Der Eklat
Nichts auf der Welt ist dem Menschen mehr
zuwider,
als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt.
HERMANN HESSE
»Wieso kommt denn Frau Antunes schon wieder? Sie war doch gerade erst da? Oh Mann, das nervt!« Das tolle Frühsommerwetter hielt sich jetzt schon seit zwei Wochen. Es war Mitte Juni und morgen wollten Silvia und ich ins Freibad gehen. Morgen war der einzige Nachmittag in dieser Woche, an dem weder Silvia noch ich Training hatten. So ein blöder Jugendamtsbesuch nervte da echt extrem.
»Nina, ich weiß es nicht. Sie hat gerade angerufen und gesagt, es wäre dringend, aber nicht, warum. Das wollte sie morgen hier mit uns allen besprechen«, sagte Mama. Wir waren beim Abendessen und sie hatte uns gerade erzählt, dass Frau Antunes sich für morgen Nachmittag angekündigt hatte.
»Oh Mama, muss das sein? Muss ich da schon wieder mit dabei sein?« Stefan war auch total genervt.
»Ja, leider. Und ihr könnt mir glauben, ich könnte mir auch eine nettere Beschäftigung vorstellen, aber es lässt sich nicht ändern. Frau Antunes kommt morgen um sechzehn Uhr. Und ihr seid alle da. Punkt.« Mama war nervös, das äußerte sich bei ihr manchmal darin, dass sie ein bisschen pampig wurde. Sie hatte natürlich auch keine Lust auf die Besuche, das war mir schon klar. Trotzdem fand ich es ungerecht, dass alle anderen morgen ins Freibad gehen würden. Nur ich würde mit meinen Geschwistern, meinen Eltern und der Frau vom Amt im Wohnzimmer rumsitzen.
Frau Antunes war nicht gut gelaunt, das sah ich ihr sofort an, als sie reinkam. Mir wurde ein bisschen mulmig. Was war denn eigentlich los?
Als wir uns gesetzt hatten, holte Frau Antunes etwas aus ihrer Aktentasche und legte es auf den Tisch. Ich erkannte es sofort wieder. Das Mordillo-Männchen! Es war die Geburtstagskarte, die ich vor zwei Wochen meiner Mutter geschrieben hatte. Mama und Papa warfen sich einen fragenden Blick zu.
»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, Janine?«, fragte Frau Antunes. Sie klang nicht sauer, nur irgendwie ratlos.
»Wieso denn, was ist denn verkehrt an der Karte? Sie haben doch gesagt, dass ich meiner Mutter schreiben soll! Das hab ich gemacht.«
»Ja und das war im Prinzip auch richtig. Aber vielleicht hättest du noch zwei Sätze mehr schreiben können außer ›Herzlichen Glückwunsch‹! Deine Mutter hat sich sehr darüber aufgeregt.«
Mama sah total schockiert aus und nahm die Karte vom Tisch. Sie klappte sie auf, las meinen Glückwunsch und reichte die Karte weiter an meinen Vater.
»Aber wieso denn, verdammt? Ich sollte ihr eine Geburtstagskarte schreiben und ich hab ihr eine Karte geschrieben!«
»Ja, das hast du. Aber deine Mutter hat sich nicht darüber gefreut, sondern bei uns angerufen und gesagt, wenn das so weiterginge, würde sie dich von hier wegholen und dich ganz zu sich holen. Die Idee, ihr zu schreiben, war doch, nett zu ihr zu sein, damit sie dir deine Freiheit lässt. Die Idee war nicht, sie zu provozieren. Dadurch, dass du nur Herzlichen Glückwunsch geschrieben hast, hast du ihr gezeigt, dass du dir extra keine Mühe gegeben hast. Das ist fast schlimmer, als gar nichts zu schreiben! Sie war wirklich stocksauer, dass dir einfällt, ihr etwas so Unpersönliches und Liebloses zu schicken.«
»Oh Gott, das war meine Schuld. Es tut mir leid, ich hätte mit Janine noch einmal ausführlich darüber sprechen sollen! Sie wollte ihre Mutter bestimmt nicht verärgern. Sie wird das wiedergutmachen!« Mama war ganz aufgelöst.
