40.
Leonie schob ihr Fahrrad den steilen Verbindungsweg zur Turmstraße hinauf und stand plötzlich auf Augenhöhe mit dem Turm der Frauenkirche, an dem sich noch immer das Gerüst für seine Restaurierung befand. Die Straße lag nur wenig erhöht über der Altstadt und schien trotzdem fern von dem Treiben dort unten. Sogar der Verkehrslärm von der Geiselbachstraße klang irgendwie unwirklich. Langsam ging sie an den kleinen Vorgärten entlang, hinter denen eine Reihe behäbiger Häuser ihren Dornröschenschlaf hielten, und stand kurze Zeit später vor der Jugendstilvilla, in der er wohnen musste. Leonie zögerte. Wahrscheinlich machte sie sich jetzt endgültig unmöglich. Aber vielleicht traf sie ihn auch gar nicht an, weil er schon wieder in der Küche stand und seine Mannschaft herumkommandierte. Wer nichts wagt, der nicht gewinnt, dachte sie, lehnte ihr Rad entschlossen an die Wand und klingelte. Fast wäre sie wieder gegangen, so klopfte ihr das Herz im Hals.
Es dauerte länger als eine Minute. Dann stand er in der Tür, mit bloßem Oberkörper, Jeans und verstrubbelten Haaren. Um seine Schultern hing ein nasses Handtuch, als hätte er gerade geduscht. Einen Moment lang starrten sie sich schweigend an, dann zog er sie über die Schwelle und ließ die Tür ins Schloss fallen. Drinnen verlor er keine Zeit, drängte sie an die Wand und küsste sie mit einer Heftigkeit, die den gestrigen Abend in den Schatten stellte. Seine Hände wanderten unter ihr T-Shirt, schoben den BH zur Seite und umschlossen ihre Brüste. Er stöhnte leise und drückte sich an sie. Unter der Jeans spürte sie seine Erektion.
»Das ist kompletter Wahnsinn«, sagte er dann, löste sich von ihr und schaute sie an. »Entschuldige bitte. Ich weiß nicht, was …«
Seine Augen waren blaugrüne Blitze. Das Licht vom Fenster fiel auf seine kräftigen Muskeln.
»Aber vielleicht will ich ja gar nicht, dass du aufhörst«, sagte sie heiser.
Im Schlafzimmer gab es nur einen schwarzen Futon und einen alten Kleiderschrank. Auf dem Futon lagen seine Klamotten. Er schob sie auf den Boden, legte sich auf den Rücken und zog sie auf sich. Zwischen ihren Beinen pochte Hitze. Langsam streifte er ihr das T-Shirt von den Schultern und öffnete den BH. Wieder waren da seine großen Hände, die sich sehr rau anfühlten.
»Ich will sehen, was ich berühre«, sagte er. Leonie lachte leise und ließ ihre Haarspitzen über sein Gesicht flattern.
»Und was siehst du?«
»Dass du dich nicht zu verstecken brauchst«, sagte er und nahm eine ihrer Brustwarzen in den Mund. Leonie stöhnte auf. Ihre Hände fuhren über seine Brust, feste Muskeln, die kleinen Warzen richteten sich auf. Sehr bald konnten sie nicht länger warten. Sie streifte seine Jeans und die Boxershorts ab und schob ihn in sich hinein. Da war keine Enge, keine Spur von Unwillen. Und dabei hatte sie genau das nicht vorgehabt, als sie losgefahren war. Oder etwa doch? Fast schien es, als habe ihr Körper genau auf diesen Moment gewartet.
»Langsam«, sagte er, und sie begann sich vorsichtig auf und ab zu bewegen.
Unaufhörlich schaute er sie dabei an. »Du bist so schön.«
»Wenn du glaubst, das tue ich nur für dich, irrst du dich.«
»Du bist ausgehungert«, sagte er. »Und ich will deinen Hunger stillen.« Er schob sie von sich herunter, legte sie auf den Rücken und drängte sich mit Macht zwischen ihre Beine. Jetzt bestimmte er den Rhythmus, schob seine Härte in sie, wieder und wieder. Sie explodierten beinahe gleichzeitig in einem Sturm von Gefühlen, Farben, Gerüchen. Keuchend legte er sich auf ihre Brust. »Das war echt Wahnsinn«, sagte er und zog sie neben sich auf die Seite.
Sehr viel später saß sie auf dem Küchentisch und ließ die Beine baumeln. Statt ihres T-Shirts trug sie seinen Bademantel. »Musst du nicht schon längst in deiner Restaurantküche stehen?«, fragte sie.
