20.

Damiano. Leonie wusste nicht, ob sie den Namen gedacht oder geflüstert hatte. Er saß neben dem Institutsleiter und seiner Stellvertreterin an dem großen runden Tisch, der im Institut für Meetings benutzt wurde, und erhob sich, um sie mit der gebotenen Höflichkeit zu begrüßen. Reiß dich zusammen!, dachte Leonie. Seine Augen blitzten kurz auf, als er sie ansah. Die Professorin entfernte sich und füllte vier schlichte Porzellantassen mit Kaffee. »Möchten Sie Milch und Zucker, Frau Hausmann?«, fragte sie freundlich.

»Milch und einen Löffel Zucker, bitte«, sagte Leonie gepresst.

Egal ob mit oder ohne Zucker in ihrem Kaffee, durch Damianos Gegenwart war das Vorstellungsgespräch am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart sowieso gelaufen. Denn welche Frau rechnet schon damit, bei einem solchen Termin unverhofft ihrem Exlover zu begegnen, der noch dazu der bisher geheimgehaltene Vater ihres Sohnes ist. Ein Blick aus dem Augenwinkel zeigte ihr, dass seine ehemals schwarzen Locken in den letzten anderthalb Jahren grau geworden waren. Aber sonst sah er noch genauso aus wie der Mann, in den sie sich vor zwei Jahren bis über beide Ohren verliebt hatte.

Leonie schluckte und setzte sich ihren Gesprächspartnern gegenüber. Die Räume des Instituts lagen hoch oben im K 2, dem Hochhaus in der Keplerstraße, das die geisteswissenschaftlichen Hörsäle der Stuttgarter Uni beherbergte. In diesem Moment wünschte sie sich, ein Vogel zu sein und davonfliegen zu können, mitten in den blauen Himmel hinein, über den weiße Schäfchenwolken schwebten. Aber hier wurde nicht geflohen und sich schon gar nicht in Luft aufgelöst.

Und dabei hatte alles so gut angefangen. In ihrem grauen Hosenanzug und mit frisch geföhnten Haaren hatte sie beim Probestyling gestern Abend eine so gute Figur gemacht, dass sogar Sybille zufrieden gewesen war und ihr als Krönung ihres Outfits ihre sündhaft teuren, hohen Sandaletten geliehen hatte. Als zeitweilige Römerin konnte sich Leonie, was Eleganz anging, durchaus mit ihrer älteren Schwester messen, eine Fähigkeit, die sie, wie so vieles andere, ebenfalls Damiano zu verdanken hatte. Als Leander endlich eingeschlafen war, hatte sie die halbe Nacht damit verbracht, ihre Publikationen zu sortieren und durchzusehen, darunter ihre begonnene Doktorarbeit über Caravaggios Einfluss auf die Künstler seiner Zeit. Sicher würde ihre Forschung für das Projekt über italienische Kunst, bei dem sie an der Uni Stuttgart mitarbeiten sollte, brauchbar sein. Auch Seminare für Erstsemester konnte sie locker geben. Und so hatte sie sich voll Optimismus nach Stuttgart aufgemacht.

Doch dann kam das Desaster mit Namen Damiano. Nervös rührte Leonie in ihrer Kaffeetasse.

»Frau Hausmann.« Der Institutsleiter, der gerade ausschweifend über sein Institut, den neuen Bachelorstudiengang und sein Projekt referiert hatte, wandte sich ihr zu.

»Ja.« Leonie riss sich zusammen und wich Damianos Augen aus, die sich wie Saugnäpfe an ihr Gesicht hefteten. Wenn sie ihn nicht ausblendete, würde sie kein Wort herausbringen.

»Professor Di Luca, der freundlicherweise ein Gastsemester an der Stuttgarter Uni verbringt, hat uns berichtet, dass sie bereits in Rom zusammengearbeitet haben.«

»Er hat meine Promotion betreut«, sagte sie leise. »Während meines Stipendiums an der Bibliotheca Hertziana habe ich unter anderem Architekturzeichnungen des Barock archiviert. Für meine Doktorarbeit über Caravaggio und seine Rezeption durch die Künstler seiner Zeit hat mich Professor Di Luca von der Uni in Rom beraten. Und daraus hat sich eine Zusammenarbeit entwickelt.«

Und nicht nur das. Diesmal konnte sie dem Blick seiner brombeerschwarzen Augen nicht entgehen, die denen Leanders so ähnlich sahen. Warum nur hatte er sein Aussehen eins zu eins an seinen Sohn vererben müssen? Leonie trank einen Schluck Kaffee. Als sie die Tasse abstellte, zitterten ihre Hände und ließen Porzellan auf Porzellan klirren.

»Signorina Hausmann hat mir vor zwei Jahren schon bei meinen Forschungen assistiert«, sagte Damiano in fließendem Deutsch mit jenem leichten italienischen Akzent, der ihr damals so unglaublich erotisch vorgekommen war. »Es wäre ideal, wenn wir hier zu einem ähnlichen Arrangement kommen würden.«

Leonie nickte. Das konnte sie sich vorstellen. Wie sie die nächste halbe Stunde hinter sich gebracht hatte, wusste sie später nicht mehr. Sie hatte nicht viel geredet, aber irgendwie jede Frage beantwortet und zu allem, was von der Seite der Professoren kam, ja gesagt. Ja, sie würde Seminare für Studenten im Bachelorstudiengang geben können. Ja, sie hatte Erfahrung mit den einschlägigen Computerprogrammen und kannte sich mit Datenbankrecherchen aus. Ja, sie sprach fließend Italienisch und konnte die italienische Malerei des Barock rauf und runter repetieren. Ja, für ihren kleinen Sohn sei gesorgt, auch, wenn er mal krank werden würde.

Als sie schließlich aufstand, drehte sich der Raum um sie herum. Sie verabschiedete sich freundlich von allen, drückte auch Damiano die Hand, ohne ihn anzusehen, und wandte sich zur Tür. Warum nur hatte sie dabei das Gefühl, dass die Wände auf sie zuschwankten?

Damiano passte sie im Flur vor den Institutsräumen ab, wo Trauben von Studenten auf den Vorlesungsbeginn warteten.

»Attenda, Leonie!« Er war ganz von selbst ins Italienische gefallen. »Du siehst bezaubernd aus. Bellissima!«

Von seinem weißen Hemd ging wie immer dieser sanfte Geruch nach After Shave und Rauch aus, der sie auch schon früher schwach gemacht hatte. Sie drehte sich um und schwieg ihn an.

»Ich möchte dich wiedersehen. Und ich möchte unseren Sohn sehen.«

»Unseren Sohn? Nein! Niemals!« Sie hatte einen klaren Schnitt gebraucht, Abstand zwischen Rom und ihrem Leben in der schwäbischen Provinz, um wieder zu sich selbst zu finden. Und diesen mühsam erkämpften Frieden würde sie sich nicht von Damiano kaputtmachen lassen, auch nicht, wenn er zu den besten Kunsthistorikern gehörte, die sie kannte.

»Bitte!«

Er stand mit hängenden Armen im Flur und hatte ganz anders als sonst die Dinge nicht im Griff. Leonie rang sich eine Antwort ab.

»In einer halben Stunde auf der Treppe neben dem Kunstmuseum.«

Ein Gespräch war sie ihm schuldig, denn schließlich hatte sie Rom ohne ein Wort verlassen und ihm ihre Schwangerschaft verschwiegen.

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
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