33.
Spätabends brachte Leonie Damiano mit dem Volvo zurück nach Stuttgart. Seine Wohnung lag in der teuren Halbhöhenlage des Stuttgarter Westens. Als er ausstieg, stand über dem Talkessel ein glitzernder Sternenhimmel, wie ein schwarzes Tuch voller Diamanten.
»Danke!«, sagte er leise.
»Schon gut«, sagte sie müde. Mit atemberaubender Geschwindigkeit hatte sich Damiano immer geholt, was er wollte, und ihr Leben dadurch in eine komplett andere Richtung gebogen. Warum sollte es jetzt anders sein?
»Warte, ich begleite dich noch.« Sie stieg aus und warf die Tür ins Schloss. Damiano wohnte in einem Zweifamilienhaus mit Vorgarten und Blick über den gesamten Westen. So eng es unten im Kessel zuging, in der Toplage hier oben hatte man beinahe eine Ahnung von Freiheit. Wie hoch hier wohl der Mietpreis war?
»Damiano«, begann sie.
»Was hast du, carissima?«
»Ich habe seit heute eine Arbeit«, sagte sie.
Sie standen vor dem Zaun, der den Garten vom Gehweg abgrenzte.
»Tatsächlich?«
»Ja«, sagte sie ein bisschen trotzig. »Als Redakteurin beim Schwabenspiegel.«
»Aber das ist ja wunderbar.«
»Es ging ziemlich schnell«, fügte sie hinzu.
Sie folgte ihm bis zum Hauseingang. Damiano kramte in seiner Sakkotasche nach dem Schlüssel.
»Könntest du mir bei einer Recherche helfen?«, bat sie. »Ich habe versprochen, meine Chefin zu entlasten.«
»Worum geht es denn?«
»Um die ’Ndrangheta«, sagte sie leise.
Er ließ den Schlüssel sinken und schaute sie einen Moment lang undurchdringlich an. Für seine nächsten Sätze wechselte er ins Italienische.
»Verstehe ich dich richtig? Du hast die Zusammenarbeit mit mir abgelehnt, um als Journalistin über die Mafia zu recherchieren?«
Sie biss sich auf die Lippen.
»Lauf!«, sagte er leise. »Wenn du das Wort Mafia hörst, lauf, solange du es noch kannst! Weißt du, wie viele Journalisten ihre Recherchen über die Mafia mit einer Kugel im Kopf oder einem Betonklotz am Bein bezahlt haben? Oder, noch schlimmer, sich korrumpieren ließen?«
Leonie lief es kalt den Rücken herunter. »Nein«, sagte sie trotzig.
Er schüttelte den Kopf. »Italien liegt in den Händen eines riesigen Kraken. Die Mafia steckt in der Müllverarbeitung, im Baugewerbe, sie hat die Wirtschaft und das ganze öffentliche Leben unterwandert und ihre zahlreichen Helfershelfer auch im politischen System untergebracht. Aber ihr Deutschen, ihr seid so blauäugig – im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr glaubt immer noch, das sei ein italienisches Problem.«
Er beugte sich vor, so dass sie seinen Duft in der Nase hatte. »Der Krake hat schon seit vierzig Jahren seine Fangarme in dieses schöne, verschlafene Land ausgestreckt. Wenn ich ein Mafioso wäre, dann würde ich auch nach Deutschland kommen und meine Geschäfte von hier aus erledigen. Denn hier gibt es so manches nicht, was mir in Italien das Leben schwermacht. Dort muss ich im Zweifelsfall meine Unschuld beweisen. Allein der Verdacht, zur ehrenwerten Gesellschaft zu gehören, reicht aus, um mein ganzes unrechtmäßig erworbenes Hab und Gut zu konfiszieren. Hier gilt die Unschuldsvermutung. Niemand darf mein Telefon abhören. Bevor man mir Geldwäsche nachweist, fließt, wie heißt der Fluss?«
»Neckar«, sagte Leonie kleinlaut.
