45.

Leander riss den Mund auf, legte den Kopf in den Nacken und brüllte, was das Zeug hielt. Seine Hände hatten sich in Leonies Haaren verkrallt, und sein Rücken war vor Entrüstung ganz durchgedrückt.

»Schhh«, sagte Leonie entnervt und versuchte vergeblich, seinen Kopf an ihre Schulter zu legen. Er war schon mit schlechter Laune aus dem Mittagsschlaf aufgewacht und hatte seither den Platz auf ihrer Hüfte kaum noch verlassen.

Nachdenklich strich sie ihm über den Kopf. Wenn er nicht aufhörte, so unleidlich zu sein, würde sie heute Abend nicht arbeiten können. Sie würde keine Rezension über die Vorstellung im Theaterhaus schreiben können und auf diese Weise ihren Arbeitsplatz verlieren, noch bevor sie ihn richtig angetreten hatte. Und sie war auch noch selbst schuld an der Misere. Sicher reagierte Leander auf die Tatsache, dass sie ihn in der letzten Woche so oft abgegeben hatte.

Voller schlechten Gewissens stieg sie mit dem schreienden Leander ins Erdgeschoss hinunter und setzte in der Küche Milch für seinen Griesbrei auf. Als sie versuchte, ihn in den Hochstuhl zu setzen, steigerte sich das Geschrei zu einem schrillen Kreischen.

»Was ist denn mit dem los?«, rief Sebastian, der mit der Baumelfe am Tisch saß und in einem Comic-Heft blätterte.

»Er hat schlechte Laune«, rief Leonie gegen den Lärm an. Flavia hielt sich die Ohren zu, und der Mops, der unter dem Tisch geschlafen hatte, verdrückte sich durch die offene Terrassentür.

»O weh«, sagte Leonie und schaute auf die Küchenuhr. Halb sieben, und sie war noch nicht einmal umgezogen. Um acht Uhr begann die Aufführung.

»Kannst du ihn mal halten?«, fragte sie ihren Bruder, der den Kleinen ohne große Begeisterung übernahm. Leander war auf Sebastians Schoß einen Moment lang still und angelte nach Flavias langen Haaren, die ein Stück zur Seite rutschte. Beleidigt begann der Kleine, erneut zu brüllen.

»Manchmal können sie schon eine Pest sein«, stellte Sebastian fest und hob den Jungen über seinen Kopf. Einen Moment lang schaute dieser sich verwundert um. Dann verzog er sein Gesicht erneut zum Weinen. Leonie holte ihr Handy aus ihrer Jeanstasche und klickte sich bis zur Privatnummer Sabine Marians durch. Es ging nur die Mailbox ran.

»Die Milch!«, schrie die Baumelfe und rannte zum Herd, wo der Schaum gerade über den Topfrand schoss.

»Verdammt!« Den Tränen nah, pfefferte Leonie ihr Handy in die Ecke. Leander war so beeindruckt, dass er einen Moment lang zu schreien vergaß.

»Nichts passiert«, sagte Flavia ruhig. Der Topf stand zwar in einem verbrannt riechenden Milchsee, und die Flüssigkeit war fast ganz verkocht, aber im Grunde konnte alles viel schlimmer sein. Mit angeekeltem Gesicht putzte sie über das Ceranfeld und drückte den Schwamm im Spülbecken aus.

»Danke«, sagte Leonie müde und hob ihren Sohn von Sebastians Schoß. Sofort legte er den Kopf in den Nacken und setzte zu einem neuen Schreikonzert an.

»Er wird schon ganz blau«, stellte ihr Bruder fest.

»Das auch, aber im Hals hat er einen roten Rand. Das kann man gut sehen, wenn er den Mund aufreißt.« Flavia legte den Schwamm an die Seite und schob sich neben Sebastian auf die Bank. »Man sieht das Zäpfchen und rundherum steht alles in Flammen.«

»Du meine Güte«, sagte Leonie und drehte ihren Sohn nach vorne, um ihm in den Hals zu schauen.

»Buona sera!«

Sie fuhr zusammen, als sie Damiano in der offenen Terrassentür stehen sah.

»Habt ihr die Klingel nicht gehört?«

Musste er immer im unpassendsten aller Momente auftauchen?

