Urlaub in Österreich
Verständnis kommt uns durch die Liebe.
RICHARD WAGNER
Im letzten Jahr hatte es viel Streit gegeben. Obwohl sie uns so viel Angst gemacht hatten, hatte ich meine Mutter und Helmut auch nach dem schrecklichen Anruf kurz vor Weihnachten ab und zu am Wochenende besucht. Aber es war nicht mehr wie früher. Seit dem Anruf, als sie mich das erste Mal von zu Hause wegholen wollten, hatte ich keine richtige Lust mehr, sie zu besuchen, aber ich wusste, dass ich das nicht sagen durfte. Mama sagte immer, es wäre besser, wenn ich nett zu ihnen wäre. Das versuchte ich auch. Aber ich fand es einfach ungerecht, dass immer alles so sein musste, wie sie wollten. Manchmal schrien sie dann wieder ins Telefon. Das war seit Weihnachten noch drei Mal passiert: Irgendwann kurz nach Karneval, dann eine Woche nach meinem zwölften Geburtstag und das letzte Mal zwei Wochen, bevor wir in den Urlaub gefahren waren. Sie schrien jedes Mal »Wir holen jetzt das Kind!«. Mama flippte dann immer aus, weinte und machte sich Sorgen. Sie hatte jedes Mal Angst, dass die wirklich kommen. Ich auch ein bisschen. Aber sie kamen nie. Vor drei Wochen, als meine Mutter das letzte Mal gesagt hatte, sie würden mich jetzt gleich holen, hatte ich einfach aufgelegt und zu Mama gesagt:
»Wein doch nicht, die kommen sowieso nicht.«
Dann hatte ich mich in mein Zimmer gesetzt und mit dem Kassettenrekorder die Hitparade aufgenommen. Mein Lieblingslied aus der Hitparade war gerade Venus von Bananarama. Gerade als es kam, hatte meine Mutter wieder angerufen, um sich zu entschuldigen. Das machte sie jedes Mal.
Am Wochenende, bevor wir in den Urlaub gefahren waren, war ich zu Besuch bei ihnen. Meine Mutter war wahnsinnig nett zu mir. Sie kaufte mir zwei Kleider und einen Bikini für den Urlaub und schlug vor, ins Kino in A Chorus Line zu gehen. Sonst war ihr das immer zu langweilig, mit mir ins Kino zu gehen. Aber A Chorus Line hat sie wohl interessiert. Ich hatte den Film schon längst mit Kerstin zusammen gesehen, die genauso gerne Tanzfilme mochte wie ich. Mit ihr zusammen durfte ich ins Kino gehen, wenn wir bis neun Uhr wieder zu Hause waren. Kerstin war ja schon zwanzig, eine Erwachsene. Ich sagte Mutti nicht, dass ich den Film schon mit Kerstin gesehen hatte, und sah ihn mit ihr noch einmal an. Ich hätte ihn noch zehn Mal anschauen können, ohne dass mir langweilig würde!
»Musstest du auch auf so einer großen Bühne vortanzen?«, fragte ich sie nach dem Film.
»Wann hätte ich das denn tun sollen?«, sie war ganz verwundert.
»Na, damals, als du dich beworben hast als Tänzerin!«, erinnerte ich sie.
»Ach so, ja, so ähnlich. Nicht ganz so groß«, antwortete sie und winkte einer Freundin zu, die sie zufällig vor dem Kinoeingang auf dem Hohenzollernring gesehen hatte.
Meine Eltern hatten lange überlegt, ob wir wirklich nach Österreich fahren sollten. Im April dieses Jahres hatte es den Super-GAU in Tschernobyl gegeben und Österreich war näher an Tschernobyl als Köln. Deshalb hatten wir zuerst Angst, dass es dort für uns gefährlich sein könnte wegen der Strahlen. Aber zum Glück war das dann doch nicht der Fall, es hieß bloß, man solle keine Pilze sammeln gehen und kein Wild essen. Wild mochte ich sowieso nicht. Und so waren wir vor einer Woche mit dem Auto losgefahren nach Rust an den Neusiedler See. Das war ganz nahe an Ungarn, aber noch in Österreich. Stefan, Mama, Papa und ich. Kerstin wollte später noch mit dem Zug nachkommen.
Jetzt standen wir in Rust auf dem Marktplatz.
»Guckt mal, die Störche fliegen weg!«, rief Stefan und zeigte nach oben auf das Rathausdach.
