Mauern fallen

Die einzige Freude auf der Welt ist: Anfangen.
Es ist schön zu leben. Weil leben anfangen ist,
immer, in jedem Augenblick.

CESARE PAVESE

Nach den Ferien begann die zehnte Klasse, mein letztes Schuljahr auf der Realschule. Was Mama nicht davon abbrachte, weiterhin die strengsten Regeln in meinem ganzen Freundeskreis aufzustellen. Ich musste nach wie vor spätestens um Punkt zehn Uhr zu Hause sein. Waren die Klamotten zu kurz, zu modisch oder sonst wie falsch, gab es Zoff. Und das war oft. Stefan und auch Kerstin waren zunehmend genervt von unseren Streits, die sich immer wieder um das Gleiche drehten.

Mit dieser ganzen Klamottenthematik wäre meine leibliche Mutter sicher cooler umgegangen als Mama, dachte ich manchmal. Gleichzeitig verbot ich mir den Gedanken. Meine leibliche Mutter wurde mir schließlich immer fremder, je länger ich sie nicht sah. Sie gehörte nicht mehr zu meinem Leben. Daran würde sich nichts mehr ändern und daran sollte sich auch nichts ändern. Trotzdem wusste ich tief in mir drin, dass ich ihr ähnlich war. Das verwirrte mich. Am besten war es, gar nicht an sie zu denken.

Mama hatte die Hoffnung immer noch nicht ganz aufgegeben, dass ich vielleicht doch noch Abitur machen wollte. Aber ich reagierte allergisch auf das Thema, also redeten wir auch darüber nicht mehr.

So vergingen der August, der September und der Oktober. Mama versuchte immer wieder, mich dazu zu bringen, mit ihnen die Tagesschau anzusehen. Sie sagte, wer erwachsen werden wolle, müsse auch wissen, was in der Welt geschah. Aber ich fand Nachrichten gucken ziemlich langweilig und sagte zu Mama:

»Ganz ehrlich, warum soll ich mir das anschauen? Da kommt sowieso nur schreckliches Zeug, ich will das alles überhaupt nicht sehen, da krieg ich bloß schlechte Laune.«

Manchmal ging ich nach dem Abendessen trotzdem mit ihr und Papa ins Wohnzimmer und guckte Nachrichten, aber meistens ging ich einfach in mein Zimmer, wenn ich nicht sowieso später nach Hause kam, weil ich beim Training war.

Mama, Papa und Kerstin redeten jetzt viel über die Veränderungen in der DDR. Ich war noch nie dort gewesen, aber wir hatten Verwandte in der Nähe von Dresden, denen Mama immer Pakete schickte.

An einem Abend Anfang November hatte ich nichts Besseres zu tun und schaute mit Mama, Papa und Stefan Tagesschau. Es war ein seltener Moment, dass wir alle so friedlich zusammensaßen. Aber beim Fernsehen musste man ja auch nicht miteinander reden.

Gleich am Anfang wurde die Deutschlandkarte gezeigt. Links die große grüne Bundesrepublik, rechts die kleine grüne DDR mit einem Fleck namens Ost-Berlin. Darunter stand DDR öffnet Grenze. Der Sprecher erzählte etwas von Visa und Ausreise und einer Pressekonferenz. Das klang alles ziemlich kompliziert.

»Mama, was heißt das denn jetzt für die Leute in der DDR?«, fragte ich.

»Psst! Ruhe, ich muss zuhören! Das ist jetzt wichtig!«, zischte Mama.

Danach folgte ein Bericht über eine Pressekonferenz, auf der ein Mann mit Lesebrille ziemlich rumstotterte. Zum Schluss sagte der Sprecher des Beitrags: »Die Mauer soll über Nacht durchlässig werden.«

»Das gibt’s doch gar nicht!«, flüsterte Papa.

»Warum denn, was ist denn jetzt?«, fragte ich noch mal.

»So wie ich das verstehe, wird die DDR die Grenzen öffnen«, erklärte Mama. Dann starrte sie wieder fassungslos in den Fernseher und sagte: »Das kann ich gar nicht glauben!«

»Was ist dann mit der Mauer in Berlin?«, fragte Stefan.

»Ich weiß es nicht, Stefan, aber es könnte sein, … na ja, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen …«, unterbrach sich Papa. Er war mindestens genauso gebannt vom Geschehen wie Mama.

»Heißt das, die Mauer ist bald weg?«

»Das wäre ein Ding, das wäre …«, sagte Mama, mehr zu sich selbst.

