Verloren

 

Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft,
hat schon verloren.

BERTOLT BRECHT

 

Ich war bereit gewesen zu kämpfen, aber ich war nicht bereit gewesen, zu verlieren. Ich schnitt ihr Bild einfach in der Mitte durch. Dann nahm ich die beiden Hälften, drehte sie und schnitt sie noch einmal durch. Wieder direkt durch die Mitte des Rechtecks. Die neuen Schnipsel drehte ich wieder und schnitt sie noch einmal durch. Und noch einmal. Ich wollte ihr Gesicht nicht absichtlich zerschneiden. Aber wenn es passierte, weil ein Auge oder ihr Mund direkt auf der Mitte eines Schnipsels lagen, was konnte ich dann dafür?

Ich nahm das zweite Bild aus der Kiste. Hier sah man sie auf der Motorhaube von Helmuts Amischlitten. Sie lag mehr darauf, als dass sie saß. Schnipp trennte ich ihren Rumpf von den Beinen. Schnapp ging ein weiterer Schnitt durch ihren Hals. Er lag genau auf der Hälfte des Bildes, es war also reiner Zufall, dass ich dort schneiden musste. Ich hatte nur zwei Bilder von meiner Mutter gehabt. Jetzt hatte ich keins mehr. Vor mir, auf dem Boden meines Zimmers, lag ein kleines Häufchen aus den zerschnittenen Fotos meiner Mutter. Wie ein zerstörtes Puzzle, das nie wieder jemand zusammensetzen würde. Ich nahm die Schnipsel und ließ sie wie Sand durch meine Finger gleiten.

Es fühlte sich gut an. Das hatte ich schon längst tun wollen. Ganz egal, wie viel Macht sie in dieser Adoptionssache hatte, sie konnte rein gar nichts dagegen tun, dass ich sie aus meinem Herzen rausschmiss! Da war sie machtlos, das entschied nur ich alleine.

Unser Scheitern vor Gericht war jetzt zwei Wochen her. Nachdem der Richter die Sitzung geschlossen hatte, waren Papa und ich schnell zum Auto gegangen. Er hatte mich in den Arm genommen und ich hatte geweint und geweint. Wenig später kamen wir zu Hause an. Mama stand in der offenen Haustür und guckte erwartungsvoll. Als sie meine verheulten Augen gesehen hatte, fiel ihre ganze Freude mit einem Schlag in sich zusammen.

Später hatten wir versucht, über alles zu reden. Aber das war plötzlich schwierig. Wir hatten so viele Wochen und Monate über alles geredet und geredet und auf einmal waren wir alle sprachlos. Wie gelähmt. Mama war noch ängstlicher als vorher.

Ich war eigentlich nur noch wütend. Es war alles so schrecklich frustrierend! Wir hatten so gekämpft. Ein dreiviertel Jahr lang. Wir hatten die blöden Therapiestunden ertragen und den ganzen Mist. Die ganzen langen Gespräche mit dem Jugendamt. Und dann sagte dieser bescheuerte Richter, ich durfte nicht adoptiert werden. Weil ich später vielleicht wissen wollte, woher meine Nase kam? So ein großer Blödsinn! Man konnte fast nicht darüber nachdenken, ohne komplett durchzudrehen. Wenn ich nur daran dachte, wurde ich schon wieder wütend.

Aber auch Mamas Angst machte mich wütend. Ihr ständiges »Wir dürfen jetzt nichts falsch machen« kam noch häufiger als vorher. Es allen recht machen, nicht auffallen, sich unterordnen – das war so gar nicht das, was meinen Gefühlen entsprach. Es war so demütigend, sich jetzt auch noch so klein zu machen!

Es kam mir vor, als würden Mama und ich unter zwei verschiedenen dunklen Wolken sitzen. Wir sahen die andere und ihre Wolke, aber wir konnten nicht rüber zu ihr. Wir waren zwar zusammen, aber gleichzeitig alleine.

Seit dem Tag bei Gericht waren wir alle wie erstarrt. Wir hatten so viele Wochen und Monate immer wieder über die Adoption geredet und diskutiert, dass jetzt, wo wir gescheitert waren, gar kein Wort mehr zu passen schien. Jedes Wort hätte uns nur daran erinnert, dass wir verloren hatten.

Die Tage vergingen und ich tat so, als wäre alles ganz normal. Mein Vater und meine Schwester waren auch sehr bemüht, den Alltag alltäglich sein zu lassen, und ich spielte mit. Aber wir redeten nur wenig miteinander und gingen uns aus dem Weg. Zum Glück hatte ich meine Hobbys, sodass ich nicht so oft zu Hause sein musste. Ich schleppte mich in die Schule, ging zum Tanzen, zum Chor und zum Schwimmtraining. Egal, wo ich auftauchte, sah ich diese mitleidigen Blicke und das machte mich noch wütender, als ich es ohnehin schon war. Meine Wut hatte sich in den letzten Tagen verändert. Direkt nach dem Gerichtstermin war ich zum-Ausflippen-wütend gewesen, jetzt war ich eher ruhig-wütend. Aber das machte es kaum besser.