»Hallo«, sagte sie müde, schüttete den Rest heiße Milch über den Fertiggries und rührte die klumpige Pampe um. Vielleicht würde der Brei ja mit etwas Apfelmus genießbarer. Leanders Geschrei verklang in einem leisen Wimmern. Damiano hob ihn auf seinen Arm, wo er sofort mucksmäuschenstill wurde.

»Puh«, sagte Leonie, wischte sich den Schweiß von der Stirn und war plötzlich froh, einen Teil der Verantwortung abgeben zu können. »Setz ihn bitte in den Hochstuhl!«, sagte sie. »Er soll seinen Brei essen.«

»Er wird wohl nicht viel mögen«, sagte er würdevoll. »Wenn du noch nicht gemerkt hast, dass er Fieber hat, solltest du seinen Nacken fühlen.«

»Was?«, fragte Leonie entsetzt. Tatsächlich, sein kleiner speckiger Hals war schweißnass und heißer als ihre Hand. Zusammen mit seinen geröteten Mandeln ließ das nur einen Schluss zu. »Er ist krank. Zum ersten Mal in seinem Leben.« Leonie wurde plötzlich schwindlig, und sie ließ sich auf den Rand der Küchenbank fallen. Leander hatte noch nie zuvor Fieber gehabt. Im Winter hatte sie noch gestillt und ihm die nötigen Abwehrkräfte weitergegeben. Dann kam die warme Jahreszeit mit Sonne und frischer Luft, und er hatte sich weiterhin als robustes und gesundes Kind erwiesen. Leonie vermutete insgeheim, dass die Schippe Sand, die er bei jedem Spielplatzbesuch schluckte, ihn besonders abhärtete. Und so hatte sie, während die anderen Mütter sich über Rotznasen und nächtelangen Brechdurchfall beschwerten, bisher noch keine Kinderkrankheiten kennengelernt.

Sie musste sofort mit dem Kind in die Notaufnahme und konnte sicher keine Aufführung besuchen.

»Mach ihm erst einmal einen Tee«, sagte Damiano beruhigend auf Italienisch. »Dann sehen wir weiter. Und bei der Gelegenheit könntest du vielleicht nach einem Fieberthermometer schauen.«

Als Leonie eine Kanne Fencheltee ansetzte, zitterten ihre Hände so, dass sie sich beinahe am Wasserwärmer verbrannt hätte. Wie hatte sie das nur übersehen können? Leanders dunkle Brombeeraugen, die sie von Damianos Schoß aus ansahen, waren tatsächlich ein bisschen glasig, und solche roten Backen hatte er sonst höchstens gehabt, wenn er lange im Schnee gewesen war.

»Ihr seid mit ihm am Mittwoch ins Gewitter gekommen«, stellte sie düster in Richtung Küchenbank fest. »Ist er da nass geworden?«

Sebastian wurde knallrot und vertiefte sich in sein Comic-Heft. »Er kann nichts dafür«, sprang Flavia für ihn in die Bresche. »Der Regen kam so plötzlich, wir waren alle drei in Sekundenschnelle nass.«

»Wenn ich mich einmischen darf«, unterbrach sie Damiano auf Deutsch. »Dass Kinder Infekte haben, ist ganz normal. Sie müssen das sogar erleben, um ein normales Immunsystem zu entwickeln. Wie oft wir mit unserer zweiten Tochter Lucrezia wegen Fieber im Krankenhaus waren, lässt sich kaum aufzählen. Irgendwann geht man nicht mehr sofort zum Arzt, sondern hilft sich selbst.«

Leonie atmete tief durch und stellte die heiße Teeflasche zum Abkühlen ins gefüllte Spülbecken. Er hatte Erfahrung, das erleichterte die Sache erheblich. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass seine Töchter Leanders Halbgeschwister waren. Er hatte sozusagen noch eine Familie in Rom. Wo war nur das Fieberthermometer? Irgendwie musste sie es schaffen, die Vorstellung abzusagen. Und Fabian? Mit dem hatte sie sich doch auch treffen wollen.

Eine halbe Stunde später lag Leander mit einer leichten Decke zugedeckt in seinem Gitterbett. Er hatte gierig getrunken, und das Fieberthermometer hatte 39,8 Grad angezeigt. Trotzdem hatte Damiano ihr geraten, bis zum nächsten Morgen abzuwarten, und seinem Sohn gekonnt ein Fieberzäpfchen verabreicht. Jetzt schlief er ruhig mit offenem Mund und knallroten Bäckchen.

