Pflegekind
Alles, was man vergessen hat,
schreit im Traum um Hilfe.
ELIAS CANETTI
Alles ist nass und kalt. Ich fühle mich so unwohl. So allein. Ich bin so furchtbar traurig. Niemand versteht mich, niemand ist da. Ich bin ganz allein in diesem Zimmer. Ich höre niemanden. Warum bin ich so allein? Ich friere so sehr. Und ich habe Hunger. Ich schreie, aber niemand kommt. Warum hört mich niemand? Ich schreie lauter und noch lauter und so laut ich überhaupt kann …
»Janine, wach auf! Was ist denn los? Hast du wieder schlecht geträumt, Maus?«
Ich machte schnell die Augen auf und sah mich um: Um mich herum war die hellblau-weiße Wolkentapete meines Zimmers. Gott sei Dank, ich war zu Hause in meinem Bett! Ich sah in das Gesicht meiner Mama, die sich über mich beugte. Ihre kühle Hand strich über meine Stirn. Zwischen ihren Augenbrauen war eine Falte, die da sonst nicht war.
Ich war so erleichtert, sie zu sehen, aber ich konnte ihr das nicht sagen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Die Tränen liefen mir von ganz alleine aus den Augen und ich musste dauernd nach Luft schnappen. Ich konnte gar nichts dagegen tun.
Sie nahm mich in die Arme, drückte mich und sagte: »Ach Schatz, es ist doch alles gut. Beruhige dich doch.«
»Ja, ich weiß, Mama«, schluchzte ich mühsam und setzte mich langsam auf. Es war sicher nur, weil ich wieder krank geworden war nach dem Wochenende bei Mutti. Ich hatte die ganze Zeit gefroren und geschwitzt gleichzeitig. Zwei Tage lang. Heute war es mir eigentlich schon wieder besser gegangen. Es waren doch Ferien. Und morgen wollte ich zu Oma. Ich hatte keine Lust mehr, krank zu sein und blöde Sachen zu träumen!
Wir setzten uns nebeneinander auf den Bettrand, sie legte den Arm um meine Schulter und wiegte uns beide sanft hin und her. Hin und her. Langsam hörte mein Herz auf, so laut zu pochen, und ich konnte wieder normal atmen.
»Mama, warum träume ich das immer? Ich will das nicht mehr träumen! Woher kommt das denn? Kannst du nicht machen, dass das aufhört?« Mama wusste doch alles, konnte sie denn nichts gegen diesen schrecklichen Traum tun?
»Ach Mäuschen, ich weiß es doch auch nicht. Das ist alles eine lange und schwierige Geschichte«, sagte sie leise.
»Was meinst du damit?«, fragte ich vorsichtig. Warum war sie plötzlich so komisch?
Mama antwortete nicht.
Nach einer langen Pause sagte sie: »Vielleicht erinnerst du dich in deinen Träumen manchmal daran, wie es war, bevor du zu uns gekommen bist.« Sie guckte an die Decke.
»Wieso bevor ich zu euch gekommen bin? Ich war doch immer bei euch!«, rief ich. Klar, ich wusste, dass ich nicht in Mamas Bauch gewesen war, so wie Kerstin und Anne, meine beiden großen Schwestern, und Stefan, mein kleiner Bruder. Ich kam aus dem Bauch meiner Mutter, die mich manchmal am Wochenende abholte. Aber sonst war ich immer bei Mama, Papa, Anne und Kerstin gewesen. Zumindest konnte ich mich an nichts anderes erinnern. Als ich zwei Jahre alt war, kam noch Stefan dazu, mein kleiner Bruder, den Mama geboren hatte, genauso wie Kerstin und Anne. Aber das war doch alles ganz normal, was hatte das mit diesem blöden Traum zu tun?
»Du weißt doch, dass nicht ich dich geboren habe, sondern deine Mutter, oder? Und dass du gleich danach zu uns gekommen bist?«
Ich nickte. »Klar.«
Sie lächelte. »Weißt du, wann wir uns das erste Mal gesehen haben?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Da warst du sechs Tage alt. Ein ganz kleines, süßes Baby. Du warst bei einer anderen Familie, aber dort ging es dir nicht so gut. Die Leute vom Jugendamt hatten Papa und mich angerufen und gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, diesmal ein Kind für länger zu nehmen. Sie sagten: ›Wir haben hier ein Kind, für das wir dringend eine Familie suchen. Die Mutter will es aber nicht zur Adoption freigeben, sondern nur auf unbestimmte Zeit in eine Pflegefamilie.‹ Wir hatten vorher ja schon manchmal Pflegekinder auf Zeit gehabt.« Mama sah mich nicht an, als sie das erzählte.
»Warum sind die denn nicht auch für immer bei euch geblieben?«, fragte ich, um ihre Gedanken zu unterbrechen. Dass es vor mir schon andere Pflegekinder bei Mama und Papa gegeben hatte, war irgendwie komisch.
»Wir haben nur in Notfällen ausgeholfen«, sagte sie und sah mich wieder an, »wenn die Mutter auf Kur war oder im Krankenhaus und sie nicht wusste, wo das Kind in dieser Zeit bleiben sollte.«
»Die Kinder mussten dann wieder zurück zu ihrer anderen Mutter?«
»Ja, so war das ja von Anfang an abgemacht.«
Mir kam plötzlich ein schrecklicher Verdacht. Obwohl ich mich fast so sehr vor der Antwort fürchtete wie vor dem bösen Traum, fragte ich: »Und was habt ihr für mich abgemacht?«
Meine Mama antwortete lange nichts. Dann erzählte sie einfach weiter: »Als wir dich bei der anderen Familie besucht haben, war ich sehr traurig. Im Flur habe ich angefangen zu weinen und zu Papa gesagt: ›Wir können sie doch nicht hierlassen, wir müssen sie doch mitnehmen!‹ Aber das ging natürlich nicht so schnell. Deine Mutter wollte sich noch von dir verabschieden. Trotzdem war ich mir in dem Moment ganz sicher, dass du zu uns gehörst und wir dich zu uns nehmen werden. Abends haben wir lange darüber diskutiert. Auch mit Oma Anna.«
»Warum habt ihr denn so lange diskutiert? Wenn ihr mich doch eigentlich gleich mitnehmen wolltet?« Hatte ich irgendetwas verpasst? Oder nicht verstanden?
Meine Mama sah mich lange schweigend an. Wieder war da diese Falte zwischen ihren Augenbrauen.
»Das erzähl ich dir, wenn du größer bist, mein Schatz. Schlaf jetzt wieder. Ich bleibe noch hier sitzen, bis du eingeschlafen bist, dann kommt der böse Traum nicht wieder, ja?«
Ich legte mich wieder unter die Decke, nahm Cheeta, das kleine Steiff-Äffchen, das mir meine Oma geschenkt hatte, in den Arm und machte die Augen zu. Plötzlich kam mir ein Gedanke und ich setzte mich wieder auf:
»Mama, musste meine Mutter eigentlich auch ins Krankenhaus? Oder auf Kur?«
Sie streichelte mir über den Kopf und sagte nur: »Schlaf jetzt, Mäuschen, morgen willst du doch mit Oma in den Zoo gehen. Da kriegst du ja kein Auge auf, wenn wir heute die ganze Nacht verquatschen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Mama.«