Die Situation vor Gericht war eine der ungerechtesten und absurdesten gewesen, die ich je erlebt hatte. Wie konnten Menschen, die doch in genau diesen Angelegenheiten bewandert waren, ein Kind, mich, in einen solchen Gefühlskonflikt bringen? Wer hatte sich denn das ausgedacht, meine leibliche Mutter während meiner Anhörung da reinzusetzen? Kannte sie mal wieder jemanden, der das eingefädelt hatte?

Ich verbrachte viel Zeit alleine in meinem Zimmer und dachte darüber nach, worum es in einer Familie eigentlich ging, vor allem, wenn man jemanden liebte. Wenn man jemanden liebte, wollte man doch, dass es dem Menschen gut ging, oder? Es ging doch darum, dem anderen Gutes zu tun, ihm Geschenke zu machen, über die er sich freute, und ihm bei allem zu helfen. Und nicht darum, ihn mit Gewalt an sich zu ketten, sich aber gar nicht wirklich um ihn zu kümmern. Ich hatte sogar ein Gedicht darüber geschrieben. Es hieß Ketten und Flügel und hing jetzt über meinem Bett.

Es klopfte an der Tür und Mama kam rein. »Seit fünf Minuten rufe ich nach dir. Warum hörst du denn nicht? Die Leute vom Jugendamt sind da.«

»Hab total vergessen, dass die heute kommen«, murmelte ich. Das hatte mir gerade noch gefehlt heute. »Muss ich denn mit runterkommen? Mir geht’s heute nicht gut.«

Mama hatte schon vor ein paar Tagen gesagt, dass der nächste Besuch anstand. Wegen des abgelehnten Antrags war die Situation jetzt für alle besonders blöd.

»Ja, ich kann verstehen, dass du nicht gut drauf bist. Aber wir müssen alle gemeinsam überlegen, wie es jetzt weitergeht. Trübsalblasen hilft ja auch nichts. Außerdem gibt es da überhaupt keine Diskussion. Jugendamt-Termine sind Pflicht-Termine. Also, kommst du?«

Ich ließ die Fotoschnipsel liegen. Mama hatte das Schnipsel-Massaker zum Glück einfach ignoriert. Ich seufzte und stand auf. Es würde absolut nichts bringen, gemeinsam mit dem Jugendamt darüber zu reden, »wie es jetzt weitergehen würde«. Das war doch sowieso klar: Es würde genauso weitergehen wie immer, wie auch sonst? Wir machten, was die sagten. Ich folgte Mama die Treppe runter.

Papa, Stefan und Kerstin mussten heute mal nicht mit dabei sein. Im Wohnzimmer saßen nur Frau Antunes und die Frau, die ich aus den Therapiestunden kannte. Was wollte denn die hier?

»Hallo Janine, das ist Frau Schneider, die kennst du ja schon aus den Gesprächsstunden.«

»Mhm«, brummte ich und setzte mich aufs Sofa.

»Janine, ich muss dir etwas Wichtiges sagen«, begann Frau Antunes.

Was konnte es denn jetzt noch Wichtiges geben?

»Ich habe die Betreuung eurer Familie abgegeben an Frau Schneider. Ich gehe in den Ruhestand und arbeite bloß noch wenige Wochen.«

Mama wusste anscheinend schon Bescheid, denn sie sah nicht besonders überrascht aus.

»Frau Schneider wird in Zukunft für euch zuständig sein und die Besuche bei euch übernehmen.«

Das waren keine guten Nachrichten, fand ich. Diese Frau Schneider hatte schon in den Gesprächsstunden einen dämlichen Eindruck gemacht. Aber wenn ich ehrlich war, war es mir egal. Wirklich auf meiner Seite war auch Frau Antunes nie gewesen. Und Frau Schneider würde die gleichen Gesetze haben wie Frau Antunes. Ich nickte.

»Meinem Mann, Janine und mir tut es sehr leid, dass Sie gehen, Frau Antunes. Ich fand die Zusammenarbeit mit Ihnen immer sehr angenehm. Sie haben uns immer unterstützt. Aber mit Frau Schneider wird es auch gut klappen, da bin ich mir sicher«, sagte Mama höflich und nickte Frau Schneider zu.

»Es ist mir wichtig, dass Sie wissen, dass ich immer für Sie da bin, auch wenn ich im Ruhestand bin. Janine und Ihre Familie sind mir in den Jahren ans Herz gewachsen. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte Frau Antunes zu Mama und ich sah, dass sie genauso wie Mama Tränen in den Augen hatte.

»Ich nehme an, dass du zu deiner leiblichen Mutter keinen Kontakt hattest seit dem Gerichtstermin?«, fragte Frau Antunes.

