile hatte ich so oft vor Publikum getanzt, dass ich kaum noch aufgeregt war und es in vollen Zügen genießen konnte.

Wir bekamen viel Applaus und verbeugten uns immer wieder. Frau Grundel strahlte und klopfte uns allen auf die Schulter. »Gut gemacht, Mädels!«

Nachdem wir uns umgezogen hatten, standen wir vor der Turnhalle noch kurz zusammen. Papa kam aus dem Zuschauerraum und umarmte mich. »Das sah ja aus wie direkt vom Broadway! Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz!«

Auch von den anderen waren einige Eltern da, die uns jetzt lobten und sich bei Frau Grundel für ihre Arbeit bedankten.

»Frau Grundel, kann ich Sie kurz sprechen?«, fragte ein Mann, der ungefähr so alt war wie Papa.

»Ja natürlich, Herr Keller!«, sagte Frau Grundel.

Jetzt fiel es mir ein. Der Mann war Susannes Vater. Was machte er denn hier? Susanne war doch gar nicht da.

Frau Grundel und er stellten sich etwas abseits von uns. Frau Grundel wirkte auf einmal sehr ernst. Sie hörte Herrn Keller zu und schlug sich eine Hand vor den Mund. Erst jetzt fiel mir auf, wie grau Herr Keller heute aussah. Als wäre er viel älter, als er eigentlich war. War irgendetwas passiert?

Wenig später erfuhren wir es: Susanne hatte einen Autounfall gehabt. Sie war selbst gefahren und hatte noch eine Freundin mitgenommen. Auf einer Landstraße waren sie in einem Waldstück auf Glatteis gekommen. Das Auto war hinten ausgebrochen, Susanne konnte es nicht mehr kontrollieren. Sie überschlugen sich mehrfach, als sie die Böschung neben der Straße hinunterrasten, und knallten an einen Baum. Die Beifahrerin hatte schwer verletzt überlebt, aber Susanne war sofort tot.

Ich konnte es nicht glauben. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen! Wie konnte Susanne einfach nicht mehr da sein? Und wieso Susanne und nicht jemand anderes?

Frau Grundel hatte uns die schrecklichen Neuigkeiten mit leiser Stimme mitgeteilt. Man merkte, wie schwer es ihr fiel, sich zusammenzureißen. Sie war blass und wirkte plötzlich völlig kraftlos. So fühlten wir uns alle. Die meisten Mädchen weinten, aber ich war zu geschockt.

Am Mittwoch der folgenden Woche war Susannes Beerdigung. Der Friedhof schien zu klein für all die Menschen, die gekommen waren. Susanne war erst neunzehn gewesen! Und plötzlich war sie tot. Beerdigungen und Todesfälle hatte ich bisher nur bei alten Menschen erlebt. Natürlich wusste ich, dass man auch als junger Mensch sterben konnte. Aber das geschah doch bloß im Fernsehen und nicht hier, mitten in meiner Umgebung! Warum ließ Gott eine Neunzehnjährige sterben? Was ergab das für einen Sinn? Ich konnte das einfach nicht begreifen. Hatte das der gleiche Gott getan, zu dem ich jeden Sonntag in der Kirche betete? Warum?

Das Leben konnte so schnell vorbei sein. Ganz ohne Vorwarnung konnte man ganz plötzlich sterben. Auch mit neunzehn, mit sechzehn oder mit fünfzehn. Dieser Gedanke machte mir Angst. Aber ich konnte nicht aufhören, ihn zu denken.

Wenn ich wüsste, dass ich morgen sterben müsste, was würde ich dann heute tun? Mama und Papa sagen, wie lieb ich sie hatte. Das hatte ich ganz lange nicht mehr gesagt. Weil wir seit der Gerichtsverhandlung gar nicht mehr viel über Gefühle sprachen. Würde ich meine leibliche Mutter noch einmal sehen wollen? Ich wusste es nicht. Was würde ich ihr sagen? Ich hatte keine Ahnung.

Die Woche nach Susannes Tod war überschattet von lauter solchen Gedanken. Ich war traurig und gleichzeitig ängstlich. Ich war froh, dass Mama es merkte und mich darauf ansprach. Sie versuchte mir zu erklären, dass man nicht alles verstehen konnte, was Gott so tat, aber dass alles einen Sinn hatte. Das wollte ich gerne glauben, aber welchen Sinn konnte der Tod von Susanne Keller haben?

Als ich am Tag nach Susannes Beerdigung aus der Bahn stieg, war ich völlig in Gedanken versunken.