Wir wollten gerade zu einer Fahrradtour durch die Weinberge aufbrechen und hatten uns beim Fahrradverleih um die Ecke Räder gemietet. Mein Rad war zu klein und hatte keine Gänge, das ärgerte mich, aber es war kein großes Rad mehr dagewesen, also hatte Papa gesagt, ich sollte das Kinderrad nehmen. Man könnte ja den Sattel hochstellen. Dabei hatte Patrizia, die Tochter der Pensionswirtin, mir heute Morgen ihr eigenes Rad für die Tour angeboten. Patrizia und ich hatten uns schon richtig angefreundet in der einen Woche, die wir hier waren. Gestern hatten wir zusammen Pfannkuchen bei ihnen in der Küche gemacht und danach Memory gespielt. Sie hatte gesagt, es wäre kein Problem, wenn ich ihr Rad haben wollte für den einen Tag, weil sie noch ein altes im Keller hätte und es heute eh nicht brauchte. Aber Papa hatte gemeint, ich bräuchte es ja für mehrere Tage und da wäre es besser, wenn ich ein eigenes hätte. Als es dann kein normales mehr gab, hatte er keine Lust gehabt, noch mal zurückzufahren, um Patrizias Fahrrad zu holen. Die Pension lag etwas außerhalb von Rust, ungefähr fünf Minuten mit dem Auto entfernt. Also musste ich das kleine Rad ohne Gänge nehmen, mit dem ich viel mehr treten musste als normal. Noch dazu kam ich mir blöd vor, weil ich viel zu groß dafür war. Das sah sicher bescheuert aus.
»Du bist doch eine super Sportlerin, freu dich, so bekommst du ein extra Training!«, hatte Papa gesagt. Haha.
Wir waren gerade erst losgefahren vom Fahrradverleih und standen jetzt auf dem Marktplatz. Auf dem Dach hatte Stefan die Störche entdeckt. Auf dem Schornstein des Rathauses war ihr Nest. Wir guckten jeden Tag nach, was sie machten. Ob sie in ihrem Nest saßen oder ob sie unterwegs waren. Gerade waren sie losgeflogen und ich hatte zum ersten Mal gesehen, wie riesig sie waren. Wenn sie hoch in der Luft waren oder in ihrem Nest saßen, konnte man das gar nicht so sehen.
Wir folgten dem Radweg aus Rust raus in Richtung Oggau. Papa fuhr vor, dahinter kam Stefan, dann Mama, dann ich. Mama war normalerweise die langsamste, deshalb fuhr ich ganz hinten, damit sie nicht verloren ging. Das hatte ich vorgeschlagen. Sie machte zwar dauernd Diät, aber das half nicht so richtig. Papa war schon immer dünn, genauso wie Stefan, Kerstin, Anne und ich. Er machte viel Sport, spielte Tennis und ging joggen. Er liebte Wanderungen. Mama ging auch lieber wandern als radfahren, aber Stefan hatte sich für heute eine Radtour gewünscht. Zum Glück! Wandern war voll langweilig.
Seit zwei Jahren war ich im Schwimmen beim DJK und machte Leichtathletik beim Postsportverein. Außerdem wollte ich nach den Sommerferien mit Jazzballett anfangen. Eigentlich würde ich lieber richtiges Ballett machen, aber Mama sagte, das mache die Gelenke kaputt. Ich war also gut trainiert. Trotzdem fand ich es ganz schön anstrengend, mit dem kleinen Rad zu fahren.
»Können wir mal kurz eine Pause machen?«, rief ich nach vorne. Aber wir hatten Gegenwind und fuhren auf einer Landstraße. Dauernd überholten uns Autos. Mama, die vor mir fuhr, hörte mich nicht. Und Papa erst recht nicht, der war mit Stefan noch viel weiter vorne.
Nach der Landstraße bogen wir ab auf einen kleineren Schotterweg, der in die Weinberge hochführte. Papa musste auf die Karte gucken und hielt kurz an. So konnten wir Papa und Stefan schnell wieder einholen.
»Könnt ihr ein bisschen langsamer fahren? Mit dem kleinen Rad ist das voll anstrengend«, sagte ich. Ich war außer Puste und hatte schlechte Laune. Blödes Kinderfahrrad!
»Janine, motz nicht rum. Das schaffst du schon, da trittst du eben zwei Mal mehr! Das gibt Muckis«, sagte Papa und grinste. »Sogar Mama kommt doch gut mit!«
»Was heißt hier ›sogar‹! Keine Witze auf meine Kosten! Sonst trete ich im nächsten Gasthaus in den Sitzstreik!«, gab Mama zurück.
