Im Spiegel
Die Wahrheit ist leicht zu verstehen, wenn sie
erst entdeckt ist.
Die Schwierigkeit ist nur, sie zu finden.
GALILEO GALILEI
Erst durch das Gespräch mit meiner Mutter hatte ich verstanden, was mich schon die ganze Zeit an Christian gestört hatte: Es war diese Oberflächlichkeit, diese Fixierung auf alles Äußerliche, die mich schon immer genervt hatte. Sein Aussehen, ein Job, der möglichst viel Kohle brachte, dessen Inhalt ihm aber egal war, sein Image bei seinen Freunden … darum drehte sich für ihn alles. Er sah wirklich super aus, aber er wusste das auch. Genau wie meine Mutter.
Ich erinnerte mich, dass ich einmal überlegt hatte, ihm meine Gedichte zu zeigen, es aber sofort wieder verworfen hatte. Er hätte damit gar nichts anfangen können. Und das hätte mich total enttäuscht. Wir hatten zwar viel geredet, aber meistens war es um all die tollen Sachen gegangen, die er schon gemacht hatte. Die Konzerte, auf denen er gewesen war, die Diskos und die Leute, die er kannte. Selten ging es darum, was er über das Leben dachte oder was ihn wirklich beschäftigte. Bei Frauen, egal ob Filmschauspielerinnen oder die neuen Freundinnen seiner Freunde, kommentierte er immer zuerst das Aussehen.
Er war total perplex, als ich ihm sagte, dass ich ihn nicht mehr treffen wollte. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Aber ich merkte, dass er nicht wirklich traurig war, sondern nur gekränkt, weil ich ihn verließ. Ich war erleichtert, dass ich ihm nicht wirklich wehtat und dass es vorbei war. Trotzdem hatte ich mich noch nie so alleine gefühlt.
Ich setzte mich in meinem Zimmer vor den großen Spiegel, den ich seit meinem sechzehnten Geburtstag hatte. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Letzte Woche hatte ich ein neues Poster aufgehängt: Es war ein Schwarz-Weiß-Foto von Marilyn Monroe, die sich in New York auf eine Balkonbrüstung stützte und von hoch oben hinunter auf die Straße blickte. In einer Hand hielt sie eine Zigarette. Sie sah nachdenklich aus. Es war traurig, wenn man wusste, dass sie so unglücklich gewesen war. Vor ein paar Wochen hatte ich bei Kerstin einen Bildband über Marilyn Monroe entdeckt und mir ausgeliehen. Seitdem kannte ich ihre Lebensgeschichte und wusste, dass sie wie ich als Pflegekind aufgewachsen war. Deshalb hatte ich mir das Poster von ihr gekauft und aufgehängt.
Ich sah in den Spiegel. Mit einem Finger drückte ich meine Nase platt. Dieser bescheuerte Richter und sein Nasenspruch! Obwohl es jetzt schon über zwei Jahre her war, musste ich immer noch oft daran denken. Seit er als Begründung für die Ablehnung unseres Antrags gesagt hatte, ich würde mal wissen wollen, wo die herkam, hasste ich meine Nase. Ich wusste, wo meine Nase herkam, aber wo gehörte sie hin?
Mit vierzehn war ich mir einmal ganz sicher gewesen, dass ich hundertprozentig hierhin gehören wollte. Aber diese Entscheidung war abgelehnt worden. Seitdem hatte sich viel verändert und ich wurde das Gefühl nicht los, dass alles anders verlaufen wäre, wenn der Richter mir damals recht gegeben hätte. Wir hatten so viel gestritten seitdem und es wurde immer noch schlimmer und schlimmer. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass das noch einmal anders werden könnte.
Ich stand auf und stellte mich vor meinen geöffneten Kleiderschrank. Natürlich hatte ich die ganzen Sachen noch, die anzuziehen mir Mama verboten hatte. Ich zog eine ausgewaschene enge Jeans mit ein paar fransigen Löchern heraus und zog sie an. Ich sah in den Spiegel. Das war ich, das fühlte sich cool und richtig an. Das war Janine, die gerne ausging, gerne Spaß hatte. Aber diese Janine war hier nicht gefragt. So gehörte ich hier nicht hin.
Ich musste an meine Mutter denken. Wie sie bei Christian auf der Couch gesessen und mit ihm über Michael Jackson geredet hatte. Zu ihr würden diese Klamotten passen. Aber der ganze Rest von mir passte nicht zu ihr. Nein, das passte überhaupt nicht. Auch wenn ich ihr total ähnlich sah, war sie mir fremd. Wo gehörte ich hin? Ich fühlte mich zerrissen.
Ich war nicht so wie Christian und meine Mutter. Ich liebte zwar modische Klamotten, aber es gab noch so viel mehr in meinem Leben, das mir viel wichtiger war! Wenn ich mit Silvia auf meinem Bett saß und wir zusammen die Texte unserer Lieblingslieder heraushörten und uns darüber unterhielten, was sie bedeuteten. Ich liebte das Album von Sinéad O’Connor, das mir meine Freundinnen zum Geburtstag geschenkt hatten, und hörte es immer wieder. Man konnte zwar nicht dazu tanzen, aber bei Liedern wie Feel So Different hatte ich das Gefühl, genau zu verstehen, was sie sagen wollte. Es war komisch – obwohl ich nicht jedes Wort übersetzen konnte, verstand ich genau, worum es ging.
Ich fühlte mich anders als Mama und Papa. Aber auch anders als meine Mutter.