»Hallo, Janine!«

Ich zuckte zusammen. Christian Engels! Den hatte ich ja völlig vergessen.

»Was ist los, kennst du mich nicht mehr?«

»Äh, doch, klar. Hi!«, sagte ich.

»Warum bist du so komisch, Eisprinzessin? Ist irgendwas passiert?«

Ich nickte. »Kanntest du Susanne Keller?«

»Ach du Scheiße, du hast sie gekannt?«, fragte Christian zurück. »Ich hab gehört, was passiert ist. Total krass.«

Er kannte Susanne nicht persönlich und war deshalb auch nicht auf der Beerdigung gewesen, aber natürlich hatte er davon gehört.

Dieses Mal redete ich deutlich mehr als Christian, während er mich nach Hause begleitete. Beim letzten Mal war es umgekehrt gewesen. Ich erzählte ihm von all den Dingen, die mir in den letzten Tagen durch den Kopf gegangen waren.

Zum Abschied sah er mich ganz ernst an und sagte: »Danke, dass du mir das alles erzählt hast. Ich kann dich verstehen.«

Er drückte meine Hand und mir wurde ganz warm. Ich konnte nichts sagen, deshalb drehte ich mich einfach um und ging um die Straßenecke nach Hause.

Am nächsten Tag stand er wieder an der Bahn und wartete auf mich. Wir schlenderten extra langsam durch die Straßen. Heute redete er wieder mehr. Dass ich gestern so offen gewesen war, war mir heute fast peinlich. Vielleicht war ja alles totale Grütze, was ich ihm da erzählt hatte? Aber hätte er mich dann heute wieder abgeholt? Wahrscheinlich eher nicht. Also wird es wohl okay gewesen sein.

Als wir fast bei mir waren, griff er in seinen Rucksack und holte etwas heraus.

»Für dich!«, sagte er und gab mir eine selbst aufgenommene Kassette.

Ich wusste, dass ich rot wurde, aber das war mir egal.

Ich sah mir die Kassette an. Er hatte sie nicht beschriftet. Auf dem Papier in der Kassettenhülle stand nur Für Janine. Sonst nichts.

»Was ist da drauf?«

»Hör’s dir einfach an!«, sagte er, lächelte und ging.

Sobald das Mittagessen vorbei war, sprintete ich die Treppe hoch und legte die Kassette in den Rekorder. Das erste Lied erkannte ich sofort: Es war Kiss von Prince. Als der Refrain kam, bekam ich eine Gänsehaut.

You don’t have to be rich to be my girl

You don’t have to be cool to rule my world

Dann verstand ich eine Zeile nicht und dann kam:

I just want your extra time and your … kisss

War das eine Botschaft an mich? Wollte er mit mir gehen? Mich küssen? Warum tat er es dann nicht einfach? Ich konnte es kaum erwarten, bis das Lied zu Ende war und ich die anderen Lieder hören konnte.

Als Kiss vorbei war, hielt ich die Luft an. Zuerst kam gar nichts, dann klackte es leise und es begann … Kiss. Er hatte es noch einmal aufgenommen! Eine knappe Stunde später wusste ich: Nicht einmal, nicht zweimal, sondern ganze fünfzehn Mal hintereinander hatte er das Lied aufgenommen!

Am nächsten Tag nach der Schule war ich total aufgeregt. Ich wollte nichts so sehr, wie Christian sehen. Gleichzeitig hatte ich vor nichts so sehr Angst. Was erwartete er jetzt von mir? Sollte ich ihn einfach küssen? Das würde ich mich niemals trauen! Als meine Haltestelle nahte, war mir schlecht vor Aufregung. Ich sah rüber zur Ampel, wo er sonst immer stand. Aber da war … niemand. War er zu spät dran?

Ich ließ mir endlos Zeit beim Aussteigen. Als Letzte ging ich aus der Bahn. Als Letzte über die Ampel. Aber er war immer noch nicht da. Ich war maßlos enttäuscht. Wieso schenkte er mir so eine Kassette und war dann einfach nicht da? War es ihm peinlich? Tat es ihm leid? Oder hatte er es gar nicht so gemeint, wie ich es verstanden hatte?

Plötzlich hatte ich Angst, dass er wieder für ein halbes Jahr aus meinem Leben verschwinden würde. Oder für immer. Dieses Gefühl kam mir bekannt vor. Alles in meinem Leben fühlte sich unsicher an. Es gab nichts, auf das ich mich wirklich verlassen konnte.