Der Weg ging steiler nach oben, als ich gedacht hatte. Nach fünfzig Metern stieg ich aus dem Sattel, um mehr Kraft zu haben und nicht schieben zu müssen. Plötzlich machte es Ratsch! und ich trat ins Leere. Ich konnte das Gleichgewicht nicht mehr halten und fiel auf den Schotter.
»Verdammter Mist! Die Kette ist rausgeflogen! Scheiß-Fahrrad!«, brüllte ich und trat im Liegen gegen den Reifen. Mein rechtes Knie war aufgeschürft und blutete leicht. Ich rappelte mich hoch.
Mama, Papa und Stefan hielten an und drehten sich um. Papa kam die hundert Meter, die er mir voraus gewesen war, wieder zurück.
»Was ist denn los?«
»Die Kette ist raus! Blödes Scheiß-Rad!« Ich trat noch mal dagegen.
»Hör auf zu fluchen, die Kette haben wir schnell wieder drin, dann geht’s weiter. Reg dich ab und spar dir deine Energie fürs Strampeln.«
Papa stieg ab, hob mein Rad auf und stellte es auf Sattel und Lenker.
Ich war so wütend! Papa war so doof!
»Dir ist es doch total egal, ob ich mitkomme oder nicht. Ich bin doch nur ein Klotz am Bein für dich.«
»Janine, jetzt stell dich nicht so an! Ich mach die Kette wieder rein und dann fahren wir weiter. Das Rad ist völlig okay, es gibt überhaupt keinen Grund, sich so aufzuregen«, sagte Papa und fummelte an der Kette rum.
»Ich bin es dir doch noch nicht mal wert, ein anständiges Rad zu besorgen! Es ist dir voll egal, ob ich bei euch bin oder nicht. Die könnte mich doch jederzeit holen und dir wär das doch sowieso wurscht!«, schrie ich. Die Worte kamen ganz automatisch. Die Tränen auch. Sie liefen mir über das Gesicht, das sich ganz heiß anfühlte.
Papa hörte auf, das Fahrrad zu reparieren, und sah mich an. Aber er sagte nichts. Dann machte er sich wieder an dem Fahrrad zu schaffen. Niemand sagte ein Wort. Mama klammerte sich mit der linken Hand am Lenker fest, die Rechte hielt sie vor den Mund. An ihren Augen sah ich, dass sie weinte. Als die Kette wieder drin war, stellte Papa das Fahrrad wieder auf die Räder.
»Wir fahren zurück. Du nimmst mein Fahrrad«, sagte er. Sein Gesicht war ganz starr und weiß. Dann setzte er sich auf das Kinderfahrrad und fuhr in einem Affenzahn den Berg runter.
»Oh Mann, warum kehren wir denn jetzt um?«, maulte Stefan und kickte einen Stein weg.
Meine Wut war plötzlich verschwunden. Ich war total erschöpft und traurig. Ich ging zu Papas Fahrrad und fuhr hinter Stefan und Mama den Berg hinunter. Der Sattel war viel zu hoch, aber das war mir jetzt alles egal und ich fuhr die meiste Zeit im Stehen.
Wir hatten die Räder für drei Tage gebucht, deshalb fuhr Papa nicht zum Fahrradverleih in Rust zurück, sondern in unsere Pension. Ich hatte einen Kloß im Hals.
Als wir die Fahrräder abgeschlossen hatten, hatte Papa immer noch kein Wort gesagt und mich nicht angesehen. Also hatte ich recht gehabt. Den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich ging ins Haus und hinauf in das Zimmer, in dem ich zusammen mit Stefan schlief, und legte mich auf mein Bett. Jetzt kamen noch mehr Tränen. Aber es waren keine Wuttränen mehr, sondern Traurigkeitstränen. Ich hatte mich noch nie mit Papa gestritten.
Als es Abend wurde, klopfte es. Mama blieb in der offenen Tür stehen.
»Machst du dich fertig? Wir wollen nach Rust fahren und essen gehen«, sagte sie. Ihre Augen waren verheult.
»Ich habe keinen Hunger, ich bleibe hier«, sagte ich.
»Schatz, du musst doch was essen!«
»Ich bleibe hier.«
Sie nickte. Als sie weg waren, ging ich zu Patrizia und ihrer Mutter in die Küche und fragte, ob ich ein Käsebrot bekommen konnte.
