51.

Als Fabian am Dienstag um neun Uhr in die Polizeistation kam, traf er im Flur auf Irina in ihrem grauen Kapuzenshirt. Sie war in Begleitung von Milena Donakova, die Ende letzter Woche aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Die beiden schienen Ölnhausens versiegelter Villa in Polizeibegleitung einen Besuch abgestattet zu haben, um Milenas Sachen abzuholen. In Jeans, weißem Top und goldenen Sandaletten wirkte sie top gestylt und herausfordernd sexy.

»Wir wollen eine Aussage machen«, sagte Irina. »Vielmehr Milena. Ich bin nur zum Übersetzen da.«

»Nun, eigentlich wird der Fall ja von den Sonderkommissionen in Stuttgart weiterbearbeitet.«

»Willst du die Damen nicht hereinbitten?« In der Tür stand Keller und zwinkerte ihm verstohlen zu. Stirnrunzelnd führte Fabian die beiden Frauen ins Büro und ließ sie auf den Stühlen vor Kellers Schreibtisch Platz nehmen. Manchmal, ach was, oft genug verstand er nicht, wie sein Partner tickte. Hatte er nicht den Fall gestern bereitwillig abgegeben? Und jetzt sollte er eine Aussage aufnehmen, die sie schnurstracks zurück in die Untiefen der organisierten Kriminalität führen würde. Darüber würde Herr Herbrechtinger vom Innenministerium sicher nicht begeistert sein. Doch Keller, der sich gestern vor Unterwürfigkeit fast überschlagen hatte, schien diese Aussicht nicht zu stören.

»Man muss die Feste feiern, wie sie fallen«, sagte er, setzte sich an seinen Schreibtisch, legte die Zeigefinger aneinander und musterte die Damen mit sichtlichem Vergnügen. »Haben Sie sich gut erholt, Frau Donakova?«

Milena nickte und strich sich die blonde Mähne mit einer fließenden Bewegung aus dem Gesicht. Fabian fand sie attraktiver denn je.

»Wir sind nicht gekommen, um uns zu beschweren, sondern um zu reden«, drängte Irina.

»Natürlich, Frau …?«

»Wollert, Irina Kasimirova.«

»Sie sind das.« Keller räusperte sich. »Sie waren bei Herrn Grundmanns Heldentat am Samstag dabei.«

Irinas Blick wurde ernst. »Es war notwendig«, sagte sie dann und hob ihr Kinn. Milena ergriff ihre Hand. Zu zweit würden sie Berge versetzen.

»Herr Grundmann drückte sich ganz ähnlich aus.« Nachdenklich wandte Keller seinen Blick Fabian zu, der wieder ein Zwinkern zu entdecken glaubte. »Wollen Sie etwas trinken? Fabian, hol doch mal eine Flasche Apfelsaft! Oder wollen Sie lieber Wasser?«

Zähneknirschend stand Fabian auf, ging in die Küche und stellte vier Gläser und die Flasche Apfelsaft aus dem Kühlschrank auf den Tisch. Saft von heimischen Streuobstwiesen. Dabei konnte er nicht verhindern, dass Irinas Blick sein zerschlagenes Gesicht begutachtete.

»Du schillerst ja in allen Farben.«

Auf Irinas Mitgefühl konnte er gut verzichten. Und prompt hatte sie den passenden Ratschlag parat. »Wenn du ein Stück rohes Fleisch auf dein Auge gelegt hättest, wäre es nicht so schlimm geworden.«

»Ich gefalle mir bunt ganz gut«, sagte er so würdevoll wie möglich. Tatsächlich hatten die Schmerzen in der Nacht nachgelassen, und die Schwellung auf seinem Auge war fast ganz verschwunden. Entschlossen fuhr er den Laptop hoch, um die Aussage der Zeuginnen aufzunehmen. Mit ihrer Freundin als Dolmetscherin fühlte sich Milena sicher genug, um offen zu sprechen. Fabian sah, wie sie tief Luft holte. Dann folgten einige Sätze auf Russisch.

»Milena möchte mit ihrer Aussage zur Aufklärung des Mordes an Peter Ölnhausen beitragen«, übersetzte Irina.

»Kennt sie etwa seinen Mörder?«, fuhr Keller dazwischen. »Dann hätte sie letzte Woche eine Falschaussage gemacht.«

Milena schüttelte vehement den Kopf. »Nein, aber ich kennen Chefs«, sagte sie. »Ist sicher Mafia. ’Ndrangheta.«

»So weit waren wir auch schon«, warf Fabian gallig ein.

»Halt! Die Eingrenzung auf die ’Ndrangheta ist für uns neu«, rief Keller. »Sind Sie sich da sicher?«

»Ja«, sagte Irina. »Aber die Kerle sind allesamt namenlos.«

»Und dafür seid ihr zu uns gekommen?«, sagte Fabian. »Um uns zu sagen, dass ihr die Identität der Italiener nicht lüften könnt? Prima.« Er pfefferte eine Akte auf seinen Schreibtisch. Sollten die Stuttgarter sich doch mit dem Fall herumärgern.

