26.
Als Peter Ölnhausen erwachte, wusste er zunächst nicht, wo er sich befand. Dann fiel ihm ein, dass er die laue Luft der Sommernacht für ein Schläfchen am Pool genutzt hatte. Er reckte den Hals und schaute hinauf zur Terrasse. Dahinter lag der zweistöckige Bau, sein Haus. Große Fenster, moderne Formensprache. Als ehemaliger Bauunternehmer wusste er, dass man ihm ansah, was es gekostet hatte. Es war Nacht, die Luft war so mild, dass ihm noch immer zu warm war, und der Gedanke an Sex drängte sich auf. Mit den kleinen blauen Pillen würde er auch heute Nacht wieder leistungsfähig sein. Er richtete sich auf, griff nach dem Glas, das auf der Umrandung des Pools stand, und trank einen Schluck. Das Bier war schal geworden. Ölnhausen spuckte aus. »Milena«, rief er. Sie sollte ihm eine neue, eisgekühlte Flasche bringen.
Wo blieb sie bloß? Der Gesang der Zikaden übertönte das Plätschern der Pumpe und vielleicht auch seine Stimme. Lauter als das Rauschen des Meeres, dachte er. Und noch einmal lauter. »Milena!«
Immer mit der Ruhe!, dachte er. Hatte er nicht viel erreicht im Leben? Von ganz unten hatte er sich raufgearbeitet bis in die Chefetage der eigenen Firma. Und jetzt war er Pensionär und konnte sich den schönen Dingen des Lebens widmen. Niemand ahnte, wie nahe er am Abgrund vorbeischrammte. Wie schnell die Aktien, in denen er den Erlös aus dem Verkauf der Firma angelegt hatte, ins Bodenlose gefallen waren. Er hatte sich verspekuliert und hörte schon seine Neider lachen. Doch die Geldquelle, die sich ihm aufgetan hatte, würde seine Sorgen fortspülen. Er legte sich zurück und rülpste zufrieden. Etwas Magensäure lief ihm dabei in die Speiseröhre zurück. Sodbrennen. Kein Wunder, nach dem guten Essen heute Abend. Milena hatte Borschtsch gekocht. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie das konnte. Flüchtig dachte er an die Warnungen seines Arztes, schaute über seinen Bauch auf seine Zehen und öffnete den Gürtel des Bademantels, der plötzlich spannte. Auf dem Pool lagen Blätter und etwas fauliges Gras, das beim Rasenmähen hinübergeweht sein musste. Man sollte ihn mal wieder putzen, dachte er träge.
Von Ferne hörte er die Nachbarn auf ihrer Terrasse miteinander reden. Die Mutter und den jüngeren Sohn, den man nur selten sah. Meist trieben sich nur die Bälger des älteren im Garten herum, stellten Unfug an und zogen Grimassen am Jägerzaun. Hin und wieder, wenn sie die Rosen schnitt oder den Garten begoss, hatte er die attraktive Frau Grundmann schon näher betrachtet. Der Banker vernachlässigte sie, für solche Dinge hatte er einen Riecher, aber sie konnte Milena nicht das Wasser reichen. Und ob sie für ihn mit seiner Glatze und seinem Speckbauch Interesse aufbringen würde, war doch eher zweifelhaft. Milena tat, was er wollte. Dass es ihr dabei ums Geld ging, störte ihn nicht, solange sie die Spiele akzeptierte, die ihn in Fahrt brachten. Gewisse Abhängigkeiten musste man schon für sich nutzen. Heute hatte er ihr verboten, einen Slip anzuziehen. Er freute sich schon auf ihre Pobacken und die goldfarbenen Schenkel mit den weichen Härchen darauf. Ölnhausen schaute sich um. Warum kam sie nicht?
»Milena!« Er war nicht gewohnt, dass sie nicht spurte. Entnervt beschloss er, selbst nach dem Rechten zu sehen. Wo waren seine Badelatschen geblieben? Er angelte gerade nach den gestreiften Tretern, als er eine Bewegung seitlich am Pool wahrnahm. Jemand entsicherte eine Waffe. Als er das Geräusch erkannte, war es wie ein Schlag in die Magengrube.
»Was …?« Er fuhr herum und hörte den Schuss schon nicht mehr, der ihm die linke Seite des Kopfes wegriss. Ölnhausen kippte von der Liege und landete mit dem Kopf im Pool. Wolken von Blut färbten das klare Wasser rosa wie die Waschbrühe in einem Schlachthaus.
Endlich war es Fabian gelungen, sich von dem Abendessen bei seiner Mutter loszueisen. Sein Auto stand unten an der Straße. Er war schon fast auf dem Gehweg, als er den Schuss hörte. Das Geräusch war leise, satt, einmalig, präzise abgezirkelt. Doch mit tödlicher Konsequenz zerriss es den Frieden der lauen Sommernacht. Die Stille, die darauf folgte, war tief. Die Welt hielt den Atem an. Es hatte seinen Ursprung weiter oben auf dem Grundstück des Nachbarn Peter Ölnhausen.
Fabian wandte sich um und hetzte über Ölnhausens Rasen den Hang hinauf. Da zerriss ein zweiter, lauterer Schuss die Luft wie ein Peitschenknall.