Leonie setzte sich an ihren Schreibtisch und wählte Sabine Marians Nummer. Diesmal erreichte sie die Chefredakteurin sofort. »Natürlich kümmern Sie sich um ihr krankes Kind und gehen nächste Woche ins Theaterhaus«, sagte diese und klang dabei so erschöpft und frustriert, dass Leonie unwillkürlich an die Drohungen der Mafia dachte.

Fabian erreichte sie nach dreimaligem Klingeln. »Grundmann«, sagte er schroff.

»Ich bin’s, Leonie. Ich muss für heute Abend absagen, Fabian. Leander ist krank.«

Ein kurzes Zögern. »Macht nichts«, hörte sie. »Ich bin sowieso noch bei der Arbeit.«

»Also, dann bis nächste Woche. Ich rufe dich wieder an.« Sie legte auf und wunderte sich. Heute Morgen dieses seltsame Verhör im Café. Und jetzt konnte er sich selbst am Samstagabend nicht von seinem Polizistenjob loseisen.


Fabian hatte Leonies Anruf auf dem Klinikparkplatz entgegengenommen. Er schloss gerade sein Auto auf, als sein Handy erneut klingelte.

»Ja«, sagte er, öffnete die Tür und schob sich hinters Lenkrad.

»Irina hier«, wisperte die Stimme. »Ich wollte ja nicht anrufen, aber ich glaube, ich kann nicht anders. Hier ist alles in Auflösung. Die Mädchen … Bitte komm sofort!«

Das »Fallen Angel« – es war nicht weit vom Stuttgarter Norden bis nach Bad Cannstatt. Bevor er darüber nachdenken konnte, lenkte er den Saab über den Pragsattel auf die B 10. Adrenalin schoss durch seine Adern, und er drückte so heftig aufs Gas, wie der Verkehr es zuließ. Tief in seiner Seele war er froh, etwas für das Mädchen tun zu können, das sich gestern Abend in Luft aufgelöst hatte. Kurz dachte er daran, dass der Anruf eine Falle gewesen sein könnte und die Hure ihn auflaufen lassen würde. Nein, Irina hatte die Angst in den Knochen gesessen, Todesangst und nicht nur um sich selbst.

Er fluchte, als es nur noch im Schritttempo voranging. Der Tunnel war ein verdammtes Nadelöhr! Fabian hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Sein Herzschlag wurde zum schnellen Staccato, und er fuhr seinem Vordermann so nah aufs Heck, dass der seinen Mittelfinger in Richtung Rückspiegel hob. Er bremste ab und bog zehn Minuten später auf den Parkplatz der Autovermietung ein, hinter der sich das »Fallen Angel« befand.

Statt Mischa stand Irina in der offenen Tür und wartete auf ihn. Von ihrer gestrigen Aufmachung war nichts mehr übrig. Heute trug sie Jeans, Chucks und ein blaues T-Shirt. Ihre Wimperntusche war verwischt und lag wie ein schwerer, schwarzer Schatten unter ihren Augen.

»Gut, dass du kommst!« Sie führte ihn in die Bar, die wie ausgestorben dalag. Eine blonde junge Frau saß an einem Tisch und nippte an einem Glas mit einer goldbraunen Flüssigkeit. Die Discokugel hing blind und unbeweglich an der Decke. Im Licht des Sommerabends, das durch die hochliegenden Fenster schräg in den Raum fiel, tanzte der Staub. Auf der Theke hatte sich eine blauschwarze Schmeißfliege in einer klebrigen Lache verfangen.

Irina zog ihn an den Tisch zu der jungen Frau, deren Blick leer vom Alkohol war, und legte ihr den Arm um die Schultern. »Das ist Polina. Sie spricht kein Deutsch.« Fabian schob einen Stuhl für Irina an die Seite und setzte sich. »Was ist passiert?«

»Sie sind alle fort, die Barfrau, Mischa, Blankert, die anderen Mädchen. Einfach verschwunden.«

Polina hatte die Whiskyflasche auf dem Tisch schon halb geleert. Ungeniert bediente sich Irina und schenkte auch ihrer Kollegin reichlich nach.

»Du auch?«, fragte sie.

Fabian winkte ab und schob die gefüllten Gläser von ihnen weg. »Trinkt lieber nicht so viel! Dann könnt ihr besser denken. Was ist hier passiert?«

Irina schaute auf. »Hast du es noch nicht gehört? Sie haben zwei Kuriere getötet. Zwei Russen. Kostja und Jegor. Man hat heute Mittag ihre Leichen gefunden.«

Fabians Mund wurde trocken. »Wo war das?«, fragte er.

