63.
Ratsch! Bild und Ton verschwanden wie abgeschnitten. Um Mitternacht stellten sie im Esslinger Klinikum mit einem Schlag die Fernsehgeräte aus, die an langen futuristischen Greifarmen unter der Decke hingen. Die Patienten brauchten ihren Schlaf.
Laura Cortese legte die Kopfhörer ab, drehte sich auf die Seite und versuchte, es ihrer Zimmergenossin gleichzutun, die schon seit zwei Stunden schnarchte, als wollte sie die Infusionsständer durchsägen. Aber das war einfacher gesagt, als getan. Ihre Gedanken kreisten um den Polizisten, seine Freundin, um die Aussagen, die sie zu einer Zielscheibe machten. Zum Glück war Alessio in Kalabrien in Sicherheit. Hoffentlich. Ganz genau wusste sie nicht, wie weit der Arm der Blutrache reichen würde. Aber er war immer noch Giorgios Sohn, dachte sie, und ein eingeschworenes Mitglied des Clans, dem sie doch wohl nichts tun würden. Sie wälzte sich hin und her. Schweiß lag wie ein klebriger Film zwischen ihren Schulterblättern, und sie stand auf, um das Fenster einen Spalt weit zu öffnen. Tief atmete sie die frische Nachtluft ein. Doch als sie zu ihrem Bett zurückkehrte, vibrierte ihr Handy, und sie wusste, dass sie für ihren Verrat bezahlen musste.
»Komm runter!«, sagte Gianluca.
»Weißt du, wie spät es ist? Das hier ist ein Krankenhaus.«
»Das ist egal. Der Haupteingang ist die ganze Nacht hindurch geöffnet wegen der Notaufnahme.«
»Ich …« Ihr versagte die Stimme. Vielleicht war es besser, wenn er ihr die Entscheidung abnahm. Wie in Trance angelte sie nach ihren Pantoffeln und dem Morgenmantel und verließ leise das Zimmer. Über der Tür zum Nebenraum leuchtete das rote Licht, das die Gegenwart der Nachtschwester anzeigte. Wenn sie sich beeilte, würde niemand ihre Abwesenheit bemerken. Eilig lief sie den Gang entlang, öffnete die Glastür und stieg die Treppe hinab. An ihrem Fuß hielt sie inne und dachte nach. Was tat sie da? Anstatt zu fliehen, irgendwo in den Katakomben des Krankenhauses unterzutauchen, im Heizungskeller, auf dem Dach oder in einer Besenkammer, lief sie ihrem Henker geradewegs in die Arme. Warum? Sie kannte die Antwort. Sie trug die Schuld an Giorgios Tod, einfach weil sie seine Frau gewesen war und ihn nicht aus den Fängen des Kraken befreien konnte. Versagerin, dachte sie, betrat die Halle und schob sich durch die Drehtür. Vielleicht würde sie wenigstens sich selbst freisprechen können, wenn sie Gianluca ein letztes Mal entgegentrat.
Draußen war die Nacht kühl und sternklar. Er stand in einer Nische nahe der Drehtür und rauchte. Wieder bewunderte sie ihn für seine Fähigkeit, mit der Umgebung zu verschmelzen, als würde er dazugehören. Niemand würde ihn für das halten, was er war.
»Komm!«, wiederholte er und ging ihr voran in Richtung Parkhaus, ohne sich umzudrehen. Lauras Anflüge von Rebellion verliefen im Sand, und sie fügte sich in ihr Schicksal. Das Parkhaus war ein offener Betonbau an der Straße. Sie erreichten das dritte Deck über eine Außentreppe. Jetzt, nach Mitternacht, waren die meisten Besucherparkplätze leer. Nur ein roter Polo und ein Passat in Graumetallic standen neben der Ausfahrt. Laura rieb sich die Augen, die im Neonlicht schmerzten, und folgte ihm zu seinem Geländewagen. Sie wusste, dass er korrekt bezahlen würde und den Parkschein bei solchen Gelegenheiten in der hinteren Jeanstasche aufbewahrte. Solange sie ihn kannte, war er nie durch eine Ordnungswidrigkeit aufgefallen. Dazu nahm er seine Aufgaben viel zu ernst. Er war ein fleißiger Schüler gewesen, ein gehorsamer Sohn von Rosaria, deren Briefe Laura ungelesen weggeworfen hatte, ein begabter Koch, ein Mörder, der seine Spuren perfekt verwischte.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie.
»Steig ein!« Er öffnete die Tür zum Beifahrersitz.
»Und wenn ich es nicht tue?«
Er schaute sie an, ein Lächeln auf seinen Lippen. »Was meinst du, was dann geschieht?«
Sie zuckte die Schultern. »Dann erschießt du mich hier.«
»Wohl kaum. Ich weiß, dass du mir gehorchen wirst.«
»Woher?«
»Weil du fünfzehn Jahre lang nach unseren Gesetzen gelebt hast und dich ihnen nicht entziehen kannst. Du steckst im System fest.«
»Aber ich habe mich widersetzt«, sagte sie zu schnell.
»Ja, indem du uns verraten hast, dreimal jetzt. Das erste Mal, indem du Giorgio von uns entfernt hast, bis er sich selbst nicht mehr kannte.«
»Und?«
»Heute Nacht. Woher sollte der Bulle sonst wissen, was er zu suchen hat. Vielleicht hat aber auch Leonie es ihm gesteckt.« Ein Schatten zog über seine Augen, wie der Flügel eines dunklen Vogels. Leonie, dachte sie verwundert.