Den Rest der Tagesschau ging es um die Flüchtlingswelle, das Reisegesetz, freie Wahlen und irgendeine Parteikonferenz. Vielleicht hatte Mama doch recht gehabt: Die Hintergründe verstand man wohl tatsächlich besser, wenn man jeden Abend Nachrichten schaute. Ich nahm mir vor, jetzt öfter Tagesschau zu gucken. Auch wenn ich es langweilig fand, wollte ich schon verstehen, was passierte. Von den DDR-Flüchtlingen, die über Ungarn und die Tschechoslowakei nach Deutschland kamen, hatte ich natürlich schon gehört. Aber ich verstand nicht, warum die DDR dann nicht gleich die Grenzen zu uns öffnete.

Nach der Tagesschau kam ein Fußballspiel, das Papa und Stefan angucken wollten. Ich ging nach oben und hörte Musik. Mama telefonierte mit Oma und versuchte rauszufinden, ob es bei unseren Verwandten in der DDR etwas Neues gab.

Am nächsten Morgen beim Frühstück waren Mama und Papa ganz aufgeregt. Sie hatten noch spätabends ferngesehen und hörten die ganze Zeit Deutschlandfunk. Die Mauer war tatsächlich gefallen! Beziehungsweise, die Mauer stand zwar noch, war aber keine Grenze mehr. Wer wollte, konnte nun einfach die Grenze passieren!

Als wir mittags aus der Schule kamen, schalteten wir sofort den Fernseher ein. Im Mittagsmagazin konnte ich endlich sehen, was in der Nacht passiert war und wovon alle in der Schule geredet hatten: jubelnde Menschenmassen, die über die Grenzübergänge in Berlin strömten, lachende und weinende Menschen, die sich in den Armen lagen. Hupende Trabis, aus denen Hände rauswinkten, und Menschen, die lachend auf die Autodächer klopften. Alle Leute, die interviewt wurden, lachten und freuten sich. Sie sagten, sie wollten nur mal auf dem Ku’damm ein Bier trinken. Dann kamen die Bilder, von denen in der Schule alle gesprochen hatten: Die Berliner Mauer – voll von Menschen! Die Leute zogen andere hinauf und alle, die oben standen, jubelten und riefen »Wir sind das Volk!« und »Die Mauer muss weg!«. Obwohl ich niemanden von den Menschen dort kannte, musste ich plötzlich weinen. Das war einfach so ergreifend! Die Leute waren so lange eingesperrt gewesen und plötzlich waren sie frei! Mama nahm meine Hand und wir saßen schniefend und gleichzeitig lachend vor dem Fernseher. Es war so schön, dass es mal nicht um unsere Probleme zu Hause ging. Zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich Mama wieder nah und konnte wieder mit ihr lachen.

Zwischendrin klingelte immer wieder das Telefon. Alle möglichen Verwandten riefen an und schließlich lud Mama alle ein, abends zu uns zu kommen. Onkel Jochen, Tante Ingrid, meine beiden Cousins und Oma Anna kamen gegen halb sieben zu uns. Mama hatte einen großen Topf Linsensuppe mit viel Speck, Gemüse und Würstchen gekocht, dazu gab es Schnittchen mit westfälischem Schinken und Zwiebelmettbrötchen. Wir setzten uns alle zusammen vor den Fernseher im Wohnzimmer und sahen uns zuerst die Heute-Nachrichten und danach die Tagesschau an. Tante Ingrid und Mama weinten immer wieder und als die Tagesschau vorbei war, erzählten die Erwachsenen von ihren Erinnerungen. Papa und Onkel Jochen konnten sich noch genau daran erinnern, als vor 28 Jahren die Mauer gebaut worden war. Das war für alle beängstigend gewesen. Papa sagte, er hätte nie gedacht, dass das alles einmal so ausgehen könnte. Ganz ohne Krieg und Gewalt. Papas Vater war im Zweiten Weltkrieg gestorben. Meine Eltern hatten eine ganz andere Jugend gehabt als ich. Das wurde mir heute mal wieder richtig bewusst.

