34.
Milenas Mund war wie zugenäht. Obwohl sie wusste, dass sie sich in der Tatnacht schwer belastet hatte, war sie zwei Tage lang nicht in der Lage gewesen, die Wahrheit zu sagen. Wer hätte ihr auch geglaubt, dass sie Pjotr und sich selbst erschießen wollte, aber der Killer ihr zuvorgekommen war. In ihrem ganzen Leben war ihr nichts Absurderes passiert. Sie, die Mörderin im Geiste, war mit dem Leben davongekommen. Doch als sie am Donnerstag ins Büro dieses Hauptkommissars bestellt wurde, hatte sie sich entschlossen zu reden. Nein! Auch wenn deutsche Gefängnisse besser als russische waren, würde sie die nächsten Jahre nicht für einen Mord hinter Gittern verbringen, den sie nicht begangen hatte. Die eine Nacht in der Polizeidirektion und die zwei in Stammheim hatten ihr gereicht. Ihr Blick hob sich, als zwei Polizisten kurz nacheinander eintraten.
Der Kommissar mit dem Bürstenhaarschnitt drückte genau wie gestern auf ein Aufnahmegerät, in das er Namen und Datum eingab. Dann setzte er sich ihr gegenüber und legte nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. Der andere, junge, holte sich einen Stuhl. Mit leisem Schrecken erkannte sie ihn. Es war der Beamte, der sie in der Mordnacht gestellt und damit verhindert hatte, dass sie sich selbst etwas antat. Lange Wimpern umrahmten dunkle Augen und gaben seinem Blick etwas Melancholisches.
»Mein Name ist Keller, das wissen Sie ja schon. Und das da ist mein Kollege Grundmann.« Der Grauhaarige rieb sich die Hände. »Nun, Frau Donakova, erzählen Sie uns doch mal ganz genau, was in der Nacht zum Dienstag passiert ist!«
Vor dem Verhör hatte man ihr angeboten, einen Dolmetscher hinzuzuziehen, aber sie hatte abgelehnt. Auch wenn sie die Sprache nicht gut beherrschte, sie würde es schaffen, ohne dass ihr jemand hineinredete. Und sie würde das Wesentliche verschweigen.
»Es war gegen dreiundzwanzig Uhr«, begann sie.
»Pjotr hatte sich in den Garten gesetzt.« Sie verschwieg, dass sie auch in dieser Nacht die Pistole aus der Schublade des Nachtschranks geholt hatte. Ihr Gewicht in der Hand zu spüren, ihre glatte Kühle, war fast eine Marotte geworden. Am Bettpfosten hatten die Handschellen gehangen. Jede Nacht. Mit gespreizten Beinen hatte er ihre Füße an die unteren Bettholme gefesselt. Milena hatte sich wieder und wieder vorgestellt, wie es wäre, ihm den Kopf wegzupusten, und plötzlich war ihr klar gewesen, dass sie es tun würde. In dieser Nacht. Und die Konsequenz daraus wäre, dass sie sich dasselbe antun würde. Einen Moment später war sie auf die Terrasse getreten und hatte die Waffe entsichert. Und dann war es geschehen.
»Plötzlich hörte ich Schuss«, sagte sie.
Gespannt lehnte sich der junge Polizist über die Tischkante. »War das Geräusch leise oder laut?«
»Leise«, gab sie zurück. »Ich habe nur gehört, weil ich schon draußen stand.« Das Geräusch war so uneindeutig gewesen, dass sie gedacht hatte, der Schuss sei in ihrem Kopf abgefeuert worden. »Es machte leise plopp! Ich bin dann rausgegangen mit Pistole in Hand.«
»Hatten Sie denn keine Angst?«, fragte der Ältere stirnrunzelnd.
Sie schüttelte den Kopf. »Das war nicht Wirklichkeit.«
Der Jüngere nickte. Er hatte begriffen, dass Milena in ihrem eigenen Film feststeckte. »Haben Sie den Schützen beobachtet?«, fragte er.
Sie nickte. »Ich lief auf Terrasse. Mann rannte schnell davon. Aber dann sah ich Pjotr in Pool mit Blut.« Als die Realität sie eingeholt hatte, hatte sie die Waffe gehoben, gezielt und geschossen. Er war davongerannt, schnell, jung, sportlich, war wie ein Hase über die Büsche gesprungen. Sie hatte nicht getroffen. Am Pool wollte sie dann zu Ende führen, was der Fremde begonnen hatte. Dann war der junge Polizist gekommen. Milena wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte.
»Wie hat er ausgesehen?«, fragte der Ältere.
»War junger Mann. Schnelle Schuhe. Konnte rennen. War fast fort, als ich geschossen habe. Sonst ich kann nichts sagen.«
»Nun, Frau Donakova.« Der mit dem Bürstenhaarschnitt schaute sie nachdenklich an. »Sie haben tatsächlich mit der Walther GSP Expert von Peter Ölnhausen geschossen. Eine kleinkalibrige Sportpistole.« Milena verstand kein Wort.