Beim Frühstück verkündete Mama, dass wir heute eine Bootsfahrt machen würden. Papa las Zeitung. Das Einzige, was er zu mir sagte, war »Guten Morgen«. Auch auf dem Weg zum Bootsanleger und auf dem Schiff redeten wir nicht miteinander. Stefan und Mama unterhielten sich und auf dem Schiff saß Papa neben Stefan, der sein Fußball-Sammelalbum dabeihatte. Er hatte es seit der Fußball-Weltmeisterschaft, die vor ein paar Monaten in Mexiko gewesen war. Obwohl die Weltmeisterschaft schon seit zwei Monaten vorbei war, schleppte er das Album immer noch mit sich rum und blätterte es dauernd wieder durch. Ich stellte mich an die Reling und schaute auf den See. Warum hatte Papa mir denn nicht widersprochen? Wär es ihm wirklich lieber, ich wäre bei meinen leiblichen Eltern? Hoffentlich fuhren wir bald wieder nach Hause.
Um fünf Uhr nachmittags legten wir wieder in Rust an. Stefan wollte noch schnell auf den Marktplatz, um nach den Störchen zu schauen. Aber sie waren ausgeflogen. Auf dem Weg zur Pension zurück kauften wir noch ein paar Sachen für das Abendessen: Brot, Salami, Käse, Tomaten, die hier Paradeiser hießen, und einen fertigen Kartoffelsalat.
Wir deckten im Garten der Pension unter einem der großen Bäume den Tisch und aßen dort zu Abend. Weit hinten war der See, hinter dem Schilfgürtel, der ihn umgab. Zwei große Vögel, vielleicht Störche, flogen hoch am Himmel herum. Als wir fertig waren, fragte Papa:
»Ich radle schnell zum Gasthaus im Ort und hole Eis zum Nachtisch. Was möchtet ihr?« Er war schon aufgestanden.
Ich antwortete nicht.
»Janine, möchtest du auch ein Eis?«, fragte er mich jetzt direkt.
»Von dir will ich gar nichts mehr! Ich bin dir doch sowieso total egal. Ich bin ja bloß das blöde Pflegekind!« Das war mir nur so rausgerutscht. Eigentlich meinte ich es gar nicht so.
Papa blieb wie erstarrt stehen und sagte gar nichts. Seine Unterlippe zitterte. Dann verzog er das Gesicht, bedeckte mit einer Hand seine Augen und drehte sich von uns weg. Seine Schultern bebten. Ich sprang auf, lief zu ihm hin und nahm seine Hand. Ich schaute zu ihm hoch, Papa war immer noch sehr viel größer als ich. Eine Träne lief auf seinem Gesicht herunter. Ich hatte Papa noch nie weinen sehen. Er blieb einfach so stehen.
»Peter, was …?«, fing Mama an, aber Papa machte eine abwehrende Handbewegung. Ich blieb neben ihm stehen und hielt seine Hand.
Mama und Stefan gingen in Richtung Haus an uns vorbei. Mama trug das Tablett mit den Essenssachen und dem Geschirr, Stefan hatte die restlichen beiden Teller in der Hand. Stefan drehte sich noch einmal um und sagte leise: »Papa?«
»Komm, Stefan, lassen wir die beiden einen Moment alleine. Papa und Janine haben etwas zu besprechen«, Mama schaute Papa an, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann sagte sie doch nichts und ging mit Stefan zum Haus.
Papa wischte sich mit einer Hand über die Augen und setzte sich wieder an den Gartentisch. Ich setzte mich daneben. Sein Gesicht war ganz fleckig, aber er weinte schon nicht mehr. Hatte er überhaupt geweint? Das kam mir ganz unwirklich vor. Zuerst sagte er gar nichts und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Dann fing er an:
»Weißt du, Janine, es ist für mich ganz schrecklich, dass du denkst, du wärst mir nicht wichtig.«
Er machte eine Pause. »Du weißt gar nicht, wie lieb ich dich habe. Und wie schlimm ich den Gedanken finde, dass deine Mutter dich von uns wegholen könnte. Das könnte ich nicht ertragen. Wir würden dich doch alle schrecklich vermissen. Ich würde dich gerne mehr beschützen können. Komm mal her!«
Ich stand auf und setzte mich auf seinen Schoß. Wir umarmten uns und jetzt musste ich auch kurz weinen.
»Es tut mir leid, Papa«, flüsterte ich in sein Ohr.
»Mir auch«, sagte er. »Egal, was passiert, du bist meine Tochter, vergiss das nicht, ja?«
Ich nickte.
»Ich sag das vielleicht nicht so oft wie Mama, weißt du. Aber deshalb hab ich dich bestimmt nicht weniger lieb.«
Ich glaube, es kostete ihn viel Mühe, das zu sagen. Ich nickte. Meine Kehle war immer noch wie zugeschnürt, aber ich war auch sehr froh über das, was er gesagt hatte.