Irina atmete tief durch. »Kostja lag im Gebüsch hinter der Raststätte Sindelfinger Wald, Jegor auf einem Parkplatz an der Autobahn.«

Als sie die Namen hörte, begann das fremde Mädchen, laut zu weinen und griff nach dem Glas, das noch immer an der Tischkante stand. Irina redete beschwichtigend auf sie ein und nahm es ihr aus der Hand. Danach trug Fabian beide Gläser zur Theke und goss ihren Inhalt in den Ausguss. Ein Mädchen mit Alkoholvergiftung war mehr, als er jetzt verkraften konnte. »Und warum?«, fragte er und setzte sich wieder.

»Sie waren auf der Fahrt nach Russland, um Nachschub zu holen. Polina haben sie beim vorletzten Mal mitgebracht.«

Die junge Frau schluchzte und legte ihr Gesicht auf die gefalteten Arme, als wollte sie der Welt nicht mehr ins Auge schauen.

»War die Polizei schon hier?«

Irina schüttelte den Kopf. »Irgendwann werden die Bullen sicher aufkreuzen, aber noch haben sie den Zusammenhang nicht erkannt.«

Fabians Mund wurde trocken. Über diese Informationen verfügte weder die Stuttgarter noch die Böblinger Polizei, die für den Doppelmord an der Autobahnraststätte zuständig war. »Und trotzdem haben alle Panik gekriegt und sich verdrückt. Wem könnte daran liegen, euch den Nachschub abzuschneiden?«

Irina schaute sich um, als hätten auch die Wände Ohren. Dann beugte sie sich über den Tisch und flüsterte ihm die Antwort zu.

»Es geht um die Kinder.«

»Wie viele sind es denn?«, fragte er.

»Drei. Das Geschäft mit den kleinen Mädchen – ich hatte schon länger das Gefühl, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugeht. Nicht die Italiener haben es eingefädelt, sondern andere. Irgendwelche reichen Säcke. Die haben mit den Russen verhandelt, ihnen Geld für den Transport gegeben und die Italiener dabei übergangen.«

»Ölnhausen«, sagte Fabian düster. Wenn die Zeit reif war, klärten sich manche Dinge von ganz allein.

»Möglicherweise.« Irina zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wer genau es war. Und jetzt haben die Italiener Wind von der Sache bekommen und …« Sie machte eine eindeutige Handbewegung quer über ihre Kehle.

Fabian zog seine eigenen Schlüsse. »Zuerst haben sie Ölnhausen hingerichtet, und dann kümmerten sie sich um die Helfershelfer.«

Irina nickte zögernd. Das russische Mädchen hob den Kopf und schaute sie aus verweinten Augen verständnislos an. Fabian setzte sich zurück, griff nach der Whiskyflasche und nahm selbst einen großen Schluck.

Mafia, dachte er. In offiziellen Kreisen vermied man, dem organisierten Verbrechen einen so klaren Namen zu geben. Dass die Organisation in Baden-Württemberg aktiv war, wurde zwar nicht geleugnet, aber auf möglichst kleiner Flamme gekocht. Die Morde an Ölnhausen und den beiden Russen erforderten professionelle Strukturen, über die ein Einzeltäter oder eine Kleingruppe nicht verfügte. Und die Täter hatten Skrupellosigkeit und Kaltblütigkeit bewiesen. Kurz streifte ihn der Gedanke an Leonie, die völlig naiv in das Thema gestolpert war, und er erstarrte vor Angst um sie. Hatte die umtriebige Chefredakteurin vom Schwabenspiegel von einer brandheißen Sache Wind bekommen? Er musste Leonie unbedingt davon abhalten, unbedacht weiterzurecherchieren. Mühsam schob er seine Gedanken zur Seite und konzentrierte sich auf die Gegenwart.

»Wo finden wir diese Italiener?«

»Keine Ahnung«, sagte Irina hilflos. »Ich hatte zwar mal so einen schweigsamen Typen von denen im Bett, aber sonst weiß ich nichts, weder wie sie heißen, noch wo sie wohnen. Aber es geht auch nicht um sie, sondern um die Kinder. Mischa hat sie mitgenommen. Und ich glaube, er tut ihnen was an.« Sie schniefte leise.