Ich schüttelte den Kopf.

»Geschrieben hast du ihr auch nicht, oder?«

Ich schüttelte wieder den Kopf.

»Tja, ich befürchte, dass das Zusammentreffen vor Gericht die Fronten eher verhärtet als entspannt hat. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn du eine kleine freundliche Geste in Richtung deiner Mutter sendest, Janine? Eine kleine Karte vielleicht?«

»Ich werde meiner Mutter nie wieder schreiben und sie nie wieder besuchen. Wenn die hier vor der Tür steht, schließe ich ab. Oder ich pack meinen Koffer und geh irgendwohin. Das meine ich ernst und dabei bleibe ich auch.« Ich war stolz auf mich, dass ich nicht geschrien hatte. Obwohl ich die Wut schon wieder in mir kochen spürte.

Mama war komplett weiß im Gesicht.

Frau Antunes nickte. Dann sagte sie: »Janine, diese Verweigerungshaltung bringt überhaupt nichts. Das war schon vor Gericht so. Mit dieser Trotzhaltung wirst du nichts erreichen.«

Ich atmete tief ein. »Es mag sein, dass ich damit nichts erreiche. Weil ich nämlich grundsätzlich nichts erreiche. Glauben Sie wirklich, es hätte etwas gebracht, wenn ich vor Gericht geredet hätte? Dem Gericht lag alles vor. Alle Akten, alles, was Sie denen erzählt haben. Ich hätte reden können wie ein Wasserfall, ich hätte da rumheulen können … Das hätte doch nichts verändert!«

»Na ja, einen Versuch wäre es schon wert gewesen. Wenn man nicht redet …«, hakte Frau Antunes ein.

»Das glaube ich nicht! Und Sie glauben es auch nicht. Dass meine Mutter da saß und es allen egal war, dass ich das nicht wollte, sagt doch schon alles. Ihre Wünsche werden immer wichtiger sein als meine. So lange sie der Adoption nicht zustimmt und vor Gericht die Mutti spielt, wird kein Richter für mich entscheiden.«

Frau Antunes nickte langsam. Dann seufzte sie. »Vielleicht hast du recht, Janine. Es ist schwierig. Und wird immer schwierig sein. Adoptionen gegen den Willen der leiblichen Eltern sind tatsächlich sehr selten. Und wir haben wohl auch ein bisschen Pech mit dem Richter gehabt. Trotzdem dachte ich, wir hätten eine Chance. Wer nicht kämpft, hat schon verloren, weißt du.« Sie lächelte ein bisschen.

Ich nickte. »Ja, aber sie bekommt immer eine Chance mehr als ich. Egal, ob ich kämpfe oder nicht. Die Regeln sind für sie gemacht und nicht für mich. Deshalb sehe ich nicht ein, warum ich sie befolgen sollte.« Mehr gab es für mich nicht zu sagen. Ich stand auf.

Frau Antunes sah mich traurig an. Sie nickte, stand auch auf und umarmte mich kurz. Dann ging ich wieder in mein Zimmer.

Eine halbe Stunde später hörte ich, wie Mama Frau Antunes und Frau Schneider verabschiedete. Kurze Zeit darauf kam sie in mein Zimmer.

»Ich weiß, es ist schwierig, aber kannst du es uns nicht ein wenig leichter machen, Janine? Ich verstehe, wie wütend du bist, aber deine Mutter und das Jugendamt sitzen einfach am längeren Hebel. Das haben sie uns ja gerade erst demonstriert. Überleg es dir doch noch einmal mit der Karte, ja?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Ich will mit der wirklich nichts mehr zu tun haben, die Frau kann mir mal gestohlen bleiben.«

Mama nickte, aber ich sah, dass sie totale Panik hatte. Wir schwiegen eine Weile. Es gab nichts mehr zu sagen. Wir hatten das alles schon so oft besprochen. Da fiel mir etwas ein:

»Mama, was kostet eine Nasen-OP?« Die Frage war mir schon die ganzen Tage durch den Kopf gegangen.

»Warum willst du das denn wissen?« Mama sah mich entgeistert an.

»Ich hasse meine Nase, ich möchte sie operieren lassen.«

Mama schüttelte den Kopf: »Das kannst du machen, wenn du erwachsen bist und selber Geld hast. Du operierst jetzt erst mal gar nichts an deiner Nase, die ist schön und bleibt genau so, wie sie ist.«

Damit stand sie auf und ging in die Küche, um Abendessen zu machen.

Als wir zusammen gekämpft hatten, hatte ich mich Mama und Papa ganz nah gefühlt. Endlich war klar gewesen, wo ich hingehörte. Sie hatten mich verstanden. Dieses Gefühl war plötzlich wie weggeblasen. Sie dachten auf einmal ganz anders als ich und waren mir fremd in ihrem ständigen Bemühen, alles richtig zu machen. Was uns so lange zusammengeschweißt hatte, trennte uns jetzt.