10.

Der Anruf erwischte Kommissar Fabian Grundmann beim Joggen. Es ging steil bergauf, den Weg hinterm Bregel hinauf zum Aussichtsturm bei der Katharinenlinde auf den nördlichen Höhen von Esslingen. Seine Schritte tönten in einem monotonen Rhythmus, sein Shirt war schweißdurchtränkt, und sein Atem brannte in seiner Brust. Aber sein Headset legte Fabian nicht ab, nicht einmal, wenn er am Samstag zum Joggen ging. Zum Glück kam er endlich oben zwischen den Obstbäumen an, die voller grüner Äpfel hingen. Über sich sah er den Aussichtsturm und die Linde, deren Pflanzung auf den Märtyrertod der heiligen Katharina von Alexandria zurückging, die in Esslingen geköpft worden sein sollte. So ein Quatsch.

»Hallo«, schallte es in seinen Ohren. Und dann überrumpelte ihn ein so ohrenbetäubender, dissonanter Lärm, dass er sich fluchend den Kopfhörer vom Ohr riss.

»Ich bin’s, Eckhard.«

Ungehalten verstöpselte er sich neu und lief weiter, langsam jetzt, Fuß für Fuß auf dem Kamm der Hügelkette. Der Schutzpolizist Eckhard begleitete die heutige Stuttgart-21-Demo in der Polizeikette, und Fabian würde um keinen Preis der Welt mit ihm tauschen. Er war gegen den Tiefbahnhof, schon weil sein Vater dafür war, und er war heilfroh, dass er als Kriminalpolizist normalerweise in keine geschlossenen Einsätze abkommandiert wurde. Jetzt verstand er auch den Lärm, der in seinen Ohren widerhallte. Die Demonstranten schienen zu glauben, dass man sie intensiver wahrnahm, wenn sie so viel Krach wie möglich machten. Viele hatten Trillerpfeifen und Trommeln dabei, manche funktionierten sogar ihr Kehrwochenset zum Lärminstrument um.

»Was willst du?«, sagte er ungehalten. »Viele Leute unterwegs?«

»Ja, scho, aber darum goats net.« Eckhard machte eine kleine effektvolle Pause. »I han dein Kloine gseha.«

»Meinen was?« Fabian schaltete langsam. Das musste wohl von der Anstrengung kommen. Er war immer noch außer Puste.

»Na, den Alessio. Der hängt am Stand von dere Aktivischte von Robin Wood rum und verteilt Proschpekte.«

»Was?«, fragte er schwer von Begriff.

»Na, du hasch mi ganz richtig verschtande.«

Das bedeutete, dass er sich nach Stuttgart aufmachen musste, und zwar so schnell wie möglich. Fabian legte Tempo zu und joggte zurück zum Parkplatz.

Es gab einige Ungereimtheiten rund um diesen Alessio Cortese. Erst war sein Vater gestorben, der fast zwanzig Jahre älter als seine Mutter Laura gewesen war. Dann kam ein anonymer Anruf, in dem der Polizei nahegelegt wurde, doch einmal im Müll von Alessios Familie nach vollen Medikamentenschachteln zu suchen. Der alte Cortese war schwer herzkrank gewesen. Hatte jemand bei seinem Ableben nachgeholfen, indem er ihm Placebos oder gar keine Medikamente mehr verabreicht hatte? Noch immer schüttelte er sich, wenn er an den Hausmüllcontainer in der Mettinger Arbeitersiedlung dachte, den er mit seinem Kollegen bis auf den Inhalt der letzten Tüte durchwühlt und dabei eine ganze Horde gemeiner Hausratten aufgescheucht hatte. Nichts war darin gewesen, außer Essensreste, Tempotaschentücher, gebrauchter Tampons und Zigarettenkippen, keine vollen Packungen Betablocker und keine lose herumfliegenden bunten Kapseln. Ein blöder Scherz also, ein saublöder. Aber dennoch, der Verdacht blieb. In der Woche, die auf ihren Einsatz folgte, hatten sich Laura Corteses Depressionen so verschlimmert, dass sie in die Plochinger Psychiatrie eingeliefert werden musste. Und Alessio kam ins Katharinenheim an der Mülberger Straße, von wo aus er die Woche über brav in die Realschule fuhr.

