11.

»Derya heiratet Murat.« Emine tauchte das Fensterleder in ihren Putzeimer, drückte es aus und rieb quietschend die Butzenscheiben des Küchenfensters blank. »In grrroßem Stil.«

Prüfend richtete sie ihre Augen auf Leonie, die gerade mit Leander auf der Hüfte ein Kilo Aprikosen auspackte, und pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wir laden über tausend Gäste ein.«

Neben dem Kühlschrank saß der Mops und betrachtete interessiert die Vorgänge in der Hausmann’schen Küche. Seit Leonie ein ernstes Wort mit ihm gesprochen hatte, verhielt er sich einwandfrei, fast zumindest, wenn man von wiederkehrenden Anfällen unkontrollierbaren Heißhungers absah.

»So viele?« Leonie setzte Leander auf die andere Seite und packte die Nektarinen aus. Emine öffnete das Küchenfenster, polierte die Scheiben nacheinander von außen und warf einen prüfenden Blick hinaus. Vor dem Fenster stand ein blauer, heißer Julitag, den man jetzt erheblich besser sehen konnte.

»Perfekt«, stellte sie fest. »Das ist halt so bei uns, wenn die Tochter heiratet.«

»Aber kostet das nicht ein Vermögen?« Leonie stellte Leander auf den Boden. Sofort griff er nach der Kante des Küchentischs und hangelte sich daran entlang. Am Ende angekommen, ließ er sich fallen und krabbelte in seine Spielecke. Leonie packte nacheinander Karotten, Salat und eine Schale Bioerdbeeren aus, von denen sie ihm eine in den Mund steckte. Sie hatten an diesem Samstagmorgen schon eine größere Einkaufstour in die Innenstadt hinter sich gebracht. Staunend hatte Leander von seinem Fahrradsitz aus die bunten Marktstände mit dem Sommergemüse und den Blumen betrachtet, die jeden Samstag und jeden Mittwoch neben der Stadtkirche aufgebaut wurden. »Njam«, sagte er und biss so genussvoll in die Erdbeere, dass ihm der rote Saft das Kinn hinablief.

»Ach weisch, Leonie. Des hen mir am Abend der Hochzeit alles wieder zsamme.« Der stumme Vorwurf, dass Leonie sich ein Kind hatte anhängen lassen und so wohl nicht im großen Stil und wahrscheinlich sogar niemals heiraten würde, stand unausgesprochen im Raum.

»Sybille heiratet auch bald. Auch ganz groß, und Sie werden sicher eingeladen.« Leonie wusste gar nicht, wie lange die türkische Putzfrau schon für die Familie Hausmann arbeitete, seit ihrer Kindergartenzeit oder länger. Und immer war Leonie ihr Liebling gewesen, hatte zusammen mit Derya auf Emines Knien gesessen und in Honig getunktes, türkisches Naschwerk verdrückt. Mit Liebe hatte Emine ihr nussbraunes Haar zu zwei Zöpfen geflochten und darauf aufgepasst, dass sie ihre Schulaufgaben machte. Und nach dem Tod ihrer Mutter war sie immer für sie da gewesen. Klar, dass Emines Enttäuschung groß war, als gerade Leonie ihr Leben in den Sand setzte.

»Schon gut.« Emine putzte sich die Hände an ihrer geblümten Schürze ab. »Wenn’s unter uns bleibt, kann ich dir ja sagen, was ich denk. Die Baggage vom Murat aus der Türkei, die hätt ich net unbedingt braucht. Aber einladen muss man sie halt doch.«

In diesem Moment betrat Leonies Vater die Küche und zwinkerte ihnen zu. »Guten Morgen die Damen, hallo Enkelsohn.« Augenscheinlich hatte Gottfried Hausmann eine steife Meeresbrise guter Laune von seiner Chorprobe mit dem Esslinger Shantychor mitgebracht. Er drückte Leonie kurz die Schulter und half ihr dann, die weiteren Einkäufe vom Metzger und aus dem Supermarkt zu verstauen. Leonies Vater war ein großer, hagerer Mann mit nachdenklichen Augen, dessen ehemals blonde Haare langsam schütter wurden. Mehr oder weniger wirkungsvoll versuchte er das zu verbergen, indem er sein verbleibendes Haar in langen Kammsträhnen über die Halbglatze zog. Manchmal erinnerte er sie mit seiner schmalen Nase an den Reiher, der auf der kleinen Insel am Kesselwasen fischte. Genau wie seine zuverlässige Art hatte er sein Aussehen an seine älteste Tochter Sybille vererbt, zum Glück ohne den Haarausfall und mit einer moderateren Version seiner Nase. Leonie kam mehr nach ihrer Mutter, der exzentrischen Künstlerin mit den verrückten Einfällen und dem hellbraunen Teint, den sie sich sogar im Winter bewahrte.