»Kommst du mit, Eis kaufen?«, fragte er und lächelte. Um seine blauen Augen herum hatte er ganz viele kleine Falten in seinem braungebrannten Gesicht. »Am besten nimmst du Mamas Fahrrad.« Er zwinkerte mir zu.
Jetzt war er wieder der Alte. Ich nahm Anlauf und er trug mich huckepack zu den Fahrrädern.
Nach dem Urlaub kam ich in die siebte Klasse. Wir hatten ein paar neue Fächer dazugekriegt, unter anderem Französisch und Chemie. Französisch fand ich super, aber mit Chemie stand ich genauso auf Kriegsfuß wie mit Mathe und Physik. Mathe kapierte ich einfach nicht, es half auch nicht, wenn unser Lehrer es erklärte. Kerstin konnte viel besser erklären und vor der ersten Klassenarbeit übten wir zusammen. An einem Nachmittag im September saßen wir am Küchentisch und ich hatte gerade endlich verstanden, wie man ein Sechstel in Prozent umrechnete. Wieso verstand ich das bei Kerstin immer viel besser als in der Schule?
»Hallo ihr zwei, ich hab gerade die Urlaubsfotos abgeholt. Wollt ihr mal sehen?« Mama war gerade vollbepackt mit Einkaufstüten nach Hause gekommen.
»Au ja, machen wir Pause!« Auch wenn es mit Kerstin mehr Spaß machte als in der Schule, fand ich Urlaubsfotos natürlich spannender als Mathe.
Wir sahen uns die Fotos reihum an. Zuerst Mama, dann ich, dann Kerstin. Es gab viele Fotos von den Störchen: im Nest, als kleine Punkte am Himmel und sogar eins, auf dem ein Storch im Flug drauf war und man etwas erkennen konnte.
»Hier das hab ich gemacht!«, sagte Mama stolz und hielt es hoch.
Außerdem gab es einige Fotos von uns allen, wie wir um Gasthaustische herumsaßen und in die Kamera prosteten und »Cheese« sagten. Von uns allen außer Papa, um genau zu sein, der hatte meistens fotografiert. Von den Wanderungen durch die Weinberge hatten wir auch einige Fotos. Eins zeigte Papa und mich. Wir standen eng zusammen auf einem großen Stein und umarmten uns ganz fest, sonst hätten wir zu zweit gar keinen Platz auf dem Stein gehabt.
»Kann ich das haben?«, fragte ich Mama.
Sie schaute kurz auf, welches Foto ich meinte, und nickte. »Schönes Foto, nicht wahr? Hab auch ich gemacht! Du kannst es haben, ich lasse es nachmachen fürs Album.«
Plötzlich hatte ich eine Idee.
»Wo kann man Bilderrahmen kaufen?«
»Wieso willst du das denn wissen?«, fragte Mama.
»Das ist geheim«, sagte ich und grinste.
Mama überlegte.
»Unten an der Hauptstraße in dem kleinen Schreibwarenladen gibt es sicher welche«, antwortete sie schließlich.
»Darf ich da kurz hinfahren?«
»Ja, aber fahr vorsichtig und mach keine Umwege!«
Ich nickte, nahm das Foto und ging in mein Zimmer. Dort holte ich das Portemonnaie, in dem ich mein Taschengeld aufbewahrte, und radelte damit zum Schreibwarenladen.
Wenig später war ich wieder zurück. In meinem Zimmer nahm ich den kleinen Bilderrahmen aus der Tüte. Er war weiß und hatte Verzierungen aus kleinen Sternen. Ich löste die beiden Klammern, die den Karton und den Rahmen zusammenhielten, nahm das Bild von Papa und mir auf dem Stein und legte es auf die Glasplatte. Auf die Rückseite des Fotos legte ich das weiße Blatt, das genauso groß war wie die Glasplatte, und den Karton, den ich mit den Klammern wieder am Rahmen befestigte. Ich drehte den Rahmen um. Rund um unser Bild war ein zirka zwei Zentimeter breiter weißer Rand. Mir kam eine Idee. Ich öffnete den Rahmen wieder und nahm das weiße Blatt heraus. Mit einem blauen Glitzerstift aus meinem Federmäppchen schrieb ich ganz unten auf das Blatt:
Wenn alle Väter der Welt freundschaftlich ausgestreckte Hände hätten, so wäre es deine Hand, die ich halten würde! Janine
Papa freute sich total, als ich ihm das Bild nach dem Abendessen schenkte. Er stellte es auf die Anrichte im Esszimmer, wo wir es jeden Tag sehen konnten.