28.
In der Glotze lief Viva. Alessio saß in Onkel Albertos riesigem Wohnzimmer vor dem Flachbildschirm, stopfte sich mit Chips und Cola voll und zog sich einen Clip nach dem anderen rein. Aber jetzt hielt ihn nichts mehr auf dem zu weichen Sofa. Er ging zur Terrassentür, hinter der nichts lag als ein riesiger Garten, so knallgrün wie bei den Teletubbies, mit denen er aufgewachsen war. Alle paar Meter hatte Onkel Alberto Beete voller bunter Sommerblumen anlegen lassen. Sein Gärtner steuerte mit dem Rasenmäher geschickt darum herum. Als er ihm von seinem Platz auf dem Trecker freundlich zuwinkte, tat Alessio, als hätte er ihn nicht gesehen.
Er war irgendwo in Aichwald in einem Kaff namens Lobenrot gelandet, das mitten zwischen Feldern und Wiesen lag und aus einer Handvoll Häusern bestand. Seinem Onkel gehörte das Abgelegenste davon. Hinter dem Garten begannen Felder, Wiesen und Wald, der sich von der Hochebene herunter bis ins Remstal mit seinen Weinbergen zog. Sein Onkel wusste schon, warum er sich genau hier ein Haus gekauft hatte. Der Bungalow lag in einer Art Park, der von einem hohen Zaun aus Eisenlanzen umrahmt wurde. Aber die eigentlichen Wächter waren die beiden Dobermänner Bruno und Bernardo, die Kain »Die Dämonen« nannte. Vielleicht waren sie ja Zwillinge wie seine Cousins Mario und Mauro, die auch nicht viel freundlicher waren. Den Mops der alten Dame hatte Alessio verachtet, Ronja hatte er geliebt. Die fiesen, schlanken Dobermänner, die ihn mit zurückgezogenen Lefzen anknurrten und weiße Raubtierzähne zeigten, wenn er auch nur einen Schritt tat, fürchtete er. An ihnen konnte er nicht vorbei. Auch wenn er nie mehr zu Blue und ihren Freunden zurückkehren durfte, auch wenn er sich jeden Gedanken an seine Mutter abschminken musste, er spürte, dass es ihm hier die Luft abschnürte. Das Gelände war perfekt abgesichert, die Terrassentür mit einem Extraschloss verriegelt. Außer den Kötern, die die ganze Nacht am Zaun entlangschlichen, gab es eine Alarmanlage mit Videoüberwachung. Wenn ein Unbefugter auch nur einen Schritt aufs Gelände setzte, packte man ihn und setzte ihm den Fuß ins Genick. Und wenn Alessio versuchen würde abzuhauen, drohte ihm das gleiche Schicksal. Sein Onkel ließ sich weder in die Karten schauen noch in die Suppe spucken.
Er verließ seinen Platz an der Glastür und schlenderte in die rote Hochglanzküche. Onkel Alberto lebte hier mit Mario und Corrado, und weil er nach immerhin einundzwanzig Jahren ohne Ehefrau noch immer nicht kochen gelernt hatte, packte er sich den Gefrierschrank jede Woche voller Fertiggerichte.
Als Kind hatte Alessio die Stapel italienischer Pizzas im Eis toll gefunden, die Chipstüten, die Tortellini in Sahnesoße, die man in die Mikrowelle schieben konnte, und die mit Schokocreme gefüllten Croissants. Irgendwann hatten sie angefangen, ihn einzuweihen und ihm die Dinge zu erzählen, die sie machten. Zunächst hatte er das alles so spannend gefunden wie einen Actionfilm mit Bruce Willis. Doch als ihm klar geworden war, was wirklich abging, hatte er auf die neue lederne Polstergarnitur gekotzt und war dafür grün und blau geschlagen worden. Wie eine Löwin hatte sich seine Mutter vor ihn gestellt, die Arme ausgebreitet und geschrien, er habe sich das Norovirus eingefangen, das gerade in der Schule umging, und Onkel Alberto solle die Finger von ihm lassen. Aber dieser hatte ihn mit einem Blick durchschaut.
Alessio zog die Schublade der Gefriertruhe auf, holte eine Pizza Quattro Stagioni heraus, packte sie aus und schob sie in den Backofen. Er musste essen, wenn er am Leben bleiben wollte. Aber wollte er das überhaupt noch?
Mit der fertigen Pizza in der Hand kehrte er zu seinem Aussichtsplatz an der Terrassentür zurück. Vor den Tannen schlich ein Fuchs über den Rasen, der irgendwas im Maul hatte, eine Maus oder einen Vogel. Die Pizza schmeckte wie Schmirgelpapier. Er spülte den trockenen Boden mit einem Liter Cola runter und klebte die Käsefäden wie Kaugummi an die Fensterscheibe.
Früher war das Haus sein Lieblingsplatz gewesen, weil Onkel Alberto so viele Dinge hatte, die Jungs gefielen. Schließlich musste er außer den Zwillingen auch Kain bei Laune halten. Es gab einen Keller mit einer Musikanlage und bunten Discolichtern, einen anderen mit einer Tischtennisplatte und einem Tischkicker. Draußen hatte er ein Fußballfeld mit kleinen Toren anlegen lassen und eigenhändig einen Basketballkorb ans Garagentor gehängt. Seine Cousins und sein Halbbruder hatten die neusten Playstations in ihren Zimmern und spielten die ganze Nacht hindurch Ballerspiele, bei denen das Blut nur so über den Bildschirm spritzte. Im Keller gab es auch ein Schwimmbad und einen Fitnessraum, in dem Kain noch immer täglich trainierte. Mario machte mit seinen stinkenden Crossbikes den Schurwald unsicher und fuhr fast jedes Wochenende zu einem anderen Wettkampf. Brot und Spiele hießen bei Onkel Alberto Pizza und »Counter Strike«. Alessio wandte sich um und verließ den Raum. Als er die Treppe zu seinem Zimmer mit dem nagelneuen Rechner hoch ging, waren seine Füße schwer wie Blei. Er würde sich vor den Computer setzen, »Battlefield« spielen und versuchen, sich dabei selbst zu vergessen. Es war eine gute Übung. Manchmal versank er in den Bildern und wurde zu der willenlosen Killermaschine, die sein Onkel haben wollte.