Wir gehören zusammen

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel auf,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.

JOSEPH VON EICHENDORFF

Mama öffnete die schwere Kirchentür. Es war ihr sehr wichtig gewesen, dass wir auf dem Weg ins Restaurant hierherkamen. Unsere Gespräche verstummten und meine Augen mussten sich erst an das Halbdunkel des Kircheninneren gewöhnen. Langsam gingen wir zu dem Marienaltar auf der linken Seite des Kirchenschiffs hinüber. Vor der kleinen Marienstatue standen die Halterungen mit den Gebetskerzen in mehreren Reihen. Im Luftzug der sich schließenden Kirchentür flackerten die brennenden Kerzen leicht. Hier hatten wir alle schon oft gestanden und für etwas gebetet oder uns für etwas bedankt. Ich zündete jeden Sonntag eine Kerze für Oma an und dachte an sie.

Jeder von uns warf etwas Geld in den Opferstock, nahm eine Kerze, zündete sie an und stellte sie in die Halterung. Dann falteten wir die Hände und ich schloss die Augen.

Meine Familie war meine Familie. Nicht die Probleme waren ausschlaggebend, sondern die Liebe. Das war eigentlich schon immer klar gewesen.

Wir hatten es geschafft. Wir hatten einen langen Kampf gewonnen. Vor zwei Stunden war unsere Anhörung vor Gericht zu Ende gegangen. Der Richter hatte gesagt, dass er die Adoption aussprechen würde. Das war der wichtigste Moment meines bisherigen Lebens gewesen. Und der feierlichste. Aber es würde sicher noch mehrere Tage dauern, bis ich das alles wirklich begreifen konnte.

Ich war so unendlich erleichtert, dass alles wieder gut war. Dass die letzten Jahre nichts zwischen uns dauerhaft zerstört hatten. Mama, Papa und ich wussten mittlerweile, dass es jahrelang eigentlich nur ein Problem zwischen uns gegeben hatte: Wir hatten keine komplette Familie sein dürfen. Alles war halb fertig gewesen, nicht wirklich entschieden und hing in der Luft. Die Angst, dass unsere Familie beim nächsten stärkeren Windstoß auseinanderbrach, und die Unsicherheit, die über allem lag, hatte beinahe alles für immer zerstört.

Sicher, ich war auch erwachsen geworden in den letzten Jahren, mit allen Querelen, die das mit sich brachte. Aber das Schlimmste war immer die fehlende Entscheidung gewesen, die uns vor Jahren verwehrt worden war.

Mein Gebet bestand heute nur aus einem Wort, das ich immer wieder in Gedanken wiederholte: Danke. Und ich wusste gar nicht genau, an wen sich dieses Danke richtete. An Gott, ja. Aber auch an meine Mutter. Dafür, dass sie mich geboren hatte und mir so eine tolle Familie gegeben hatte. Und vor allem an Mama und Papa, ohne die ich niemals die geworden wäre, die ich heute war. Die mich nie fallen gelassen hatten und die mir beigebracht hatten, nicht wegzurennen, sondern durchzuhalten und für mein Glück zu kämpfen.

Als wir die Kirche verließen, waren wir alle ergriffen. Anne, Kerstin, Stefan, Papa, Mama und ich – jedem von uns bedeutete dieser Augenblick sehr viel. Auch mein Freund Thomas war heute mitgekommen und ich freute mich, dass er dieses wichtige Erlebnis mit mir teilen konnte. Seit dem Drama bei meinem Auszug aus dem Schwesternwohnheim hatte er mich sehr unterstützt und war für mich da gewesen.

Wir machten uns auf den Weg zum Försterhof, einem teuren Restaurant bin der Nähe in das uns Papa zur Feier des Tages einlud. Langsam spazierten wir nebeneinander her.

Wenig später saßen wir an einem großen runden Tisch in einer Ecke des Gastraums. Es war erst halb sieben und das Restaurant noch relativ leer. Papa klopfte scherzhaft an sein Glas und räusperte sich absichtlich gekünstelt. Mit verstellter Stimme sagte er: »Silentium!« Ich musste lächeln über Papas Versuch, unsere feierliche Stimmung aufzulockern. Wir waren auch vorher schon ruhig gewesen. Es gab so viel zu sagen und doch waren wir alle schweigsam. Papa wurde ernst: »Jetzt seid ihr langsam alle erwachsen und bald werden nicht nur Kerstin und Anne, sondern auch Stefan und Janine endgültig aus dem Haus sein«, er sah jedem von uns in die Augen. »Während ihr aufgewachsen seid, hatten wir viele tolle Jahre alle zusammen, aber wir hatten auch ganz schreckliche Zeiten, in denen Mama und ich manchmal verzweifelt waren«, er nahm Mamas Hand und drückte sie. Sie nickte und tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln. Papa fuhr fort: »Diese Zeiten waren für uns alle hart. Jeder von uns hat auf seine Art darunter gelitten. Und jeder von uns hat auf seine Art geholfen, sie zu überstehen. Sicher haben diese Zeiten auch Wunden und Narben hinterlassen. Aber sie haben vor allem eins hinterlassen: eine Familie, die immer zusammenhält und immer zusammengehören wird. Endlich ist das nicht nur in unseren Herzen so, sondern auch auf dem Papier. Das wird sich nie mehr ändern. Das kann uns keiner mehr nehmen und das macht mich sehr, sehr glücklich!« Papa liefen zwei Tränen aus den Augen und Mama schluchzte. Sie sah dabei so glücklich aus, dass es mir kaum gelang, nicht vor lauter Rührung, Glück und Erleichterung mitzuweinen. Ich legte den Arm um sie und blickte in die Runde. Anne, Kerstin, Stefan, Thomas und Papa lächelten und erhoben ihre Gläser. Mama und ich nahmen unsere und wir stießen miteinander an, ohne noch etwas zu sagen. Es war allen klar, worauf wir tranken.

Seit dem Nachmittag waren wir eine Familie. Ich war kein Pflegekind mehr, sondern endlich einfach nur Janine. Janine Kunze.

Meine Tochter Lily wurde am 29. Juli 2003 geboren. Sie, ihre beiden Geschwister Lola, geboren am 2. Oktober 2007, und Luiz, geboren am 15. April 2010, und mein Mann Dirk sind heute meine Familie, die ich über alles liebe. Wie meine beiden Mütter habe auch ich jetzt etwas, das mich verletzlich macht, etwas, das ich verlieren könnte und für das ich alles auf der Welt tun würde, weil es mich so unendlich glücklich macht.