Zwei Welten
Das Schönste im Leben ist, dass unsere Seelen nicht aufhören, an jenen Orten zu verweilen, wo wir einmal glücklich waren.
KHALIL GIBRAN
»Hey, Janine, der Ball ist heiß, gleich treff ich dich!« Markus holte weit aus, als könnte er die Wucht des Aufpralls damit steigern. Gar nicht so einfach mit einem Softball.
Ich grinste.
»Du kriegst mich niemals! Dazu müsstest du ja zielen können«, rief ich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich wollte gewinnen, auch wenn die Lage im Moment eher aussichtslos war. Ich hatte diesmal die Loser-Mannschaft erwischt und nur noch Claudi und ich standen auf dem Feld. Alle anderen waren »Geister« und mussten außerhalb des Feldes bleiben, das wir mit weißen Kreidesteinen auf den Asphalt gemalt hatten. Markus zielte, warf, und mit einer blitzschnellen Bewegung nach rechts drehte ich mich dem Ball entgegen.
»Gefangen! Gefangen!«, triumphierte ich und hüpfte mit dem Ball in der Hand auf und ab, als wäre ich ein Flummi.
»Blöde Kuh!«, sagte Markus.
Er ärgerte sich schwarz. Ich war zwar gerade erst neun geworden, aber im Völkerball war ich auch für die Älteren kaum zu schlagen. Markus war schon zehn und ging in die vierte Klasse. Ich ging in die dritte. Markus fand es blöd, dass ich ihm immer entwischte, und dachte sich ständig neue Beschimpfungen für mich aus. Aber das war mir egal, solange ich gewann. Meine Mannschaft jubelte. Völkerball war das Beste überhaupt. Mein absolutes Lieblingsspiel.
Seit einer Woche waren Osterferien. »Kaum zu glauben, wie warm es schon ist. Dabei ist doch erst Ende März!«, sagte Mama ungefähr zehn Mal am Tag. In unserer Straße gab es nur noch eins: Völkerball spielen, bis die Laternen angingen und unsere Mütter uns zum Abendessen riefen. Alle Kinder wohnten in einem der Reihenhäuser, die eigentlich alle gleich aussahen: Jägerzaun, Vorgarten, Haustür mit Vordach, zwei Fenster unten, zwei Fenster oben, rote Dachziegel. Bei manchen hatte das Vordach Ziegel, bei anderen war es aus gewelltem Glas. Manche Häuser waren grün, andere braun und wieder andere weiß. Das waren die einzigen Unterschiede. Hinten hatten wir alle noch einen kleinen Garten und eine Terrasse, auf der wir manchmal mit den Nachbarn grillten. Auf der Straße parkten ein paar Autos. Außer unseren Eltern, unseren Verwandten und Bekannten fuhr hier niemand rum. Es gab hier auch keine Läden. Nur jede Menge Reihenhäuser, Gärten und Garagen. Wir konnten die ganze Straße als Spielfeld benutzen.
Mist, Claudi war getroffen und zum Geist geworden! Jetzt hing alles an mir. Vor Spannung kribbelte es in meinen Fingern.
»Ach du Scheiße, schaut euch den Wagen an!«, rief Tobias plötzlich und starrte mit offenem Mund die Straße hinunter. Die anderen Kinder folgten seinem Blick. Langsam näherte sich ein goldbrauner Porsche. Cabrio. Mit offenem Dach, obwohl es doch noch gar nicht Sommer war. Er passte in diese Siedlung wie ein Pfau in einen Ententeich, dachte ich und wandte mich ab. Wie aus einer anderen Welt.
»Getroffen! Getroffen!« Markus jubelte, als der Softball mich am Rücken traf. Aber keiner beachtete ihn. Ich drehte mich um und streckte ihm die Zunge raus. »Blödmann!«, sagte ich.
Alle anderen Kinder beobachteten den Porsche. Er hielt direkt neben unserem Spielfeld. Der Fahrer hatte den Ellenbogen auf den Türrahmen gelehnt. Er hatte braunes Haar, das hinten im Nacken etwas länger war, und trug einen Schnauzbart. Außerdem eine Sonnenbrille mit großen, tropfenförmigen Gläsern, die oben etwas dunkler getönt waren als unten. Neben ihm saß eine wunderschöne blonde Frau. Sie stieg aus dem Wagen. Ihre endlos langen Beine steckten in hochhackigen, spitzen Schuhen und schwarzen Strumpfhosen. Sie trug einen türkisfarbenen Minirock, eine enge Bluse und riesige pinkfarbene Plastikohrringe. Sie sah umwerfend aus.
»Deine Mutter sieht toll aus!«, sagte Claudi.
