Erbstücke

Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten.
Und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – das einzig Bleibende, der einzige Sinn.

THORNTON WILDER

Die Gespräche mit der Psychologin, die Auseinandersetzung mit meiner leiblichen Mutter und die Arbeit im Krankenhaus hatten mich in den letzten Wochen stark in Anspruch genommen. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch zwei Wochenend-Lehrgänge belegen müssen, die nur einmal im Jahr angeboten wurden und als Pflichtveranstaltungen im Ausbildungsplan standen.

Mit meinen Eltern gab es viele Formalitäten zu regeln, die natürlich wie immer Mama in die Hand nahm. Unsere Gespräche und Telefonate drehten sich deshalb fast immer um Praktisches: Auf diesem Antrag fehlte noch eine Unterschrift, jene Dokumente mussten noch besorgt werden und wann hatten alle Zeit für den Notartermin? An den wenigen Wochenenden, die ich zu Hause verbrachte, gab es immer irgendetwas zu organisieren.

Die Entscheidung, mich mit achtzehn adoptieren zu lassen, hatte alles verändert, aber ich merkte trotzdem, dass wir die letzten Jahre nicht ungeschehen machen konnten. Mama und ich näherten uns vorsichtig einander an, aber es gab viele Wunden, die noch vernarben mussten. Und viele Fragen, über die wir uns vielleicht nie einig sein würden.

Seit dem Gespräch, an dessen Ende wir uns vor Freude über unsere Entscheidung für die Adoption in den Armen gelegen hatten, hatten wir nicht wieder über die Dinge, die uns beschäftigten, gesprochen.

Deshalb war ich überrascht, als Mama am Sonntag eine Woche vor meinem achtzehnten Geburtstag an meine Zimmertür klopfte.

»Ich wollte dir etwas geben«, sagte sie. Sie hielt ein kleines quadratisches Päckchen mit einer roten Schleife in der Hand.

»Ein Geschenk? Heute schon? Aber ich habe doch erst in einer Woche Geburtstag«, sagte ich überrascht.

Mama lächelte. »Ich habe etwas für dich aufbewahrt und ich dachte, jetzt wäre eine gute Gelegenheit, es dir zu geben. Jetzt, wo so vieles zu Ende geht und gleichzeitig so vieles neu beginnt.«

Ich wickelte das Geschenkpapier aus und zum Vorschein kam eine quadratische Schmuckschatulle. Ich öffnete sie und da lag es: Ein goldenes Armband mit grünen Steinen. Es hatte längliche Glieder, die ein bisschen verschnörkelt waren. In jedem Glied saß ein grüner Stein. Die Steine waren gewölbt und wenn man darüberfuhr, fühlten sie sich kühl an. Ich bildete mir ein, einen ganz schwachen Duft nach Kaffee und einem schweren Parfüm wahrzunehmen. Omas Armband!

Mir schossen Tränen in die Augen. Mama sah mich lächelnd an und nahm mich in die Arme.

»Familie ist das Wichtigste im Leben. Ich hoffe, dass deine Kinder mich mal genauso lieben werden, wie du deine Oma geliebt hast«, sagte sie leise an meinem Ohr. Schöner und einfacher hätte sie unseren Neuanfang nicht in Worte fassen können.

Eine Welle der Dankbarkeit durchfloss mich.

»Ach Mama, du bist die beste Mama, die es gibt. Ich bin dir so dankbar, für alles, was du für mich getan hast, und dafür, dass du mich nie aufgegeben hast! Ihr habt so viel auf euch genommen für mich. Ich bin so froh, dass ihr meine Familie seid!«

»Und ich bin unendlich froh, dass du wieder auf uns zugekommen bist und wir uns die Hand gereicht haben. Ich liebe dich, mein Schatz.«

Mama drückte mich noch einmal fest, dann schniefte sie, ließ mich los und sagte: »Probier es doch mal an. Wahrscheinlich ist es dir viel zu weit.«

Während ich den Deckel der Schatulle wieder zurückklappte, schnäuzte sich Mama und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Ich nahm das Armband heraus und legte es um mein Handgelenk. Es war mir tatsächlich viel zu weit. Ich würde es enger machen lassen müssen.

Vor meinem inneren Auge sah ich das lachende Gesicht meiner kleinen, fröhlichen Oma vor mir. Und ich erinnerte mich an den Moment kurz vor ihrem Tod, als sie mir ihr Armband geschenkt und gesagt hatte, dass es Mama für mich aufbewahren würde, bis ich erwachsen war.

Auch wenn sie sich immer gewünscht hatte, dass ich meiner leiblichen Mutter wieder näherkam, hätte sie sich sicher mit mir über meine kurz bevorstehende Adoption gefreut. Denn eine Familie konnte gar nicht groß genug sein. Und ihre Wurzeln durften ruhig ein bisschen verästelt sein, Hauptsache, sie waren fest und tief und hielten einem Sturm stand.