Fabian war schon aufgestanden, bevor sie zu Ende gesprochen hatte. »Wo steckt dieser Kerl?«

Seine Angst um Leonie verwandelte sich in Zorn. Unwillkürlich tastete er nach der Heckler & Koch, die sich im Halfter unter seiner Jacke befand.

»Ich habe keine Ahnung.« Irina war den Tränen nah. »Ich weiß zwar, wo er wohnt, aber ob er die Mädchen da …«

»Wir fahren hin«, unterbrach sie Fabian.

Drei Minuten später saßen sie im Saab, Polina auf dem Rücksitz und Irina neben ihm auf dem Beifahrersitz, von wo aus sie ihn in den Stuttgarter Süden dirigierte. Fabians Hände waren kalt. Beiläufig dachte er, dass er den Türsteher erschießen würde, wenn er die Kinder tot in seiner Wohnung fände. Bald wurden die Straßen enger. Früher war Heslach ein vom Lärm der Ein- und Ausfallstraßen geprägtes Arbeiterviertel gewesen, in dem sich mehrstöckige, von Abgasen geschwärzte Häuser aneinanderreihten. Nachdem man die Bundesstraße unter die Erde verbannt hatte, waren die Wohnungspreise gestiegen. Die Vermieter hatten renoviert und aus den schäbigen Straßenschluchten auf dem Boden des Kessels ein passables Wohngebiet gemacht. Fabian parkte in einer engen Seitenstraße im Halteverbot. Sie stiegen aus, nur Polina nicht, die auf dem Rücksitz in aller Ruhe ihren Rausch ausschlief.

Er folgte Irina in eine schmale Durchgangsstraße mit dreistöckigen Häusern.

»Er wohnt im Hinterhaus«, sagte sie kurz und führte ihn am Vorderhaus vorbei in einen schwäbisch geleckt sauberen Hof mit glänzend geputzten Briefkästen.

»Und was machen wir jetzt?«, wisperte Irina, als sie vor der Klingel standen. Fabian las drei Namen übereinander. Der oberste lautete Mischa Saizew.

»Du klingelst.« Er tastete nach seiner Waffe. »Und dann sagst du, dass du raufkommen willst.«

Irina wurde aschfahl, tat aber, was er verlangte.

»Ja«, meldete sich Mischa. Im Hintergrund bellte atemlos der Hund.

»Ich bin’s, Irina.«

»Was willst du?«

Sie richtete ihre Augen auf Fabian, der ihr ermunternd zunickte. »Ich muss mit dir reden.«

»Ich habe keine Zeit.«

»Nur kurz«, drängte sie. Der Öffner summte, und Fabian stieß die Tür nach innen auf. »Leise!«, flüsterte er.

Über polierte Linoleumstufen stiegen sie ein enges Treppenhaus hinauf, in dem es durchdringend nach Linsen und Spätzle roch.

Als sie vor der Eingangstür im dritten Stock standen, schob Fabian sich mit dem Rücken an die Wand, zog die Waffe aus dem Halfter und entsicherte sie. Er war vollkommen ruhig und kalt. Irina klingelte. Drinnen schlug der Hund an, dessen Stimme sich beim Bellen überschlug. Drei Sekunden später wurde die Tür aufgerissen.

»Was willst …« Mischa kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn Fabian trat Irina mit erhobener Waffe in den Weg.

»Hände hoch! Polizei«, sagte er leise. »Und jetzt rein in die Wohnung!« Der Hund schoss aus dem Wohnzimmer und blieb knurrend vor ihnen stehen.

»Fass!«, sagte Mischa und starrte auf die Pistole. Gipsy knurrte laut und legte die Ohren an. »Ruf den Hund zurück!«, befahl Fabian und hob die Pistole. Mischas kleine blaue Augen richteten sich auf Gypsy, der sich plötzlich still verhielt. »Und was, wenn nicht?«

»Dann erschieße ich zuerst dich und dann deinen Hund.«

Mischa wurde blass bis unter die Bürstenfrisur. »Sitz!«, befahl er. Gipsy zog den Schwanz ein und verzog sich ins Wohnzimmer. Erleichtert schloss Irina hinter ihm die Tür.

»Was wollt ihr?«, fragte Mischa und starrte auf den Lauf der Waffe. »Hure!« Verächtlich spuckte er vor Irina auf den Boden.

