Gerede
Kinder müssen mit Erwachsenen sehr viel Nachsicht haben.
ANTOINE DE SAINT-EXUPÉRY
Am Nachmittag hatte ich Probe von meinem Flötenchor in der Kirchengemeinde. Mama hatte auch einen Termin im Gemeindehaus, sie hatte sich mit ein paar anderen Frauen verabredet, um Sachen zu sortieren, die für die große Wohltätigkeitstombola abgegeben worden waren. Der Erlös sollte einem Hilfsprojekt unserer Gemeinde in Eritrea zugutekommen. Wir fuhren zusammen mit dem Fahrrad hin.
»Kannst du uns nach der Chorprobe noch helfen? Ulrike hat gesagt, dass furchtbar viele Sachen abgegeben worden sind. Wir müssen überlegen, was wir als Sachspenden nach Eritrea schicken und was wir für die Tombola nehmen. Außer mir ist nur noch Ulrike mit dabei und Frau Schäfer. Das wird ganz schön viel Arbeit!«
»Aber später bin ich doch noch beim Tanzen, Mama!«
»Das Tanztraining beginnt um 17.00 Uhr. Und die Chorprobe hört um 15.00 Uhr auf. Da kannst du doch noch ein halbes Stündchen mithelfen, oder?«
Manchmal war Mama echt gnadenlos. Je mehr ich meine Freizeit selbst gestaltete, umso stärker kontrollierte sie mich. Gelegentlich hatte ich das Gefühl, dass ihr jede Stunde, in der sie nicht genau wusste, mit was ich beschäftigt war, gegen den Strich ging. Als müsste ich immer unter Beobachtung stehen!
Und natürlich wusste sie, dass ich auf nichts, wirklich gar nichts so wenig Lust hatte, wie alte Klamotten und Kaffeemaschinen für diese blöde Tombola zu sortieren. Die Leute gaben da ihren Mist ab und viele Sachen musste man dann doch zur Müllkippe fahren, weil sie weder für die Tombola noch für die Leute in Eritrea geeignet waren. Warum konnte man die Menschen nicht einfach gleich um Geld bitten? Dann hätte ich heute auf jeden Fall ein paar Stunden Freizeit.
Weil ich wusste, dass Widerstand bei solchen Dingen bei Mama immer zwecklos war und ich meine einzige Ausrede, das Tanztraining, schon verbraten hatte, sagte ich: »Okay. Ich schau nach dem Flötenchor vorbei.«
Um kurz nach drei ging ich möglichst langsam die Treppe runter. Nach der Probe hatte ich noch ein bisschen mit Katja gequatscht. Wir waren schon lange zusammen im Flötenchor und unsere Eltern waren über die Gemeinde miteinander befreundet. Aber Katja hatte es eilig, sie schrieb morgen eine Klassenarbeit und musste noch lernen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als langsam die Treppe ins Erdgeschoss des Gemeindehauses runterzugehen. Der Proberaum für die verschiedenen Musikgruppen war im ersten Stock, unten war ein größerer Saal, wo genügend Platz war, um jede Menge Krempel auszubreiten. Dort waren Mama und die anderen Frauen und sortierten den alten Kram für die Tombola. Ihre Stimmen drangen durch die offene Saaltür ins Treppenhaus. Sonst war das Gemeindehaus heute Nachmittag leer.
Damit der kurze Weg durchs Treppenhaus möglichst lange dauerte, ging ich immer drei Stufen nach unten und dann wieder eine rückwärts nach oben. Dazu summte ich das Intro von Lullaby von The Cure. Ich mochte das Lied eigentlich gar nicht. Vielleicht lag das auch an dem Video, das ich letzte Woche zum ersten Mal bei Formel Eins gesehen hatte. Das war echt gruselig. Wir probten im Jazzballett gerade eine neue Choreografie zu dem Lied. Deshalb ging es mir dauernd durch den Kopf, vor allem der Anfang, den wir letzte Woche immer und immer wieder proben mussten, weil es einige von uns einfach nicht hinbekamen, auf die Zwei und nicht auf die Eins loszulegen.
Noch fünf Stufen, dann wäre ich unten angekommen und musste in dem alten Kram rumwühlen.
»Ich hoffe mal, es ist kein Fehler, sie jetzt bis zehn abends wegzulassen. Ich bin mir immer so unsicher, was ich ihr erlauben soll und wo ich hart bleiben muss! Sie ist so anders, als Anne und Kerstin in dem Alter damals waren.«
Das war die Stimme meiner Mutter. Ich horchte auf und blieb stehen. Worüber redete sie? Ging es da etwa um mich?
»Ach Karin, zehn Uhr ist für die Kinder heute doch keine Zeit. Viele dürfen sogar länger weg. Du musst einfach wissen, ob du ihr vertrauen kannst.«
»Ja, das ist es ja gerade, Ulrike. Da bin ich mir manchmal nicht so sicher. Sie hat so einen Hang zu auffälliger Kleidung, Schminke und so einen Freiheitsdrang! Und wie sie aussieht, kleben die Jungs ja sicher nur so an ihr. Wenn ich es ihr erlauben würde, würde sie wahrscheinlich bis morgens durch die Gegend tanzen.«
»Ich will mich da nicht einmischen, Frau Kunze. Aber meine Susanne ist ja gerade mal zwei Jahre älter als die Janine. Und die fängt jetzt erst an, sich zu schminken, mit siebzehn. Ich kann Ihnen nur raten: Halten Sie die Janine besser kurz. Sicher ist sicher, gerade bei der Janine. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, hörte ich plötzlich eine dritte Stimme sagen. Sie musste Frau Schäfer gehören.