Er beschleunigte seine Schritte in Richtung der Terrasse, über der sich breit und behäbig das Haus erhob. Der Nachtwind blähte eine weiße Gardine in einer offenen Glastür. Unterhalb lag bläulich leuchtend der Swimmingpool, an dem er gestern die Badenixe beobachtet hatte. Eine einzelne weiße Kugellaterne tauchte die Szenerie in gespenstisches Licht. Ölnhausen lag am Rande des Pools, als sei er aus einem der Liegestühle gekippt, die auf der gepflasterten Umrahmung standen. Sein Kopf hing mit dem Gesicht ins Wasser, und er rührte sich nicht. Die Blondine saß anmutig neben ihm auf den Fersen und hatte ihren Bademantel über den Knien zusammengerafft. Mit beiden Händen hielt sie den Griff einer Pistole umklammert, die sie jetzt auf Fabian richtete. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie ähnelte einem Gespenst mit riesigen blauen Augen, weggetreten, in Schockstarre gefallen. Eine Schneekönigin mitten im Sommer. Fabian spürte die Schwüle der Nacht, doch nicht sie war es, die ihm Schweißbäche über den Rücken trieb.
Beschwichtigend hob er die Hände.
»Ruhig!«, sagte er. »Ganz ruhig! Legen Sie die Waffe weg! Ich tue Ihnen nichts.« Einen endlosen Moment lang passierte gar nichts. Fabian zählte bis fünf.
Dann ließ sie die Pistole langsam in ihren Schoß sinken. Ihre Hände hielten den Griff noch immer umklammert wie einen Rettungsanker. Erleichtert schloss er die Augen und sah einen Augenblick lang den Feuerrädern zu, die sich auf der Innenseite seiner Lider drehten.
Dann trat er heran und drehte Ölnhausen auf den Rücken, dem nicht mehr zu helfen war. An seinem Handgelenk trug er eine teure Rolex, und seine Augen standen weit offen. Der Schuss hatte einen Teil seiner Schläfe und der Stirn weggerissen. Fabian schaute nicht auf das, was sich unterhalb der zerfetzten Knochendecke befand. Wolken rostrotes Blut waren ausgetreten und hatten sich mit dem klaren Chlorwasser des Pools vermischt wie eine schmutzige Sowjetfahne. Er schluckte die aufsteigende Übelkeit herunter, die wie ein Klumpen in seinem Magen lag, und atmete tief durch. Irgendwo sangen die Zikaden unbeirrt in den Büschen. Eine Bewegung ließ ihn aufschrecken. Die Frau legte die Pistole neben sich an den Rand des Pools, als hätte sie sich an ihr verbrannt. Ihre Hände zitterten. Er bückte sich, zog ein Tempotuch aus seiner Hosentasche und nahm die Waffe an sich, die sich glatt, hart und kühl anfühlte.
Dann holte er sein Handy heraus und klickte sich einhändig bis zur Nummer der Funkleitzentrale durch. Während er die Lage beschrieb, ließ er seine Augen nicht von der blonden Frau. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, und ihre hellen Augen schauten an ihm vorbei in die Ferne. »Was ist hier vorgefallen?«, fragte er.
»Ich bin schuld«, sagte sie leise mit einem schweren Akzent, der die Worte in ihrer Kehle wie Steine aneinanderklingen ließ.
Ein klarer Fall. Er hatte die Mörderin auf frischer Tat ertappt und das Geständnis gleich mitgeliefert bekommen. Stirnrunzelnd hörte Fabian den Sirenen des Großeinsatzes zu, der sich mit einer Kolonne aus Krankenwagen und Einsatzfahrzeugen den Hang hocharbeitete. Zehn Minuten später flackerte Blaulicht durch den Garten, und ein unleidlicher Fritz Keller beugte sich über die Leiche und fluchte, weil sie ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt hatten. Der Pathologe stand schon an der Terrassentür und sprach mit den Einsatzleuten.
»Gute Arbeit«, brummte Keller zwischen zusammengepressten Lippen. »Zum Glück warst du gleich zur Stelle. Aber vielleicht ziehe ich dich trotzdem wegen Befangenheit ab. Schließlich ist das hier kein Treffen mit deiner Jahrgangskameradin …«
»Sondern eine ganz besondere Art von Nachbarschaftskaffee«, vollendete Fabian. Aber wahrscheinlich war der Fall so sonnenklar, dass es gar nichts weiter zu ermitteln gab. Schließlich hatte er die Täterin auf frischer Tat ertappt.
Der Gerichtsmediziner begutachtete die Leiche, die man mittlerweile aus dem Pool gezogen hatte. Er stellte fest, dass der Todeszeitpunkt mit den kurz zuvor abgegebenen Schüssen übereinstimmte. Während der Arzt den Toten untersuchte, sperrte die Kriminaltechnik den Pool und die Terrasse mit rotweißen Bändern ab und versiegelte das hell erleuchtete Haus, durch das die Polizisten streiften wie durch fremdes Jagdgebiet. Eine Beamtin wich der blonden Frau nicht von der Seite, während sie in ihrem Schlafzimmer einige Sachen zusammensuchte. Ihr Aufenthalt in Ölnhausens Villa war beendet. Fabians Telefon klingelte. Er erkannte die Festnetznummer seiner Eltern und klickte den Anruf weg. Über den Kraftwerkstürmen von Altbach brannte sich rot der Sonnenaufgang in den Himmel. Der Fall war aufgeklärt. Sein erster Mord. Wieso bekam er das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte? Irgendetwas war hier faul, er kam nur nicht darauf, was es war.