»Wo sind die Kinder?«, fragte sie leise und fügte etwas auf Russisch hinzu, das Fabian nicht verstand. Es konnte nicht allzu freundlich gewesen sein, denn Mischa zischte aufgebracht zurück.

»Welche Kinder?«, fragte er dann. Schritt für Schritt setzte er sich rückwärts in Bewegung, bis er vor der offenen Küchentür stand. »Das weißt du ganz genau«, sagte Fabian und folgte ihm. Mischa hatte sich durch den Tod der Kuriere nicht seinen Samstagabend verderben lassen. Auf dem Tisch stand ein leerer Pizzakarton, die Spülmaschine lief, und über den Flachbildfernseher auf dem Regal flimmerte eine Casting Show.

»Ich lebe alleine. Und Kinder habe ich, soweit ich weiß, auch keine. Auch wenn niemand das so genau sagen kann.« Über sein Gesicht zog ein schmieriges Grinsen.

»Du kannst dir deine Witze sparen«, schrie Irina. »Heute Morgen hast du sie doch mitgenommen. Wo stecken sie also?«

Ihre Stimme hatte Fabian einen Moment lang abgelenkt. Er reagierte zu spät, als Mischa plötzlich zur offenen Küche hin ausholte und ihm die Pistole aus der Hand trat. Sie landete auf dem Boden und rutschte in Richtung Eingangstür. Ein Kickboxer! Hätte er das doch vorher gewusst! Der Russe stürmte nach vorne, stieß ihm seinen Stierkopf unter die Nase und platzierte einen rechten Haken in seinem Gesicht, der ihn zu Boden gehen ließ. Feuerräder hinter seinen Lidern und dazu ein wahnsinniger Schmerz in seinem Jochbein. Der Hüne hockte sich auf seine Brust, und drückte ihm die Arme an den Körper.

»Anfänger«, sagte er leise und hob die Faust, um ihn endgültig außer Gefecht zu setzen. Fabian wusste, dass der nächste Schlag ihm den Schädel zertrümmern würde. Es war ein folgenschwerer Fehler gewesen, keine Verstärkung anzufordern. Er wehrte sich verzweifelt, aber der Russe war schwer wie ein Kleiderschrank und zu allem bereit. Als die Faust ausholte, schloss Fabian automatisch die Augen. In diesem Moment hörte er es hinter sich leise klicken.

»Hände hoch!«, sagte Irina heiser. »Ich erschieß dich, wenn du nicht tust, was ich sage.«

Langsam hob sich Mischas schwerer Körper. Fabian dehnte erleichtert seinen Brustkorb und schnappte nach Luft. »Möchtegernbulle«, sagte Mischa und schlug ihm beiläufig aufs Auge. Dann stand er auf und stellte sich Irina gegenüber. Fabian rappelte sich hoch, das rechte Auge schwoll in Sekundenschnelle zu, und er spürte, wie Blut aus seiner Nase tropfte.

Verächtlich musterte der Türsteher Irina. »Du schießt mir ja doch nur den Fernseher kaputt.«

»Aus dieser Entfernung treffe sogar ich.« Irina trat einen Schritt näher und hielt Mischa die Pistole unter die Nase, mit beiden Händen, den Finger am Abzug. Irgendetwas an ihrem Auftreten ließ Mischa einknicken. Fabian kam schwankend auf die Füße und suchte sein Gleichgewicht.

»Die Polizei ist schon unterwegs«, log er.

»Im Keller«, sagte Mischa.

Hinter der Wohnzimmertür überschlug sich der Hund fast vor Erregung.

»Geh voran!«, sagte Irina, öffnete die Wohnungstür und übergab die Waffe an Fabian. Sie traten ins Treppenhaus und stiegen langsam hinunter. Er hielt dem Russen die Pistole an den ausrasierten Nacken und hoffte, dass sich die Wohnungstüren der unteren Stockwerke nicht öffnen würden.

»Hure!«, sagte Mischa zu den Treppenstufen.

»Kindermörder!«, sagte Irina.

»Du weißt ja gar nichts«, gab er verbissen zurück. »Die Kinder mussten verschwinden. Oder willst du, dass sie den Laden hochgehen lassen und uns mit?«

Im Erdgeschoss öffnete Irina die Kellertür und drehte den altmodischen Lichtschalter. Eine blasse Funzel erhellte eine Treppe und darunter einen Gang, von dem mehrere Stahltüren abzweigten.