»Und das dritte Mal?«, fragte sie. Wenigstens hatte sie die Organisation aufgemischt und wollte diese Verdienste mit ins Grab nehmen.
»Indem du Alessio zu dem erzogen hast, was er ist.«
Plötzlich erfüllte Laura ein wilder Stolz. In diesem Punkt hatte sie nicht versagt, hatte Alessio einen eigenen Willen antrainiert, ihm Widerstandskraft gegen das Böse eingetrichtert. Wenn er es nur einmal schaffen würde, sich gegen Gianluca aufzulehnen, hatte sich die Mühe gelohnt. Sie setzte einen Fuß auf den untersten Tritt des Geländewagens.
»Glaub ja nicht, dass mir das leicht fällt«, brummte Gianluca. »Du hättest es vorgestern geschickter anstellen können und schmerzloser.«
»Dein Mädchen hat mir das Leben gerettet. Leonie.« Sie schaute ihn prüfend an. Tatsächlich. Er kam fast um vor Schmerz. »Ist sie tot?«, fragte sie. Entweder er hatte es selbst getan, oder er hatte Kain dafür eingesetzt.
»Steig ein!« Seine Stimme hatte etwas von ihrer Unerschütterlichkeit verloren.
»Das würde ich schön bleiben lassen«, sagte eine Stimme auf der Fahrerseite des Porsche Cayenne. Der Mann trat aus dem Schatten und richtete eine Waffe auf Gianluca. Laura registrierte, dass er Italienisch sprach. Er hatte einen dunklen, wirren Haarschopf und war lässig elegant in eine Canvashose und ein rotes Hemd gekleidet, bei dem die drei obersten Knöpfe offenstanden.
»Wer sind Sie?«, fragte Gianluca auf Deutsch. Nichts deutete darauf hin, dass ihm die Situation entglitt.
»Mein Name ist Andrea Girolamo«, sagte der Mann und trat einen Schritt näher. Girolamo? Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört. Laura griff sich an den Kopf. Natürlich, Massimo und Maria. Auch Gianluca hatte den Zusammenhang inzwischen erkannt und verstanden, dass er in Gefahr schwebte, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. »Stecken Sie die Knarre ein!«, sagte er mit einer Ruhe, für die sie ihn wider Willen bewunderte. »Hinter mir steht ein mächtiger Clan. Ich versichere Ihnen: Die Konsequenzen, die das nach sich ziehen wird, wollen sie nicht tragen.«
Der Blick des Fremden flackerte einen Moment, dann gewann er seine Sicherheit zurück. »Sie haben meine Eltern töten lassen. Unbewaffnete, unschuldige alte Leute. Warum?«
»Es musste sein«, sagte Gianluca einfach. »Ihr Vater ist seine eigenen Wege gegangen. Und das tut man nicht. Man widersetzt sich uns nicht.«
Ganz kurz streifte sie sein Blick. Dann ließ er seine Augen ins Autoinnere zum Handschuhfach wandern. Natürlich. Seine eigene Waffe lag darin. Wenn sie es schaffte, an sie heranzukommen, konnte sie die Situation wenden. Doch wie sollte sie das tun? Laura stand wie versteinert.
»Und die Frau?«, fuhr der Fremde fort. »Ich frage mich, warum sie hier im Pyjama steht. Sicher nicht freiwillig«. »La bella Laura, von der niemand so genau weiß, ob sie eine Verräterin ist. Vielleicht holen Sie sie ja ab, um sie zu töten, bevor Ihnen der Laden um die Ohren fliegt.«
Um so viel zu wissen, musste er sich lange mit ihnen beschäftigt haben. Jetzt wandte er sich an Laura. »Ich tue Ihnen nichts. Stellen Sie sich neben den Pfeiler und verhalten sich ruhig!« Sie konnte sich nicht bewegen. »Na los! Sonst erschieße ich auch Sie.«
Sie stieg von der Stufe und trat aus dem Schussfeld. Die Kälte der Nacht kroch ihr mit klammen Fingern die Beine hoch.
»Sie wissen, was das nach sich ziehen wird?«, fragte Gianluca noch einmal. Auf der Treppe waren jetzt Stimmen zu hören. Zwei junge Frauen näherten sich ihrem Auto und hielten geschockt inne, als sie die Pistole sahen.
»Ich bin Sizilianer«, sagte Girolamo und drückte ab.
Das Echo des Schusses hallte von den Wänden wider wie eine viel größere Detonation, ein Erdbeben, in das sich das Kreischen der Frauen mischte. Laura näherte sich vorsichtig Gianluca, der zu Boden gefallen war. Sie kniete sich auf den Boden, strich ihm seine Haare aus der Stirn und legte seinen Kopf in ihren Schoß. In seiner Brust klaffte in Herzhöhe eine Wunde, aus der das Blut pulsierend hervorschoss und ihren Morgenmantel durchnässte. Irgendwann war er der Junge auf dem Foto gewesen, der Alessio auf den Arm genommen und in die Kamera gelacht hatte. Er bäumte sich auf, seine Augen trübten sich, dann war alles vorbei. Die beiden jungen Frauen waren herangetreten. »Rufen Sie 110«, sagte Girolamo und ließ die Waffe zu Boden fallen.