In den nächsten Monaten dachte ich viel nach. Mit meiner Mutter wollte ich mich nicht mehr treffen. Sie rief ein paarmal an, aber ich sagte, ich hätte keine Zeit. Mit Mama stritt ich weiterhin über »meinen Lebensstil«, wie sie es nannte. Dass sie sich in Sachen Alkohol bei mir keine Sorgen zu machen brauchte, glaubte sie mir mittlerweile zum Glück. Die Themen, über die wir uns immer wieder stritten, waren Klamotten und Ausgehen. Ich wusste, dass sie das nicht machte, um mich zu schikanieren, sondern, weil sie Angst um mich hatte. Trotzdem vereinfachte das die Sache nicht.
Mamas Nervenkostüm wurde immer dünner. Damit wir nicht dauernd stritten, versuchte ich, allen aus dem Weg zu gehen. Reden brachte uns nicht mehr weiter, wir blieben immer in den gleichen Streits stecken, die dann nur immer verbissener und verletzender wurden. Ich merkte, dass ich von Mal zu Mal aggressiver wurde. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden, aber alle anderen auch nicht. Ich fühlte mich wie das schwarze Schaf der Familie, niemand verstand mich und das Gefühl, mit mir selbst allein zu sein, wurde immer stärker. Die Regeln, die Mama und Papa mir auferlegten, schnürten mich immer mehr ein und von Monat zu Monat wurde mein Wunsch, aus diesem engen Korsett auszubrechen, stärker. Ich wollte weg! Ich wollte ausziehen und endlich mein Leben leben.
Im Februar gab es einen Tag der offenen Tür in dem Krankenhaus, in dem ich ab dem Sommer meine Krankenschwesternausbildung machen würde. Eingeladen waren alle Krankenpflege-Schülerinnen, die in diesem Jahr dort beginnen würden. Mama begleitete mich. Ich war erstaunt, wie groß das Krankenhaus war. Eine kleine dicke Nonne führte uns zusammen mit einer Schwesternschülerin aus dem letzten Ausbildungsjahr über das Gelände. Irgendwann blieben wir vor einem mehrstöckigen Gebäude, das etwas abseits stand, stehen.
»Das hier ist das Schwesternwohnheim. Die meisten der Nonnen aus der Krankenpflege wohnen hier und eine ganze Reihe der Schwesternschülerinnen«, sagte die junge Krankenschwester.
»Es sind noch Zimmer frei. Also, wer noch eine günstige Bleibe in direkter Nähe zu seinem Arbeitsplatz sucht, sollte sich bald bei uns melden«, warb die kleine dicke Nonne und fügte grinsend hinzu: »Ein Party-Hotel ist das allerdings nicht, meine Damen. Nicht, dass Sie sich da falsche Hoffnungen machen. Fünfzehn Nonnen mit guten Ohren passen auf Sie auf!«
Einige der Mädchen lachten.
Ich war wie elektrisiert. War das vielleicht die Lösung? Egal, wie streng die Nonnen waren, so würde ich der ständigen Kontrolle meiner Eltern entgehen und konnte endlich selbst über mein Leben entscheiden. Ich brauchte einfach Freiheit! Lieber ein Nonnenschwesternheim als diese völlig erstarrte Atmosphäre, der ständige Ärger und all die Verbote zu Hause.
Nach der Führung über das Gelände wurden wir noch zu Tee und Gebäck in einen Aufenthaltsraum geladen und ich hatte Gelegenheit, mit zwei Schwesternschülerinnen zu sprechen, die im Wohnheim wohnten.
»Ist das wirklich so streng bei euch, wie die Nonne gesagt hat?«, fragte ich.
»Ach, das ist lange nicht so schlimm! Offiziell heißt es zwar, dass nach Dienstschluss um 22.00 Uhr die Haustür abgeschlossen wird und keiner mehr raus darf. Aber es gibt noch ein paar andere Möglichkeiten, raus und rein zu kommen.« Sie zwinkerte mir zu. »Solange wir es nicht übertreiben, keine Partys feiern, immer alles aufgeräumt ist und wir pünktlich zum Dienst erscheinen, ist das alles kein Ding. Die Nonnen sind da schon in Ordnung.«
Mein Herz hüpfte. Jetzt musste ich nur noch Mama überzeugen.
Das war schwieriger, als ich gedacht hatte. Doch nach langen Diskussionen willigten Mama und Papa schließlich ein. Das letzte Jahr, nachdem ich sechzehn geworden war, war an uns allen nicht spurlos vorbeigegangen. Ein normales Gespräch ohne Vorwürfe, Stress und Schreierei war bei einem ernsten Thema kaum noch möglich zwischen uns. Natürlich machte Mama mir sofort klar, dass ich nicht zu glauben brauchte, dass mich im Wohnheim die große Freiheit erwartete. Solange ich noch nicht achtzehn war, blieben die Regeln die gleichen, egal, wo ich wohnte. Sie hatte mir immer noch nicht verziehen, dass ich sie angelogen hatte, als ich bei Christian übernachtet hatte. Dass ich mit ihm Schluss gemacht hatte, änderte daran auch nichts. Auch die Geschichte mit dem Schwarzfahren nagte noch an ihr und wurde mir in regelmäßigen Abständen immer wieder aufs Brot geschmiert.
Sie ließ mich schließlich nur unter der Bedingung ins Wohnheim ziehen, dass ich die Wochenenden, an denen ich nicht arbeiten musste, zu Hause verbringen und weiterhin mit in den Sonntags-Gottesdienst gehen würde.
Zwischen Mamas Augenbrauen hatte sich in den letzten Monaten eine steile Falte eingegraben. Wo war die Mama meiner Kindheit geblieben, an die ich mich jederzeit kuscheln konnte, wenn es mir schlecht ging? Warum war sie so hart geworden und warum war alles so verfahren zu Hause?
Ich wusste es nicht, aber am Schluss zählte für mich nur die Entscheidung, dass ich ausziehen durfte und damit bald mehr ich selbst sein konnte.