»Und was macht mein Freund Max, der Mops?« Als er angesprochen wurde, wackelte der Hund langsam heran und ließ sich von Gottfried Hausmann die Ohren kraulen. »Braver Junge.«

»Nicht ganz. Er hat heute Morgen ein Snickers aus Sebastians Schulrucksack geklaut und gefressen«, sagte Leonie vorwurfsvoll. »Mit Verpackung.«

Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch. »Was höre ich da? Hast du deine gewohnten Pralinen von Frau Deringer vermisst?« Schuldbewusst sackte der Mops ein Stück tiefer, legte sein schwabbeliges Kinn auf die Vorderpfoten und begann zu winseln. In seinem Nacken reihten sich mindestens fünf Speckrollen hintereinander auf, was selbst für einen Hund seiner Rasse zu viel war. Hausmann betrachtete ihn nachdenklich.

»Bei seinem Übergewicht ist das ein eindeutiger Fall für einen Spaziergang am Neckar.«

»Eine Runde Jogging würde euch beiden auch guttun. Der Mops würde abspecken und du kämst in Form.«

»Genau!« Emine nickte lebhaft, worauf sie sich einen spöttischen Blick von ihrem Arbeitgeber einhandelte. Irgendwo klingelte ein Handy, so leise und verdeckt, als hätte es jemand im Schrank unter dem Wäschestapel vergraben.

»Ist das deins?«, fragte Leonies Vater verwundert.

»Nein, warte mal!« Das penetrante Läuten drang aus Sebastians Rucksack, der noch immer an der Wand neben dem Küchenschrank lehnte. »Ich geh schnell dran.« Sie wühlte so lange in dem Chaos darin herum – war das etwa eine vergammelte Bananenschale? –, bis sie das Handy in den Fingern hielt.

»Ja?«

»Sebastian?« Die Stimme am anderen Ende grollte laut und streng und kam ihr irgendwie bekannt vor.

»Nein, hier spricht Leonie Hausmann, Sebastians Schwester.«

»Ach Leonie, Sie sind’s. Hier Bauer, Sebastians Klassenlehrer.«

Leonie verdrehte die Augen zur Decke und wappnete sich. Den strengen Mathebauer, der unnachsichtig die Hausaufgaben und die Anwesenheit der Oberstufenschüler kontrollierte, kannte sie noch aus ihrer eigenen Schulzeit. Kaum je war Leonie in seinem Unterricht über stolze vier Punkte hinaus gekommen.

»Und wo ist Sebastian? Ich muss ihn unbedingt sprechen.«

»Keine Ahnung.« Sie fragte sich, was das seinen Lehrer am Samstag anging.

»Ja aber, Leonie. Hat Ihnen Ihr Bruder nicht erzählt, dass heute Anwesenheitspflicht besteht? Wir haben Projekttag. Zum Thema »Eine Welt«. Die Elftklässler betreuen die Unterstufe bei ihren Aufgaben.«

Einen Moment lang verschlug es Leonie die Stimme. Dann wurde sie unglaublich zornig auf Sebastian, der sie mit seinem Handy und den Konsequenzen seiner Schulschwänzerei allein gelassen hatte.

»Ich habe keine Ahnung, wo Sebastian ist«, sagte sie gepresst. »Das mit dem Projekttag hat er uns verschwiegen.« Das stimmte nicht ganz. Sie wusste genau, wo Sebastian steckte. Schließlich war heute eine große Stuttgart-21-Demo angesagt, auf der er sich mit Sicherheit herumtrieb. Leonie schaute auf und sah, dass die Blicke ihres Vaters und der Putzfrau gebannt an ihr hingen.

»Sagen Sie Sebastian, dass er eine Chance hat, wenn er heute noch in der Schule auftaucht und sich entschuldigt. Sonst gibt es einen Eintrag und einen Besuch beim Rektor am Montag. Und das fällt nur so milde aus, weil ich selbst Stuttgart-21-Gegner bin.«

»Ja«, antwortete Leonie beschämt, ärgerte sich einen Moment später furchtbar über das Gefühl und legte auf.

»Und einen für den Propheten Mohammed, für die Mama und den Opa.« Emine hatte ein Gläschen für Leander warmgemacht und begann, ihn damit zu füttern, geduldig, Löffel für Löffel.

»Nun?«, fragte ihr Vater. Er sah plötzlich sehr müde aus.

»Er schwänzt den Projekttag«, sagte Leonie und zuckte die Schultern. »Dieser kleine Mistkerl. Ich hätte es wissen müssen.« Sie fasste einen schnellen Entschluss. »Könntest du Leander übernehmen, wenn ich ihn dir frisch gewickelt gebe? Ich fahre nach Stuttgart und suche ihn am Infostand der Parkschützer.«

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
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