»Jaaa, na ja, geht so«, murmelte ich. »Können wir jetzt weiterspielen?«
Keiner antwortete. Einerseits fand ich es cool, dass meine Freunde meine Mutter so super fanden. Sie war ganz anders als alle unsere anderen Mütter. Ganz anders als Mama. Andererseits konnten wir jetzt nicht mehr weiterspielen. Ich zumindest nicht. Das ärgerte mich. Ich musste aufhören, das zu tun, was mir Spaß machte. Wozu ich richtig Lust hatte. Was ich am liebsten tat. Um das zu tun, was sie gerne tat. Denn es war mal wieder so weit: Irgendjemand hatte bestimmt, dass ich dieses Wochenende bei meiner Mutter verbringen würde. Letzten Sonntag hatte ich Geburtstag gehabt und war neun Jahre alt geworden. Am Montag hatte mich meine Mutter abgeholt und wir waren zusammen mit ihren beiden Cousinen italienisch Essen gegangen.
Sie hatte mir das Barbie-Pferd geschenkt, das ich mir gewünscht hatte. Und dazu eine Crystal Barbie, die hatte ein weißes, glitzerndes langes Kleid an, Diamantenohrringe und einen Tüllumhang. Und eine Skipper, Barbies jüngere Schwester. Danach hatte sie keine Zeit mehr gehabt, deshalb hatte sie mich wieder nach Hause gefahren. Obwohl ja eigentlich gerade Osterferien waren und ich auch bei ihr hätte schlafen können, weil am nächsten Tag keine Schule war. Das ging aber nicht, deshalb holte sie mich heute am Freitag noch einmal ab.
»Janine, Schätzchen, komm, trödel nicht! Sag schnell Tschüss zu deiner Mama und dann lass uns fahren. Wir müssen um sechs zu Hause sein, später kommen meine Freundinnen zu Besuch. Ach ja, das hier ist übrigens Ralf.« Sie deutete auf den Fahrer des Porsche. Ich lief schnell nach Hause und sagte Mama Bescheid, dass sie da war.
»Vergiss deine Jacke nicht, Maus. Es soll kalt werden morgen.« Mama drückte mich ganz fest und gab mir einen Kuss.
»Ich hab dich lieb«, sagte sie leise an meinem Ohr.
In der Zwischenzeit hatten sich alle Kinder um das Auto geschart. Die Jungs starrten wie gebannt auf den Sportwagen. Die Mädchen auf den Minirock meiner Mutter. Sie lächelte wie in einem Modekatalog. Und auch ich musste jetzt lächeln. Meine Mutter war cool. Voll cool.
Papa kam gerade zurück vom Joggen. Ich sah ihn eine Seitenstraße vor unserer noch einmal abbiegen. Er hatte wohl keine Lust, meine Mutter zu treffen, und lief noch eine Runde länger.
Der Porsche beamte uns von Köln-Frechen in eine andere Welt. Ralf hatte auf der Fahrt fast nichts gesagt und sich vor dem Haus schon wieder von uns verabschiedet. Ich wusste nicht, ob ich ihn überhaupt noch einmal zu Gesicht kriegen würde.
Bei meiner Mutter war alles anders als zu Hause: bunter und glänzender als bei uns. Ihre Wasserhähne waren golden und verschnörkelt. Die Hebel, an denen man drehen musste, damit Wasser herauskam, hatten die Form von kleinen Flügeln. Ich mochte es, mit den Fingern an den Schnörkeln entlangzufahren. Ihre Wohnung war kleiner als unser Haus, aber sie hatte einen sehr großen Kleiderschrank und war die einzige Frau, die ich kannte, die immer Stöckelschuhe trug. Niemand in unserer Siedlung trug Stöckelschuhe. Nicht einmal zu Weihnachten.
In ihrer Wohnung gab es einen großen Raum, der Wohn- und Esszimmer zusammen war. An der Seite, wo es zur Küche ging, stand ein runder Esstisch aus Glas, um den sechs glänzende Metallstühle passten. An der Wand hing ein Foto von einem Sonnenuntergang, vor dem sich die Umrisse eines schwarzen Vogels abzeichneten, der am Himmel kreiste. Gegenüber hingen Bilder, die nur aussahen wie Fotos, in Wahrheit aber gemalt waren. Auf einem war eine knallrote Kirsche, die gerade mit einem großen Platsch in einen rosa Cocktail fiel. Im Wohnzimmer hatte sie noch eine weiße Couch, in die man sich richtig tief reinlümmeln konnte. Und einen Couchtisch aus einem weißen, glatten Stein, der sich immer kühl anfasste.
Sie hatte auch einen Pudel. Er hieß einfach nur »Pudel« und trug meistens ein Halsband mit Strasssteinen. Ich mochte ihn überhaupt nicht.
Etwas unschlüssig folgte ich ihr ins Schlafzimmer und setzte mich auf ihr riesiges, weiches Bett.
»Janine-Schätzchen, soll ich dich schminken?«
»Mhm, gerne«, murmelte ich. Schminken mochte ich.