»Wir meinen nicht die Auftraggeber für den Mord, sondern Ölnhausens Komplizen, die die kleinen Mädchen ins ›Fallen Angel‹ geschickt haben.« Irina schüttelte den Kopf über so viel Begriffsstutzigkeit. »Er hat die Mafiosi nicht allein gelinkt. Dafür war er zu pleite.«

»Ach was?« Keller beugte sich neugierig vor, während Irina weitersprach.

»Sie haben sich bei Milena zu Hause getroffen. Lauter alte Säcke, die kleine Mädchen wollten und dafür tief in die Tasche gegriffen haben.«

»Herrenabend«, sagte Milena und schickte eine Reihe russischer Sätze hinterher.

»Milena musste bei solchen Treffen immer die sexy Gastgeberin spielen«, erklärte Irina. »Sie wissen schon, als Statussymbol für Ölnhausen. Mein Haus, mein Auto, meine Hure. Da saßen sie, die alten Wichser mit ihren karierten Sakkos und ihren Lederkappen, haben Käse- und Schinkenhäppchen genascht und ihr auf den Po geklatscht.« Milena wurde rot und biss die Zähne zusammen.

»Und dabei hat sie mitbekommen, wie die illustre Altherrrenrunde den Kinderhandel geplant hat?«, fragte Keller. Milena runzelte die Stirn.

»Nicht direkt.« Irina zögerte. »Wenn Milena hereinkam, herrschte immer Totenstille. Als hätten die was zu verbergen. Und da hat sie gedacht …«

»Dass es sich lohnt, genauer hinzuhören«, vollendete Keller. Jetzt konnte Milena ihm besser folgen und nickte.

»So ungefähr. Sie hat sich hinter die Tür gestellt und gelauscht und dabei von dem Plan erfahren, Kinder ins ›Fallen Angel‹ zu bringen. Sie hat nicht alles genau verstanden, aber das Wichtigste.«

»Und, hat sie bei der Gelegenheit auch die Namen der netten älteren Herren erfahren?«, fragte Fabian.

Milena antwortete mit einem Redeschwall auf Russisch. »Nicht direkt«, fasste Irina auf Deutsch zusammen. »Aber sie hat ihre Autos gesehen. Und zwar …« Ihre Augen funkelten, »waren das keine normalen dicken Karossen, sondern alte Kisten.«

»Oldtimer?«, fragte Fabian.

»Ja, solche aufpolierten Dinger mit Sonderkennzeichen.«

»Ach was!«, wunderte sich Fabian. Ein- oder zweimal hatten die noblen Mercedescabriolets den Straßenrand so zugeparkt, dass er den Saab auf dem Parkplatz an der Burg abstellen musste. Ob die sauberen Hintermänner des Kinderhandels gewusst hatten, worauf sie sich einließen, als sie in Ölnhausens Villa ihren Deal besprachen? Je ein Käsehäppchen pro Kind. Fabian ertappte sich dabei, der Altherrenrunde den Zorn der Mafia gründlich zu gönnen.

»Namen hat Milena aber sicher nicht gehört?«, vermutete er.

»Nein, außer Karl und Dieter, was uns nicht weiterbringt.« Irina machte eine effektvolle Pause und sprach dann auf Russisch mit Milena, die in ihrer Handtasche kramte. »Aber wir haben das hier.« Sichtlich zufrieden mit sich schob sie ein zerknülltes DIN-A4-Blatt über den Tisch und strich es glatt.

»Die Kennzeichen.«

»Alle Achtung!« Keller nahm das Blatt entgegen und ließ seinen Blick anerkennend von Irina zu Milena wandern. »Das haben Sie gut gemacht. Sehr professionell. Überprüfst du das bitte, Fabian?«

Eine Viertelstunde später hatte Fabian den Kennzeichen Name und Anschrift ihrer Besitzer zugeordnet. Dazu kristallisierte sich eine Vereinszugehörigkeit heraus. Die Kirchheimer Oldtimerfreunde 1977 e.V. hatten ihre krummen Geschäfte im »Fallen Angel« ausgeheckt. »Man fasst es nicht. Lauter pädophile Autofans im Rentenalter«, stellte er fest und schob Keller seine Rechercheergebnisse zu. »Und was machen wir jetzt mit ihnen?«

»Ich hätte große Lust, die Herren noch ein bisschen schmoren zu lassen«, sagte Keller nach einem Blick in Fabians Gesicht. »Ungefähr so lange, bis ein sportlicher junger Killer in Turnschuhen mit einem Schalldämpfer auf der Knarre vor der Tür steht.«

»Das wäre keine schlechte Idee.«

»Aber da wir gute Polizisten sind …«

»Geben wir das Ganze jetzt nach Stuttgart weiter.«

Keller schaute ihn mit leisem Bedauern an und nickte, Fabian spürte in diesem Moment nur eine große Erleichterung. Er hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt, dafür bezahlt und war jetzt einfach nur froh, dass es vorüber war.

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
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