»Ich habe Pjotr nicht erschossen.« Ihre Augen trafen auf seine blauen. »Müssen im Garten an Seite von Haus nach Kugel suchen.«
Sie hatte alles gesagt, was es zu sagen gab. Milena wollte sich schon erheben, aber ganz so schnell ließen sie sie nicht gehen. »Wie lange sind sie schon in Deutschland?«, fragte der Bürstenhaarige.
»Drei Jahre«, antwortete sie.
»Und als was haben sie zuerst gearbeitet?«
Mit dieser Frage hatte sie gerechnet. »Ich habe Abschluss in Ökonomie«, sagte sie stolz. »Aber ging nicht in Deutschland. Habe erst als Hausmädchen, dann als Table Dancer gearbeitet.«
»Table Dancer.« Der Jüngere schaute sie ernst an. »Und wo haben Sie Peter Ölnhausen kennengelernt?«
»In Club«, sagte sie. Wie erleichtert sie gewesen war, sich nicht mehr wie eine Schlange an der Stange winden zu müssen, würde sie ihnen nicht auf die Nase binden. Und wie gut es ihr getan hatte, sich die Nächte nicht immer mit anderen Männern um die Ohren zu schlagen. Fast hatte sie geglaubt, dass Ölnhausen ihr Prinz war, der sie in sein Schloss entführte, ein Prinz mit Bauch, Glatze und dicker Rolex am Arm. Wie sehr sie sich geirrt hatte.
»Waren Sie glücklich?«, fragte der Jüngere.
Die Frage brachte sie vollends aus dem Konzept. »Ich …« Mühsam schluckte sie an ihren Tränen. Sie durfte hier nicht weinen. Sie hatte ihren Namen vergessen in Ölnhausens Villa, hatte sich Stück für Stück selbst verloren, hatte vergessen, dass es Aljoscha gab. Und sie hatte es erst gemerkt, als es zu spät gewesen war und die Milena, die sie gekannt hatte, wie in der Auslage des Metzgers säuberlich zerteilt vor ihr lag. Der Bürstenhaarige kramte umständlich nach einem Papiertaschentuch und reichte es ihr.
»Man hat Viagra-Tabletten gefunden. Und dann diese Handschellen. Wollten Sie das so?«
Was erdreistete sich der junge Mann, dem diese Frage so peinlich war, dass er langsam rot anlief? Milena zerknüllte das weiße Tuch in ihren Händen.
»Hat mich nicht gefragt«, sagte sie dann leise. Sie ließen die Antwort so stehen und drängten sie nicht weiter.
»Frau Donakova.« Der Ältere wechselte das Thema. »Was wissen Sie über die Geschäfte von Peter Ölnhausen?«
Sie zuckte die Schultern. Zum Glück stocherten sie nicht länger mit einem Messer in ihrem Herzen herum. »Hat nicht mit mir darüber gesprochen. Irgendetwas mit Bauen von Häuser. Hatte Laden verkauft.« Sie würde ihnen nicht erzählen, dass Pjotr die Betreiber des Clubs gekannt hatte. Hin und wieder hatten sie bei ihm gefeiert und sich dabei reichlich Wodka hinter die Binde gekippt. Einmal hatten junge Tänzer von einer Ballettschule in Stuttgart Ausschnitte aus den klassischen Balletten aufgeführt, die sie aus ihrer Heimat kannte. Das war der einzige Abend gewesen, an dem sich Milena ansatzweise zu Hause gefühlt hatte. Da hatte sie auch erkannt, dass sich Pjotr von den Russen und den Italienern bedroht fühlte. Nicht ohne Grund, denn diese Männer waren gefährlich. Plötzlich loderte ihr fast erloschener Lebenswille auf. Wenn sie hier heil wieder herauskommen wollte, sollte sie besser einige wichtige Kleinigkeiten verschweigen.
»Herr Keller?« Eine braunhaarige junge Frau steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich habe hier etwas für Sie.« Sie schwenkte ein Blatt Papier, das Keller ihr stirnrunzelnd aus der Hand nahm. Er setzte seine Brille auf, um die Angaben zu lesen, und fixierte Milena dann aus seinen eisblauen Augen. »Man hat eine Kugel gefunden. Kaliber 9 Millimeter. Im Gebüsch neben dem Pool. Sie sind entlastet, Frau Donakova. Die Projektile der Walther hatten nämlich Kaliber .22. Haben Sie das verstanden?«
Sie nickte zögernd und war sich nicht ganz sicher. Und plötzlich gingen ihre Nerven mit ihr durch. Wenn sie die Worte nicht herausließ, die sich in ihrer Kehle drängten, würde sie an ihnen ersticken.
»Aber ich wollte Pjotr töten«, sagte sie kläglich und schaute dem jungen Polizisten in die Augen, der nach den Handschellen und dem Viagra gefragt hatte. »An dem Abend.«
»So wie es aussieht, haben Sie es aber nicht getan«, sagte er leise. »In diesem Land wird man nicht für seine Absichten bestraft, sondern für seine Taten.«
Der Ältere stand auf. Sein Stuhl kratzte über den Boden. »Gehen Sie zurück zu ihrem Sohn und fangen Sie neu an!«