»Und morgen gehen wir erst mal einkaufen. Dann kauf ich dir ein paar tolle T-Shirts. Pink würde dir sicher besser stehen als dieses Dunkelblau, in dem du da rumläufst. Das ist doch total langweilig und trist!«
»Okay«, sagte ich. Ich liebte mein dunkelblaues T-Shirt. Immerhin hatte es eine gelbe Blume auf der Brusttasche. Mama hatte es mir erst vor ein paar Wochen zu meinem neunten Geburtstag geschenkt.
Sie nahm ein pinkfarbenes Lipgloss von der Frisierkommode und setzte sich vor mich auf einen Hocker. Ganz konzentriert guckte sie auf meine Lippen, während sie sie anmalte. Ich kannte niemanden, der so lange Wimpern hatte wie sie. Heute hatte sie knallblaue Wimperntusche genommen. Ihre Augen sahen immer aus wie Sterne.
Jetzt kam der Kajal – ich musste nach oben schauen und sie schob mit einem Finger leicht das Lid nach unten und malte einen Strich in die Innenseite über die Wimpern. Ich musste blinzeln, aber ich wusste, gleich würde ich wunderschön aussehen.
Sie lehnte sich zurück und sah mich prüfend an: »Wenn du groß bist, siehst du mal genauso aus wie ich. Gefällt dir das? Findest du mich schön?«
»Ja, klar!« Was für eine Frage! Sie war die schönste Frau, die ich kannte. Und die alle anderen Kinder in der Siedlung kannten.
Lächelnd drehte sie sich zur Frisierkommode um und zog die Schmuckschublade heraus.
»Guck mal, was hältst du von der Strasskette? Damit wirst du aussehen wie meine kleine Prinzessin!«
Sie hielt mir eine Kette mit tausend funkelnden Steinen vor die Nase. Ich wusste, sie hatte recht: Damit würde ich aussehen wie eine Prinzessin. Oder wie Crystal Barbie.
»Danke«, sagte ich.
Nach dem Schminken bestellten wir bei einem Lieferservice Spaghetti Bolognese. Sie schmeckten lecker. Nudeln waren mein Lieblingsessen. Bei meiner Mutter gab es eigentlich immer Nudeln. Manchmal auch Pizza. Beim Essen erzählte mir meine Mutter, was wir am nächsten Tag machen würden:
»Morgen fahren wir mit dem Taxi in die Stadt, das machst du doch so gerne! Ich will mir ein paar neue Schuhe kaufen und dazu eine passende Handtasche. Du bekommst etwas Schönes von Esprit oder Benetton, ja?«
»Ja, super!«, sagte ich. Mit dem Taxi fahren war toll, trotzdem musste ich ganz kurz an die anderen Kinder denken, die morgen wieder Völkerball spielen konnten.
Als wir aufgegessen hatten, klingelte es. Ich rannte zur Tür. Davor standen Muttis beste Freundinnen: Petra, Sandra und Renate. Die drei waren oft zu Besuch, manchmal brachte Petra mir irgendein Spielzeug mit.
»Hallo, Janine!«, begrüßte mich Petra und streichelte mir über den Kopf. Ich mochte es nicht so richtig, wenn mir jemand über den Kopf streichelte. Aber ich sagte lieber nichts.
»Sie ist dir wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Total süß!«, sagte Petra zu meiner Mutter und tat dabei so, als würde sie sie auf beide Wangen küssen.
Die Frauen setzten sich an den großen Esstisch. Meine Mutter goss jeder ein Glas Wein ein und stellte Chips, Erdnussflips und Salzstangen auf den Tisch. Ich wollte mich gerade auf einen der beiden freien Stühle setzen, da sagte sie: »Janine-Schätzchen, schau doch ein bisschen Video! Ich hab viele neue Filme da, such dir was aus!«, und deutete lächelnd auf die Couch und den Fernseher im Wohnzimmer.
Super! Videoschauen fand ich toll. Ich hüpfte zu dem Schränkchen, auf dem der Fernseher stand. In den Fächern darunter waren wie immer die neu ausgeliehenen Videos. Sofort hatte ich den besten Film gefunden. Ich schnappte mir die Kassette und hielt sie in die Höhe.
»Darf ich Rocky gucken?«, fragte ich vorsichtig. Ich wusste genau, dass Rocky ein Film für Erwachsene war. Zu Hause würden sie mir das nie erlauben. Egal, wie sehr ich darum bitten würde. Aber immerhin war ich ja jetzt schon neun.
»Ja, klar! Du weißt doch, du darfst gucken, was du willst!«, rief meine Mutter von der Essecke rüber. »Und jetzt lass uns ein bisschen quatschen, ja?«
Ich legte den Film in den Videorekorder, kuschelte mich auf die Couch und drückte auf die Fernbedienung. Plötzlich berührte mich etwas am Fuß. Ich guckte nach unten. Oh Mann, der Pudel!
»Na komm, hüpf hoch!«, forderte ich ihn auf und tätschelte auf den Platz neben mir. Doch der Pudel schaute nur ratlos aus seinen kleinen Augen und trottete wieder zurück ins Esszimmer.