»Fließt der Neckar aufwärts. Ich lebe hier wie im Schlaraffenland. Die ’Ndrangheta, an der sich deine Chefin unbedingt die Finger verbrennen will, ist aus den allgegenwärtigen Räuberbanden im bitterarmen Kalabrien entstanden und basiert auf den inneren Bindungen großer Familienclans. Ihre Mitglieder sind immer miteinander verwandt.«
»Das bedeutet …« Leonie tastete sich langsam vor. »Ehre ist kein Fremdwort für sie. Und wenn einer den anderen verrät, ist es doppelt so schlimm, weil dieser aus der eigenen Familie stammt. Im Ernstfall handelt es sich um den Vater, den Bruder oder den entfernten Cousin.«
»Ehre, pah!«, rief Damiano. »Das ist zu kurz gegriffen. Vielmehr handelt es sich um trauriges Vagantenheldentum. Alles, was der Organisation schadet, widerspricht der Ehre. Auf Verrat steht der Tod, und das Gesetz des Schweigens, die Omertà, ist zentral. Lange Zeit hat man geglaubt, die Kalabrier vernachlässigen zu können, aber das war ein Fehler. Sie mischen groß im Kokainhandel mit und sind auch sonst nicht zimperlich. Warum glaubt eigentlich deine Redakteurin, sie müsse gegen sie ins Feld ziehen?«
»Ihr sind Informationen zu einem Mordfall zugespielt worden. Ein italienischer Pizzabäcker und seine Frau wurden im Mai erschossen. Vielleicht, weil er sich keine Schutzgelderpressung gefallen lassen wollte, wohl eher aber, weil der alte Herr ihr vor drei Jahren schon einmal etwas verraten hat und jetzt neue Infos hatte.«
Damiano griff nach ihrer Hand. »Das ist eine traurige Geschichte. Aber sobald jemand über die Organisation recherchiert, spielt er mit seinem Leben.«
Leonies Widerstandsgeist erwachte. »Ich verstehe nicht, warum du das so ernst nimmst. Ich suche nur ganz diskret nach Informationen.« Kopfschüttelnd schaute er sie an. »Du willst es nicht begreifen.«
Eine Viertelstunde später fuhr Leonie auf der Kräherwaldstraße in Richtung Pragsattel. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen und hatte der euphorischen Stimmung Platz gemacht, die sie immer erfasste, wenn sie den toten Punkt überwunden hatte. Plötzlich, sie stand gerade an einer roten Ampel, vibrierte ihr Handy, das sie auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Noch war die Ampel tiefrot, und so griff sie ungestört danach und las die SMS. »Kann Sie nicht vergessen. Wie wäre es mit morgen Abend im ›Sotto le Stelle‹? Ich reserviere einen Tisch für zwei unter den Sternen und lade Sie zum Essen ein. Kommen Sie doch mit einer Freundin oder ihrem Partner! Gianluca Battista.«
Das Leben bot gerade so viele Möglichkeiten. Sie gab Gas und startete mit quietschenden Reifen durch.
Die Obduktion war vorüber. Ölnhausens Leiche lag auf dem chromglänzenden Tisch im gerichtsmedizinischen Untersuchungsraum des Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhauses. Sein Körper war schwammig und aufgedunsen, das Gesicht grau, die Behaarung weiß auf seiner Brust, die vor kurzem noch auseinandergeklafft hatte wie bei einem Stück Schlachtvieh. Gerichtsmediziner Jan Geertjens und seine Kollegin Tabea Schuster setzten gerade die T-Naht, die den Körper zwischen Brust- und Schambein wieder verschloss. Fabian wusste nicht genau, warum er sich davon magisch angezogen fühlte. Wahrscheinlich eine gewisse krankhafte Faszination. Er hatte sich wacker geschlagen und dem Gerichtsmediziner nicht auf den Tisch gekotzt. Und trotzdem. Er vermied den Blick auf Ölnhausens Kopf mit der schrecklichen Schussverletzung und schaute sich stattdessen um. Eine ganze Front des Kellerraums war mit Milchglasfenstern bestückt, die zusammen mit den Neonlampen für eine mehr als taghelle Beleuchtung sorgten. Die Funktion bestimmte die Einrichtung, der Boden war gefliest, saubere Metallarbeitstische standen für die Obduktionen zur Verfügung, einer war belegt, einer frei. Es war so kalt, dass er sich unwillkürlich in die Hände blies.
»Hände weg vom Mund!«, blaffte Geertjens ihn an. »Wer weiß, was hier für Keime herumschwirren? Ich möchte nicht, dass Sie mich für Ihre MRSA-Infektion verantwortlich machen.«
»Schon gut.« Fabian steckte die Hände in die Hosentaschen. Nur nicht zeigen, wie unangenehm ihm dieser Besuch war, nicht nur wegen des grellen Lichts, in dem Tote zu Gegenständen degradiert wurden, sondern auch wegen dem süßlichen Geruch nach Verfall, der trotz der Klimatisierung in der Luft hing.
Keller stand neben der Tür und unterhielt sich leise mit dem Oberstaatsanwalt Dr. Heinrich Müller-Eppendorf, den er von verschiedenen Morduntersuchungen her kannte.
