Oma
Die Liebe allein versteht das
Geheimnis,
andere zu beschenken und dabei selbst reich zu werden.
CLEMENS BRENTANO
Mickymaus reckte beide Arme nach oben. Die Hände mit den weißen Handschuhen zeigten auf die Zehn und auf die Zwölf. Mama und Papa hatten mir die Armbanduhr zusammen mit dem dunkelblauen T-Shirt mit der gelben Blume vor eineinhalb Wochen zu meinem neunten Geburtstag geschenkt. Die Uhr konnte ich natürlich schon längst lesen. Kerstin hatte es mir gezeigt, als ich in die Schule gekommen war. Zum Glück ging es mir heute wieder gut. Ich war gestern Nacht schnell wieder eingeschlafen und hatte heute Morgen bis acht Uhr geschlafen. Richtig lange. Den ganzen Vormittag hatte ich mit Mama und Stefan Ostereier bemalt. Am Wochenende war Ostern und Mama wollte heute das Haus dekorieren. Aber schon seit zehn Minuten rührte ich nur noch mit dem Pinsel in den Farben rum und wartete, bis es endlich zwölf war.
Fünf Minuten vor zwölf. Ich konnte es kaum erwarten. Oma wollte mich abholen, das hatten wir Anfang der Woche am Telefon so verabredet. Und sie war immer ganz genau pünktlich. Wir wollten zusammen mit dem Bus zu ihrer Wohnung fahren und nach dem Mittagessen in den Zoo gehen. Ich wusste gar nicht, worauf ich mich am meisten freute: auf das gemeinsame Essen mit Oma, auf ihre Steifftiersammlung, auf den Zoo oder auf das Busfahren. Ich liebte Busfahren! Ich liebte den Zoo! Ich liebte Oma!
Endlich klingelte es. Ich ließ den Pinsel fallen und rief »Tschüss Mama, Oma ist da!«, rannte in den Flur, schlüpfte in meine Schuhe, schnappte mir meine Jacke von der Garderobe und riss die Haustür auf.
»Oma!«, rief ich. Sie stand noch am Gartentürchen und bückte sich gerade, um die Klinke runterzudrücken.
Oma strahlte über das ganze Gesicht und in den dunklen Locken, die ihr Gesicht umrahmten, blitzten ihre großen, runden, goldenen Ohrringe. Sie hießen »Creolen«, hatte sie mir erklärt. Sie ging durch das Türchen, breitete die Arme aus und rief: »Janine, mein Sonnenschein! Hallo!«
Wie immer fand ich sie sehr elegant: Sie trug ein kariertes Jackett, eine weiße Bluse mit einem großen Kragen, einen beigefarbenen Rock mit kleinem Schlitz, Schuhe mit goldener Schnalle und einem kleinen Absatz. Ihre Handtasche passte perfekt zu den Schuhen. Am Handgelenk trug sie ihr goldenes Armband mit den grünen Steinen.
Ich lief auf sie zu und wir umarmten uns. Sie fühlte sich an wie ein Kissen, denn Oma war ein bisschen pummelig. Und nicht besonders groß. Sie war die kleinste Erwachsene, die ich kannte, und nur noch fünfzehn Zentimeter größer als ich. Das hatten wir das letzte Mal ausgemessen. »Bald hast du mich eingeholt! Wenn du mich überholt hast, musst du mir sagen, wie die Luft da oben ist«, hatte sie gesagt. Oma redete immer viel Quatsch und ich musste oft über sie lachen.
Meine Nase landete an ihrem Hals. Ich hatte sie mal gefragt, warum sie so besonders roch. Sie hatte mir erklärt, das wäre ihr Parfüm. Auf ihrer Kommode stand immer eine Flasche davon. Eigentlich hieß es nicht Flasche, sondern »Flakooo«, hatte Oma mich verbessert.
»O-P-I-U-M-D-I-O-R«, hatte ich gelesen. »Was soll das denn heißen?«
»Das ist der Name von dem Parfüm. Es kommt aus Frankreich. Es heißt ›Opium‹ und die Firma, die es herstellt, heißt ›Dior‹.«
Zu dem Duft des Parfüms mischte sich noch der Geruch von frischem Kaffee. In ihrer Wohnung roch es immer danach. Aber sie konnte den Geruch auch mit nach draußen nehmen. Sie roch super und ihr ganzes Gesicht war voller Sommersprossen.
»Ach Janine, wenn ich dich sehe, geht die Sonne auf. Los, komm, der Bus fährt gleich!«, sagte sie lachend. Sie winkte Mama zu, die uns von der Tür aus lächelnd beobachtete, und zog mich in Richtung Bushaltestelle.
»Wenn ich sie wiederbringe, habe ich mehr Zeit, aber jetzt müssen wir schnell machen, damit wir den Bus noch kriegen«, rief sie Mama zu.
»Schon gut, bis heute Abend!«, sagte Mama, winkte noch mal und schloss die Tür.
»Hast du Lust auf Kotelett? Ich hab dir Kotelett mit Rahmerbsen und -möhrchen und Kartoffeln gemacht«, quatschte Oma fröhlich weiter, als wir im Bus saßen. Wie immer durfte ich am Fenster sitzen.