Frau Antunes sah meine Mutter an: »Frau Kunze, Janine ist vierzehn. Da müssen Sie nicht mehr alles kontrollieren. Für gewisse Dinge kann Janine schon sehr gut selbst Verantwortung übernehmen.« Dann wandte sie sich wieder an mich: »Janine, so kannst du dich nicht benehmen. Du weißt ganz genau, dass du deine Mutter absichtlich provoziert hast. Mit diesem einen betont unpersönlichen Satz hast du deutlich zum Ausdruck gebracht, was du von der Idee hältst, ihr regelmäßig zu schreiben. Ich verstehe dich ja, aber du musst die Situation ernst nehmen und vernünftig sein!«
»Sie verstehen mich überhaupt nicht. Ich habe Ihnen schon das letzte Mal gesagt, dass ich das alles nicht mehr möchte. Und das habe ich ernst gemeint! Ich bin ja nicht blöd. Ich kann schon klar denken. Sie können mir vertrauen. Ich möchte einfach mit denen nichts mehr zu tun haben. Das wird sich nicht mehr ändern. Ich weiß, woher ich komme. Ich hab die regelmäßig gesehen. Ich weiß, wie die leben. Ich möchte das nicht mehr. Ich lebe hier und hier gehöre ich hin«, sagte ich und blieb sogar ruhig dabei. Ich fühlte mich ziemlich erwachsen. Jetzt war alles klar.
»So einfach ist das nicht, Janine. Und das weißt du auch. Solange deine Mutter das Sorgerecht für dich hat, müssen wir alle gemeinsam entscheiden, was für dich das Beste ist. Und das funktioniert nicht im Streit. Für die Lösung, dass du ihr schreibst, hatten wir uns das letzte Mal hier gemeinsam entschieden. Du hattest zugestimmt, ihr zu schreiben, weil du Abstand von deiner Mutter wolltest. Mit solchen Provokationen wie dieser Karte machst du doch alles nur noch schlimmer. Du verärgerst sie. So geht das nicht.«
»Wir haben gar nicht gemeinsam entschieden, sondern Sie haben das entschieden! Und Sie haben noch nie gut für mich entschieden! Ich bin kein Kleinkind, ich kann selbst entscheiden«, jetzt hatte ich wirklich langsam genug. Frau Antunes wollte mich einfach nicht verstehen und hörte nicht auf, mich wie ein Baby zu behandeln! Ich wurde wütend und schrie:
»Ich bin nicht blöd, und wenn ich sage, ich will meine Mutter nicht mehr sehen und ich will ihr auch nicht mehr schreiben, dann meine ich das ernst!« Ich war aufgesprungen und starrte sie an. Sie sah nicht mehr ganz so sicher und überheblich aus wie vorher. »Nehmen Sie mich doch endlich auch mal ernst und nicht nur meine Mutter! Schließlich geht es hier um mein Leben. Ich weiß, warum ich das alles nicht mehr will und warum ich das so entscheide. Ich hab ihr einfach nichts zu sagen, was soll ich ihr denn dann schreiben? Ich werde der nie wieder eine Karte schreiben und nie wieder einen Fuß da reinsetzen. Sie können mich nicht zwingen. Sonst packe ich meine Sachen und haue ab.«
»Nina, beruhige dich doch!« Mama war total erschrocken. Zu Frau Antunes sagte sie immer wieder: »Das meint sie nicht so. Das kriege ich wieder hin!«
Aber aus mir sprudelte es nur so raus. Ich war so wütend! Alle wollten immer über mich bestimmen!
»Doch, ich meine das genau so! Ich hab keinen Bock mehr auf den Scheiß!«
»Janine, bleib doch ruhig! Wir finden schon eine Lösung!«, sagte Frau Antunes. Sie sah jetzt richtig schockiert aus.
»Die einzige Lösung ist, dass ich sie nicht mehr besuche! Wenn Sie mich zwingen, die zu besuchen, hau ich ab!« Ich merkte, dass mir Tränen über die Wangen liefen, aber das war mir egal.
»Janine, hör doch auf zu weinen und beruhige dich!«, sagte Mama. Sie stand jetzt neben mir, legte ihre Hand auf meine Schulter und wollte mir über den Rücken streichen.
Ich zitterte am ganzen Körper, in meinem Kopf schwirrte und sirrte es. Ich ertrug das alles nicht mehr! Die sollten mir endlich mal zuhören!
»Lass mich in Ruhe!«, brüllte ich und machte mich los. Ich hatte Lust, irgendetwas kaputtzumachen, oder ganz schnell zu rennen oder laut zu schreien …
Plötzlich fing Stefan an zu heulen und alle redeten durcheinander. Kerstin sagte, ich sollte aufhören zu schreien, Papa versuchte, Mama zu beruhigen, die auch angefangen hatte zu weinen.
Ich hielt das alles nicht mehr aus! Ich lief zur Tür und knallte sie hinter mir zu. Dann rannte ich in mein Zimmer.