»So«, sagte Geertjens zufrieden und legte seine Instrumente beiseite. Mit dem weißen Mundschutz und der grünen Arbeitsschürze hätte er locker als Metzger durchgehen können. »Es ist wieder geflickt, unser potentielles Opfer von Zivilisationskrankheiten.«
Fabian runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, der Mann ist ein Prototyp für ungesunde Lebensweise jenseits der fünfzig.« Der Gerichtsmediziner schob seinen Mundschutz unter das Kinn und schaute Fabian prüfend an. »Schlecht eingestellter Bluthochdruck und alle Merkmale des Lasters Völlerei. Was meinst du, Tabea?«
Seine Kollegin zog ihr Haargummi aus den dunklen Locken und schlang es neu um ihren üppigen Haarschopf. »Nicht nur das. Das Blutbild hat eine mittelschwere, unbehandelte Diabetes ergeben.« Sie schenkte Fabian ein Lächeln, der gar nicht anders konnte, als es zu erwidern. So ruppig Geertjens war, so freundlich wirkte seine Kollegin.
»Eine Prognose ist überflüssig«, fuhr Geertjens fort. »Aber wenn man dem Mann hier nicht frühzeitig das Lebenslicht ausgeblasen hätte, wären ihm höchstens noch zehn Jahre geblieben. Außer er hätte sein Leben komplett umgekrempelt.«
Fabian hätte gern hinzugefügt, dass Völlerei nicht Ölnhausens einziges Laster gewesen sei, unterließ es dann aber. Seine sexuellen Vorlieben taten hier nichts zur Sache.
Der Staatsanwalt trat mit Keller heran und schaute nachdenklich auf die Kopfwunde. »Und wie beurteilen Sie die unverkennbare Todesursache?«
»Nach einer gründlichen Beurteilung des Schusskanals ist der Exitus direkt nach der Einwirkung eines einzigen Schusses eingetreten«, antwortete Tabea Schuster förmlich.
»Aus der Nähe?«, fragte Müller-Eppendorf.
»Aus etwa einem Meter Entfernung.« Geertjens schaute sie aus seinen blauen Augen erwartungsvoll an. Blitzblau wie bei einem Schwein, dachte Fabian gehässig. »Es gibt eine Unstimmigkeit. Der Täter – oder sollte ich besser die Täterin sagen? – hat die Person schlafend auf der Liege angetroffen. Sie ist herangetreten, schiebt die Waffe an den Kopf heran. Und dann …« Er machte eine effektvolle Pause. »Puff. Sie reißt im selben Moment die Hand zur Seite.«
»Vielleicht hat sie Skrupel bekommen«, mutmaßte Fabian.
»Vielleicht hat ihre Verdächtige die Nerven verloren«, stimmte Geertjens ihm zu. »Vielleicht hat das Opfer aber auch abrupt den Kopf gedreht. Auf jeden Fall ist der Schuss eher seitlich durchgegangen und hat die Knochenplatten des Schädels und das Gehirn stark beschädigt. Ein Projektil haben Sie immer noch nicht?«
»Weder Hülse noch Kugel«, sagte Keller.
»Das ist dumm.« Geertjens zog sich den Mundschutz über den Kopf und streifte die Gummihandschuhe ab.
»Sie haben sicher gehört, dass der Mord auf unserem Nachbargrundstück stattgefunden hat«, sagte Fabian. »Ich war zuerst am Tatort. Es wurde aus zwei verschiedenen Waffen je einmal gefeuert. Der erste Schuss wahrscheinlich mit Schalldämpfer, der zweite ohne.«
Geertjens pfiff durch die Zähne. »Wenn ihre Verdächtige Glück hat, ist sie aus dem Schneider, denn getroffen hat nur eine Kugel. Vielleicht hat sie ja auf den mutmaßlichen Täter geschossen, als der davonlaufen wollte.«
»Und dabei die Büsche getroffen«, fügte Keller hinzu. »Die Leute vom KTU graben gerade den Garten um.«
Der Gerichtsmediziner ging zum Waschbecken und stellte das Wasser an. »Dazu kann ich nichts sagen. Aber ein Schalldämpfer deutet darauf hin, dass der Täter ein Profi ist. Und dazu passt nicht, dass er seinen Schuss versemmelt hat.« Er seifte seine Hände ein, spülte und trocknete sie sorgfältig und desinfizierte sie dann mit dem Mittel aus der grünen Flasche neben dem Waschbecken.
Fabian und Keller verabschiedeten sich und wandten sich ihrem zweiten Anliegen zu. Praktischerweise lag Nicolai Reskin auch im Robert-Bosch-Krankenhaus.
»Frischluft«, sagte Keller, als sie in der lichtdurchfluteten, modernen Eingangshalle standen, und atmete durch.
»Nicht gerade ein Sympathieträger, dieser Geertjens«, brummte Fabian. Er fror noch immer und zog seine Jacke über.