Inzwischen war Fabian am Parkplatz angekommen und stieg in seinen Saab 900, Iceblue Metallic und fast so alt wie er selbst. Er hatte den Turbo im Internet ersteigert und war sehr stolz auf sein stilvolles Auto. Gedankenverloren setzte er zurück und hätte fast einen Jogger angefahren. »Himmelherrgottnochmal!«, schrie der.

»Sorry«, sagte Fabian und versuchte ein entschuldigendes Grinsen durch die Frontscheibe. Langsam fuhr er die steile Straße ins Neckartal hinunter. Er bog an der Frauenkirche links ab und stand vor der Fußgängerampel am Neckar Forum. In den engen Altstadtgassen musste er immer wieder für Fußgängergruppen anhalten.

Die Unstimmigkeiten um den Tod von Alessios Vater hatten sich also nicht beweisen lassen. Doch dann wurde die alte Frau Deringer überfallen, und der kleine Gangster Alessio war mit ihr auf der Neckarhalde ausgestiegen. Für Alessio als Täter sprach auch die Tatsache, dass er seit dem Handtaschenraub nicht mehr im Heim aufgetaucht war.


Wenn nur Leonie Hausmann nicht mit drinstecken würde. Ihm leuchtete partout nicht ein, warum sie Alessio, der nach Zeugenaussagen eines Geschäftsmanns und einer Einwohnerin von Sulzgries im Bus neben ihr gesessen hatte, nicht verraten wollte. Leonie war in seinem Jahrgang im Lenaugymnasium gewesen und hatte mit ihm vor neun Jahren Abitur gemacht. Irgendwann in der Elften hatte Fabian gemerkt, dass es Mädchen gab und dass Leonie hübsch war mit ihren langen Haaren und den Augen, deren Farbe irgendwo zwischen Braun und Blau changierte. Gewitteraugen. Sie hatten kaum Kurse zusammen besucht. Leonie glänzte in Deutsch und Kunst und spielte in allen Schultheatergruppen mit. Fabian hatte Physik als Neigungsfach gewählt und schrieb in Mathe gewöhnlich fünfzehn Punkte. Doch als Leonie ihn gefragt hatte, ob er ihr Nachhilfe geben könnte, kam seine Chance, und er hatte trotz seiner quälenden Schüchternheit zugesagt.

Der Nachhilfeunterricht scheiterte kläglich. Leonie blieb auf ihren vier Punkten sitzen und verliebte sich einige Zeit später in Jonas Faber mit den Rastalocken. Als Teil eines schulbekannten Pärchens wurde sie unerreichbar für Fabian, trug indische Schlabberröcke und lief, trotz blaugefrorener Zehen, sogar im Winter barfuß in die Schule. Von seinen Freunden hatte er gehört, dass sie Kunstgeschichte studiert hatte. Aber er wusste nicht einmal, ob sie noch mit Jonas Faber zusammen war.

Fabian fuhr vorsichtig in den Hinterhof des Fachwerkhauses in der Franziskanergasse, dessen Mansarde er bewohnte.

Er stellte den Saab vor die Papiermülltonnen und zog den Schlüssel ab, der wie bei allen Autos dieser Marke in der Mittelkonsole steckte und nur rausging, wenn man vorher den Rückwärtsgang einlegte. Leichtfüßig sprang er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, öffnete die Tür und stieß sich als Erstes den Zeh an der Altglaskiste, die er zwecks Entsorgung davorgestellt hatte. Aus seinen Plänen, seine chaotische Wohnung heute endlich aufzuräumen, würde wohl wieder nichts werden. Eine halbe Stunde später hatte er geduscht und sich umgezogen und war auf dem Weg nach Obertürkheim, wo man das Auto problemlos im Ortskern abstellen konnte, wenn man die S 1 nach Stuttgart nehmen wollte.

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
titlepage.xhtml
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_000.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_001.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_002.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_003.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_004.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_005.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_006.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_007.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_008.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_009.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_010.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_011.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_012.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_013.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_014.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_015.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_016.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_017.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_018.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_019.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_020.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_021.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_022.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_023.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_024.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_025.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_026.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_027.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_028.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_029.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_030.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_031.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_032.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_033.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_034.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_035.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_036.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_037.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_038.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_039.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_040.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_041.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_042.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_043.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_044.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_045.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_046.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_047.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_048.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_049.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_050.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_051.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_052.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_053.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_054.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_055.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_056.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_057.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_058.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_059.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_060.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_061.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_062.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_063.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_064.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_065.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_066.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_067.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_068.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_069.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_070.html