»Ich hoffe, du hast den Schlüssel«, sagte Fabian und putzte sich beiläufig mit dem Ärmel über die blutige Nase.

»Weiter unten«, sagte Mischa grimmig. Am Ende des Gangs führte eine Tür zum Tiefkeller. Die Stufen waren feucht und das Licht nichts weiter als ein glimmender Draht mit einer schwankenden Birne daran. Es roch muffig nach saurem, ausgelaufenem Wein. Hier unten, tief unter der Erde, hatten die Bewohner des Hauses sicher in den Bombennächten des zweiten Weltkriegs Schutz gesucht. Vom Kellerflur zweigten Verschläge ab, die mit Holztüren gesichert waren. Dahinter standen Regale voller verstaubtem Gerümpel, das die Bewohner des Hauses seit Jahrzehnten vergessen hatten. Matratzen, ausgemusterte Bettgestelle, Resopalregale, alles schien schon länger vor sich hin zu modern und vergeblich auf den Sperrmüll zu warten. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Spinnweben hingen an der Decke.

»Wo sind sie?« Irina sah sich suchend um. Mischa ging ihnen voraus und schwieg. Vor dem letzten Verschlag blieb er stehen.

Hinter der Brettertür sah Fabian im Zwielicht einen Haufen alter Jutesäcke. Eng aneinandergedrückt lagen drei Kinder darauf, die sich langsam regten. Sie hatten geschlafen, setzten sich verwirrt auf und rieben sich die Augen. Ihre Gesichter waren tränenverschmiert. Das Mädchen aus dem »Fallen Angel« stellte sich wacklig auf die Beine, griff nach den Streben der Tür und sagte etwas auf Russisch, auf das Irina leise antwortete. Fabian dachte an den leeren Pizzakarton in der Küche. Mischa hatte die Kinder ohne Essen im Dunkeln eingeschlossen, die einzige Wasserflasche rollte leer über den Boden.

Die Auftraggeber hatten sich für ihr Bett möglichst große Vielfalt und Jugend ausbedungen. Das dunkelhaarige Mädchen aus dem Bordellzimmer war mit ungefähr elf Jahren die Größte der Gruppe. Die beiden anderen konnten nicht älter als sieben oder acht sein. Unwillkürlich musste er an seine kleine Nichte denken, und in seinem Magen bildete sich ein Klumpen. Die Kleinste hatte strähnige blonde Haare und lutschte am Daumen, die andere sah asiatisch aus und hielt eine nackte Barbiepuppe in der Hand. Beide trugen Schlafanzüge mit Bären und waren barfüßig. Sie hatten gefroren und Durst gelitten, Angst gehabt und im Dunkeln gesessen, ohne zu wissen, wie lange ihr Leiden dauern würde.

»Warum?«, fragte er.

Mischa schüttelte den Kopf. »Sie sind schon als Nichts auf die Welt gekommen. Niemand fragt nach ihnen. Die ideale Beute, verstehst du, Bulle? Solche werden auf der ganzen Welt verschachert, und oft genug von ihren eigenen Eltern.« Da war ein Abgrund aus Entsetzen, in den Fabian nicht blicken wollte.

»Mach die Tür auf!«, befahl er.

Mischa holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und entfernte das Schloss. Noch ganz ungläubig drückte das älteste Mädchen die Tür auf und trat durch den Spalt. Nacheinander folgten ihr die beiden jüngeren und musterten Fabian misstrauisch, der Mischa noch immer mit der Pistole in Schach hielt. Die Älteste sagte etwas auf Russisch. Irina übersetzte und schüttelte mit einem bitteren Lachen den Kopf. »Weißt du, was die Kinder am Übelsten fanden. Dass sie im Dunkeln nicht wussten, ob ihnen eine Spinne übers Gesicht läuft.«

Der Knoten aus Traurigkeit in Fabians Magen begann zu schmerzen. Er dirigierte Mischa die Treppe hinauf in den Hof.

»Was hast du mit ihnen vorgehabt?«, fragte er den Türsteher. Mischas Gesicht verschloss sich, und Fabian hatte plötzlich große Lust abzudrücken. Sicherheitshalber übergab er Irina die Pistole und wählte die Nummer der Stuttgarter Kollegen. In diesem Moment trat die Dunkelhaarige, die er aus dem Bordellzimmer kannte, auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte: »Spasiba!«

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
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