»Mhm, ja, lecker!«, sagte ich und nickte. Das war ein bisschen gelogen. Ehrlich gesagt, Kotelett war okay, aber so richtig gut schmeckte es mir nicht, selbst wenn Oma es kochte.
Oma grinste mich an und sagte: »Es ist schön, dass du so höflich bist. Höflichkeit schmückt, das weißt du ja. Trotzdem – gib dir keine Mühe, ich weiß schon, dass du lieber Nudeln essen würdest, aber immer nur Nudeln, das ist doch nichts. So ein schönes Kotelett ist gut für die Knochen!« Sie tätschelte mein Bein.
Oma konnte man einfach nichts vorlügen! Aber das Gute war: Man musste ihr auch nichts vorlügen. Weil sie nie sauer war und mich immer verstand.
»Und danach gibt’s noch einen Mohrenkopf, der ist auch sehr gut für die Knochen, glaube ich.«
»Echt?«, fragte ich und grinste.
»Ganz bestimmt!«
Ihre Straße hieß »Gottesweg«. Sie schloss die Wohnung auf und wir betraten den großen, runden Flur, von dem die anderen Zimmer abgingen. Die Decke war viel weiter oben als zu Hause und an den Wänden waren gelbe Tapeten mit einem feinen Blümchenmuster. Die Türen waren weiß und hatten alte goldene Griffe. Auf einem kleinen Tischchen stand eine Lampe mit einem verschnörkelten Fuß und kleinen Troddeln am Schirm.
Sie zog ihr Jackett aus und hängte es an die Garderobe. Ihre Schuhe zog sie auch zu Hause nie aus.
Wir setzten uns an den großen Esstisch aus dunklem Holz im Wohnzimmer und aßen zu Mittag. Zum Nachtisch gab es den Mohrenkopf und als ich behauptete, dass sich meine Knochen immer noch ganz labberig anfühlten, bekam ich noch einen. Wie immer lachten wir die ganze Zeit. Mit Oma konnte man einfach am besten Quatsch machen!
Trotzdem war es heute nicht ganz so wie sonst. Der Traum von gestern Nacht und das Gespräch mit Mama spukten immer noch in meinem Kopf herum und ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, auch wenn ich mich noch so anstrengte und noch so viel Quatsch mit Oma machte. Mama sagte immer, dass es toll war, dass ich zwei Mütter und zwei Omas hatte. Das war etwas Besonderes und mehr, als die meisten anderen Kinder hatten. Ich fand es super, etwas Besonderes zu sein, aber manchmal wünschte ich mir auch, ich wäre genauso wie alle anderen.
Nach dem Essen spielten wir noch ein bisschen mit meinem Äffchen Cheeta und Omas Steiff-Tieren und dann brachen wir auf in den Zoo. Diesmal fuhren wir mit der Bahn.
Unsere erste Station waren wie immer die Giraffen, die ganz nah am Eingang des Zoos ihr Gehege hatten. Oma mochte sie besonders gerne, weil sie so elegant waren und weil sie das Muster ihres Fells so schön fand.
»Oma, magst du die Giraffen so gerne, weil sie so groß sind und du so klein?«, fragte ich.
»Du freches Stück! Dir muss man wohl mal die Ohren langziehen!«, rief sie und tat so, als wollte sie einen Angriff auf meine Ohren starten.
»Schau mal, sogar die ist schon viel größer als du!«, sagte ich, um sie noch ein bisschen zu ärgern, und deutete auf eine ganz junge Baby-Giraffe, die gerade aus dem Giraffenhaus kam.
»Na guck mal! Das muss Juvi sein, die ist erst vor ein paar Wochen geboren. Das hab ich neulich in der Zeitung gelesen.«
Juvi war zwar größer als Oma und ich, aber neben ihrer Mutter sah sie trotzdem aus wie ein Winzling. Sie schaffte es gerade, sich bis zu dem Euter der Mutter zu strecken.
»Kann ich dich mal was fragen, Oma?«
»Ja, klar, spuck’s aus!«
Ich gab mir einen Ruck und fragte: »Muss ich irgendwann zu meiner Mutter zurück?«
Oma wurde plötzlich ganz ernst. Dann schaute sie wieder zu den Giraffen hinüber. Von der Seite sah ich, dass sie das Gesicht verzog, so als würde ihr etwas wehtun.
»Es macht mich immer unglücklich, wenn ich daran denke, dass deine Mutter dich weggegeben hat«, hatte sie mir mal erklärt. Deshalb sprachen wir nicht so oft darüber. Eigentlich nie. Meine Mutter, die ich manchmal am Wochenende besuchte, war ihre Tochter. Obwohl sie sich wirklich gar nicht ähnlich sahen und auch gar nicht ähnlich waren.
Oma wusste, dass ich zu Hause glücklich war, und mochte auch Mama sehr gerne. Trotzdem wurde sie immer sehr traurig, wenn wir über meine leibliche Mutter sprachen.