Die kannte ich kaum, aber sie war mir schon immer ein bisschen unsympathisch gewesen. Sie hatte eine Tochter, die zwei Jahre älter war als ich. Sie ging auf meine alte Schule, daher und aus der Kirche kannte ich sie vom Sehen. Ich hätte wetten können, dass die sich mit fünfzehn auch schon geschminkt hatte!
»Es ist ja noch keine Sünde, ein bisschen Spaß zu haben als Teenager. Wirklich sicher ist man sich bei diesen Fragen wahrscheinlich nie. Damit muss man leben als Mutter! So, hiermit sind wir fertig. Dann hol ich noch mal zwei neue Kleidersäcke aus dem Keller«, sagte meine Mutter entschieden. Ich hatte das Gefühl, sie wollte das Thema wechseln.
Kurz darauf kam sie auch schon aus der Tür des Saales. Da die Kellertreppe weiter vorne in Richtung der Haustür lag, drehte sie sich nicht zu mir um und sah mich nicht. Ich blieb wie angewurzelt stehen.
»Ich wollte mich wirklich nicht einmischen. So gut kenne ich die Frau Kunze ja nicht«, hörte ich Frau Schäfer wieder reden, sobald meine Mutter durch die Tür war und sie nicht mehr hören konnte.
»Aber diesen Drang, raus, feiern, kurze Röcke, das hat die Janine doch woanders her! Verstehen Sie mich nicht falsch, Janine ist ein nettes Mädchen und Frau Kunze ist bestimmt eine gute Pflegemutter. Aber ich glaube, die Kunzes sollten sich nichts vormachen, schon zu ihrem eigenen Schutz! Tja, manchmal hilft die beste Erziehung nichts, da können die gar nichts machen und es trifft sie auch keine Schuld. Aber wie ich schon sagte, der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm. Da können wir uns noch auf was gefasst machen, sag ich Ihnen.« Nach einer kurzen Pause setzte Frau Schäfer noch einmal nach: »Und ich bin ich nicht die Einzige, die das sagt.«
Wut stieg in mir auf. Was fiel der blöden Kuh eigentlich ein, so über mich zu lästern! Ich wusste noch nicht mal, was sie eigentlich meinte. Was war an mir denn anders als an den anderen Mädchen in meinem Alter? Dass ich nicht bei meiner leiblichen Mutter wohnte, aber das war auch schon alles. Was hatte ich denn bitte getan? Sich schminken war ja wohl kein Verbrechen!
»Na ja, Frau Schäfer, jetzt übertreiben Sie mal nicht. Die Janine ist vielleicht ein bisschen temperamentvoll im Moment, aber das sind andere Fünfzehnjährige auch. In dem Alter ist das doch ganz normal«, sagte Ulrike jetzt. Ich war Ulrike so dankbar, dass sie mich gegen die blöde Kuh in Schutz nahm. Auch wenn ich nicht so richtig verstand, was sie damit meinte, ich wäre »im Moment ein bisschen temperamentvoll«.
Ulrike kannte ich schon mein ganzes Leben. Sie und ihr Mann waren gut mit Mama und Papa befreundet. Wie alle Freunde von Mama und Papa und unsere Verwandten hatten sie mich immer ganz genauso behandelt wie Stefan, Kerstin und Anne. Obwohl alle wussten, dass ich kein leibliches Kind meiner Eltern war, machten sie nie einen Unterschied, genauso wie Mama und Papa. Ich war ihr Kind, Punkt.
Frau Schäfer schwieg und nach einer Weile fragte Ulrike sie nach ihrer Meinung zu irgendeinem Kleidungsstück. Damit war das Gespräch wieder bei anderen Themen.
»Ah, Janine, da bist du ja. Warum stehst du denn hier rum und gehst nicht rein? Komm rein, es gibt viel zu tun!«
Mama hatte mich entdeckt, als sie mit zwei vollen Kleidersäcken die Kellertreppe wieder raufkam. Ich nahm ihr einen der Säcke ab, gab ihr einen Kuss auf die Wange, und sobald Frau Schäfer es hören konnte, sagte ich betont brav:
»Ach Mama, ich bin doch froh, wenn ich mich nützlich machen kann.«
Mama schaute ein bisschen verwundert, schien sich aber zu freuen, dass ich plötzlich so eine Bilderbuchtochter geworden war. In der nächsten halben Stunde schleppte ich Kleidersäcke, sortierte wie eine Wilde und zeigte mich von meiner fleißigsten Seite. Danach konnte ich es mir nicht verkneifen, zu Frau Schäfer zu sagen:
»Schade, dass Ihre Tochter nicht auch zum Helfen gekommen ist. Mit ihr zusammen hätte es sicher noch mehr Spaß gemacht!« Ulrike konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und zwinkerte mir zu.