Ich fragte, ob ich noch zu Silvia durfte, wir hatten heute Nachmittag telefoniert und uns verabredet. Oh Wunder, ich durfte! In der Tagesschau hatten sie gesagt, dass in allen deutschen Großstädten gefeiert wurde, und natürlich wollten wir gucken, was auf den Straßen los war. Ich sah Silvia und ein paar andere Freundinnen aus der Tanzgruppe schon auf der Bank am Spielplatz sitzen. Ich war spät dran, und sie wussten, dass ich hier sowieso vorbei musste auf dem Weg zu Silvia, sie hatten also auf mich gewartet. Es war schon zu spät, um noch nach Köln in die Innenstadt zu fahren, aber wir beschlossen, wenigstens zur Frechener Hauptstraße zu fahren und zu sehen, was dort so los war. Für einen Novemberabend waren tatsächlich viele Leute auf der Straße. Ein paar Autos fuhren mit offenen Fenstern, aus denen laute Musik schallte, und hupten. Ich hatte das Gefühl, dass eine ganz besondere Stimmung herrschte. Das Freiheitsgefühl der Leute aus dem Fernsehen hatte sich irgendwie auf alle anderen übertragen. Oder kam mir das nur so vor? Wir setzten uns in ein Café und bestellten Kirsch-Bananensaft.

»Hallo, Janine!«, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und konnte es nicht fassen: Christian Engels stand hinter meinem Stuhl und grinste! Wo kam denn der jetzt plötzlich her? Und warum sprach er mich an? Bis zu diesem Moment hätte ich geschworen, dass er meinen Namen gar nicht kannte.

Christian war drei Jahre älter als ich und der totale Mädchenschwarm. Ich kannte ihn vom Sehen. Jeder kannte ihn mindestens vom Sehen, weil er so wahnsinnig gut aussah. Er spielte mit Marco, Silvias großem Bruder, Fußball. Seine schwarzen Haare trug er wie meistens zurückgegelt, und er hatte leuchtende blaue Augen.

Mein Hirn war wie leergepustet. Nach einer Ewigkeit sagte ich:

»Hallo, Christian! Wo kommst du denn plötzlich her?«

Er sagte, dass er mit ein paar Kumpels in der Innenstadt gewesen war. Sie waren mit dem Auto über die Ringe gefahren. Es waren richtig viele Leute unterwegs gewesen, erzählte er.

»War total geil!«

Das glaubte ich ihm sofort.

»Und, was hast du gemacht?«, wollte er wissen.

Ich überlegte fieberhaft. Linsensuppe und Zwiebelmettbrötchen mit Onkel Jochen und Tante Ingrid war einfach zu uncool, um es jemandem wie Christian Engels zu erzählen. Mit Mama, Papa und dem kleinen Bruder vor dem Fernseher war auch nicht viel besser … Vielleicht, wenn ich Mama, Papa und den kleinen Bruder einfach wegließ?

»Äh, ich hab ferngesehen. Ich wollte mir das mal alles ausführlich angucken. Die ganzen Sachen aus Berlin und so, mit der Mauer und den Grenzen. Tagesschau und Heute.«

Er nickte und sah mir in die Augen. »Ja, das ist echt der Hammer, was da gerade passiert.«

Ich war drei Jahre jünger als er, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, dass das gar keine Rolle mehr spielte. Dass ihm das ganz egal war und er mich gar nicht als kleines Mädchen sah, wie ich bisher immer gedacht hatte. »Ich muss los, wir sehen uns«, sagte er plötzlich.

»Ah, äh … ja klar. Mach’s gut.«

»Bis dann«, sagte er, grinste und drehte sich um.

»Ja, bis dann«, quetschte ich noch raus, dann war er schon verschwunden. Hatte er gerade wirklich gesagt Wir sehen uns?

»Was war denn das jetzt?«

Das fragte ich mich auch, hätte ich Silvia am liebsten geantwortet.

»Du grinst ja, als wäre Weihnachten und Geburtstag zusammen. Ich dachte, du findest den voll blöd?«, flüsterte sie.

Ich hatte völlig vergessen, dass überhaupt noch irgendjemand außer mir in diesem Café saß.

»Du bist ja knallrot! So blöd ist er wohl doch nicht?«

»Geht so. Frauenheld halt«, sagte ich, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu grinsen. Silvia etwas vorzumachen, hatte sowieso keinen Sinn.

»Aha. Na ja, egal, was du von ihm hältst. Eins ist mal sicher: Der steht auf dich.«

»Dass der auf mich steht, ist ungefähr so wahrscheinlich wie, dass die morgen die Grenzen wieder zumachen«, sagte ich, aber ich fühlte mich auf einmal so frei und glücklich wie die gesamte DDR.