Keller sah ihn abschätzend an. »Es gibt Leute, die lieben ihren Beruf über alles. Schätzungsweise gehört unser Nordlicht dazu. Was ihn seinen lebendigen Zeitgenossen gegenüber nicht gerade aufgeschlossener macht.«
»Wenn ich diese Leichenaufschneider so sehe, bin ich froh, nicht Medizin studiert zu haben«, sagte Fabian düster.
»Ein Quacksalber weniger.« Keller lachte und schlug ihm auf den Rücken. »Wir können dich gut bei der Polizei gebrauchen.«
Sie erkundigten sich an der Information nach Nicolai Reskin und erfuhren, dass er vor einer Stunde von der Intensivstation auf die Chirurgie verlegt worden war. Auf dem Gang liefen sie einem bärtigen Oberarzt über den Weg, der ihnen für ihren Besuch höchstens eine Viertelstunde zugestehen wollte.
»Kein Verhör!«, sagte er und hob abwehrend die Hände. »Der Junge ist ein zäher Kerl. Wir sind froh, dass wir ihn überhaupt zurückhaben. Aber trotzdem.«
»Ich bitte Sie«, meinte Keller und hob die Hände. »Wir sind zu einem Gespräch gekommen und nicht als Folterknechte.«
Der Arzt schaute sie zweifelnd an, öffnete aber trotzdem die Tür.
In seinem weißen Bett sah Nicolai Reskin verloren und schmal aus. Sein Kopf steckte in einem dicken Verband, der die blonden Haare fast ganz verdeckte. Hinter ihm piepste der Anzeiger der Vitalfunktionen, mit dem er über eine Klammer am Finger verbunden war. Das Geräusch war rhythmisch und einschläfernd. »Polizei«, sagte der Oberarzt und schloss hinter sich die Tür.
»Wie geht es dir?«, fragte Fabian. Er hatte gesehen, wie erbarmungslos die Jungen aufeinander eingeprügelt hatten. Nicolai hatte Alessio in nichts nachgestanden. Der Junge wusste nicht, dass Fabian ihm vermutlich das Leben gerettet hatte, und würde das, wenn es nach ihm ging, auch nicht erfahren.
»Gut«, sagte er und fixierte ihn aus verquollenen Augen. Das Gespräch, oder was auch immer das hier werden mochte, durfte nicht lange dauern. Dafür reichte seine Kraft noch nicht aus.
»Wir wissen, dass du dich mit Alessio Cortese getroffen hast.« Keller holte einen Stuhl aus der Zimmerecke und setzte sich ans Fußende. Im Bett am Fenster lag ein Junge mit einem gebrochenen Bein und einem Kopfverband, der fasziniert zuhörte. Motorradunfall, tippte Fabian. Einen Moment lang zögerte Nicolai. Dann gab er sich geschlagen. »Ja!«, sagte er leise.
»Die Begegnung war also kein Zufall?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir hatten telefoniert.«
»Wusstest du, dass wir Alessio suchen?«
Wieder ein Nicken. »Sie wollen wissen, warum ich Alessio nicht verpfiffen habe?«
Keller nickte und ließ einen besorgten Blick auf die Anzeige wandern, die einen Herzschlag von hundertzwanzig anzeigte. »Hey, du musst dich nicht aufregen.«
»Das ist nicht so einfach.« Die Pulsfrequenz stieg weiter.
»Atme tief durch!«, sagte Fabian und griff nach der Hand des Jungen.
»Schon gut. Geht schon wieder.« Er zog die Hand zurück. »Alessio schuldete mir Geld.«
»Weshalb?«, fragte Keller.
»Um sich rauszukaufen.«
»Wo rauszukaufen?«
»Bei mir.« Er keuchte und schnappte nach Luft. Hundertsechzig.
»Soll ich die Schwester rufen?«, rief der Junge am Fenster alarmiert. »Du musst denen nichts verraten.« Er drückte auf die Klingel.
Die Tür öffnete sich, und der Arzt stürmte mit hochrotem Gesicht herein, als hätte er im Gang bereits darauf gewartet. »Ich habe es Ihnen doch gesagt!«
»Schon gut, wir gehen.« Keller stand auf und drehte sich zur Tür.
»Tschüss, Nicolai«, sagte Fabian. Der Junge richtete sich auf und fixierte ihn.
»Sind Sie der Typ, der die Bahn aufgehalten hat? Das haben mir die Schwestern erzählt.«
Fabian zögerte und nickte dann.
Der Arzt drückte eine Spritze in die Infusionsflasche, die den Herzschlag des Jungen langsam wieder auf Normalniveau zurückführte.
»Danke, Mann. Ich erzähl Ihnen, was Sie wissen wollen.«
»Morgen!«, sagte der Arzt unerbittlich.
Fabian und Keller verabschiedeten sich und verließen das Zimmer.