»Deine Mutter hat viele Entscheidungen getroffen, die ich bis heute überhaupt nicht nachvollziehen kann und die mich sehr traurig machen.« Oma sah immer noch zu den Giraffen rüber und redete sehr leise. »Ich habe deiner Mutter viele Türen aufgemacht und sie hat sie alle einfach wieder zugemacht. Sie hätte all die Fehlentscheidungen, die sie für ihr Leben getroffen hat, nie treffen müssen.«
Sie klang fast ein bisschen böse, als sie das sagte. Es tat mir leid, dass ich mit dem Thema angefangen hatte. Was meinte Oma damit? Welche Entscheidungen?
Sie klemmte sich eine ihrer schwarzen Locken hinter das rechte Ohr und sagte: »Nina, man muss Entscheidungen für sich treffen, nicht für die anderen, aber man sollte trotzdem Rücksicht nehmen. Und nur um jemandem wehzutun, sein eigenes Leben kaputtzumachen … das macht keinen Sinn.«
Ich wollte nicht, dass sie traurig war. Ich nahm ihre Hand. Oma sah mich an. Sie verzog immer noch das Gesicht und ihr Doppelkinn wackelte.
»Glaub mir, deine Mutter liebt dich, aber ein Kind würde nicht in ihr Leben passen. Ich finde das nicht gut und ich kann es nicht nachvollziehen, aber ich kann es auch nicht ändern. Sie kommt wohl mehr nach deinem Großvater, der ist auch so unstet. Sie ist ihm sehr ähnlich. Mir war die Freiheit nie so wichtig wie ihm und wie ihr. Ich bin so froh, dass du ein schönes Zuhause hast, eine nette Familie und eine Mama, die dich liebt!«
Oma hatte viel Pech im Leben gehabt, hatte Mama mal gesagt. Ihren Mann, meinen Großvater, hatte ich nur einmal gesehen. Ich hatte ihn zwar kaum kennengelernt, aber ich wusste trotzdem sofort, dass ich ihn überhaupt nicht leiden konnte, egal ob er mein Opa war oder nicht. Er hatte so laut geredet und dauernd so angeberisch getan, als wäre er ein Hollywoodstar. Alles musste sich um ihn drehen, für die anderen hatte er sich gar nicht interessiert. Ich glaube, er hat Oma sehr wehgetan, deshalb hat sie sich damals von ihm getrennt.
Plötzlich lächelte Oma wieder, drückte meine Hand und sagte: »Nina, du bist mein Sonnenschein. Du bist das Allerbeste in meinem Leben. Du machst mich so glücklich. Wenn ich an dich denke, freue ich mich immer. Lass uns den Nachmittag genießen und nicht über so traurige Dinge sprechen, ja? Mach dir keine Sorgen, niemand wird dich von deiner Mama wegholen, da bin ich mir ganz sicher.«
Sie strich mir über den Kopf. Ich sah das goldene Armband an ihrem Handgelenk baumeln. Ich hatte sie noch nie ohne dieses Armband gesehen. Es klebte an Oma wie ihr Geruch nach Kaffee und Opium. Es hatte längliche Glieder, die ein bisschen verschnörkelt waren. In jedem Glied saß ein grüner Stein. Die Steine waren gewölbt und wenn man darüberfuhr, fühlten sie sich an wie flache, kühle Beulen. Ich beruhigte mich. Oma hatte sicher recht: Alles war gut.
Plötzlich rauschte und platschte es im Gehege. Die junge Giraffe pinkelte. Aber es war, als würde jemand einen Eimer hinter ihr ausschütten, wie ein Wasserfall! Oma und ich mussten laut lachen und konnten fast nicht mehr aufhören. Als wir uns wieder beruhigt hatten, fragte Oma:
»Was hältst du davon, wenn wir Juvi am Sonntag nach Ostern noch mal besuchen und nachsehen, wie viel sie bis dahin gewachsen ist?«
Ich rechnete nach und zählte die Tage an den Fingern ab. Übernächsten Sonntag?
»Aber da ist doch meine heilige Erstkommunion!«, rief ich. Wie konnte sie das denn vergessen?
Sie grinste: »Ach sag bloß! Da ist deine heilige Erstkommunion? Was wünschst du dir denn zu deiner heiligen Erstkommunion?«
An ihrem Grinsen sah ich, dass sie mich bloß veräppeln wollte. Sie hatte die Kommunion gar nicht vergessen und ich war mir sicher, dass sie schon längst ein Geschenk für mich hatte. Es waren schließlich bloß noch zehn Tage bis zu meinem großen Fest. Und ich hatte mir schon lange ein Barbie-Schaumbad von Oma gewünscht. Aber ich wollte keine Spielverderberin sein und sagte: »Eine Giraffe!«
»Na, aber ob deine kleine Oma dir so etwas Großes schenken kann, ich weiß nicht«, sie zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf.
»Ich meine doch eine aus Stoff!«, sagte ich und lachte.
»Ach so, alles klar. Das ist eventuell möglich. Die kann deine winzige Oma ja vielleicht gerade noch so tragen«, sagte sie und lachte auch.