Er goss zwei Gläser voll mit Apfelsaft. »Wir haben heute keinen Mittagsbetrieb.«
»Also hast du tagsüber sogar manchmal Freizeit. Wie war das mit den sechzehn Stunden, die du jeden Tag schuftest?«
»Ich arbeite tatsächlich so viel. Da gibt es eine Menge Geschäftliches zu erledigen. Buchführung, Gehaltsabrechnungen und solche Sachen.«
Leonie nippte an dem Apfelsaft. Er war so kalt, dass sie zurückzuckte. »Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu schlafen«, sagte sie.
»Nein?« Er grinste sie an. »Dafür hattest du aber jede Menge Lust.«
»Eigentlich wollte ich nur mit dir reden.«
»Musst du nicht heim?« Gianluca deutete auf die Küchenuhr. Es war schon früher Nachmittag. »Wer passt auf dein Baby auf?«
»Mein Vater. Der macht das wirklich gern und gut.«
»Dann hast du genug Hilfe?«
Sie nickte. »Jede Menge. Ich bin sehr dankbar.«
»Und – willst du nicht beruflich wieder einsteigen. Was machen Kunsthistoriker eigentlich? Führungen?«
»Auch, aber eigentlich hatte ich an eine Karriere an der Uni gedacht. Doch jetzt werde ich mich wohl umorientieren.«
»Und als was?« Er legte den Arm um sie.
»Es ist noch nicht ganz spruchreif«, sagte sie und wusste selbst nicht, warum sie Gianluca nichts von Sabine Marian und der Zeitung erzählte.
Ihre Gedanken machten einen Sprung. »Aber ich könnte dich etwas fragen.« Gianluca war genau der Richtige, um ihr bei der Recherche über die Mafia zu helfen.
»Schieß los!«
»Was weißt du über Schutzgelderpressung?« Zwischen seinen Augenbrauen erschien eine steile Falte. »Du fragst mich, ob ich Schutzgeld zahle. Mich?«
»Vergiss es!«
»Nein, nein, schon gut.« Er hob die Hände. »Ich habe mit Schutzgeldzahlungen überhaupt keine Erfahrung. Aber ich würde ganz gerne wissen, was dein Preis ist.« Bevor sie etwas antworten konnte, verschloss er ihren Mund mit einem Kuss.
Vor dem Schreibwarengeschäft an der Mettinger Straße stand ein Aufsteller mit der Bildzeitung in Schwarz und Rot. »Ermittlungsfehler oder Schlamperei«, lautete die Schlagzeile des Tages und stach Fabian ins Auge, während er vorbeifuhr.
»Da hat unser Freund von der Presse seine Vorstellungen ja prompt umgesetzt«, sagte er. »Dieser Schmierfink!«, brummte Fritz Keller auf dem Beifahrersitz.
»Warum macht dich das so wütend? Heute werden doch alle möglichen Dinge ans Tageslicht gezerrt.«
Als Keller sich zu ihm umwandte, lagen auf seinen Wangen rote Flecken. »Für dich vielleicht, wenn du so einer bist, der auf Facebook von seinem Fußpilz erzählt«, sagte er aufgebracht. »Aber das hier ist gravierender, denn unser Mörder erfährt, dass wir Milena freilassen mussten. Selbst, wenn er die Zeitung nicht einmal kauft. Und dann zählt er zwei und zwei zusammen und verschwindet in seinem Mauseloch.«
Sie fuhren ins Industriegebiet zwischen Mettingen und Obertürkheim, um einen Informanten zu treffen, der sich im Rotlichtmilieu rund um die Landeshauptstadt bestens auskannte. Jedenfalls meinte das Keller. Milena hatte ihnen nicht verraten, in welchem Club Ölnhausen sie aufgegabelt hatte.
»Fahr rechts ab!«, brummte er, und Fabian lenkte den Wagen auf einen Parkplatz vor einer Fernfahrerkneipe. Etwas weiter hinten lag der Autoport mit seinen Parkplätzen voller Gebrauchtwagen. Dahinter starteten die Fernbusse in alle Himmelsrichtungen Europas, ein Ort der karierten Plastikreisetaschen und der zerstörten Träume. Sie stiegen aus und betraten einen verräucherten Gastraum.
»Keller!«, sagte der Wirt und wischte mit einem karierten Geschirrtuch über die Theke.
»Radan Stankovic.« Keller drückte ihm die Hand und deutete auf Fabian. »Mein Kollege Grundmann.«
»Frisches Blut in der Esslinger Polizeidirektion.« Ein prüfender Blick und ein kräftiger Händedruck galten Fabian. »Setzt euch doch, ich komme gleich. Wollt ihr was trinken?« Keller bestellte eine Cola. »Ein Wasser«, sagte Fabian und folgte seinem Chef in eine Fensternische. Die Kneipe war ganz mit Holz vertäfelt, das der Rauch der vergangenen Jahrzehnte dunkel verfärbt hatte. Nur ein weiterer Tisch war besetzt, an dem sich hemdsärmlige LKW-Fahrer über ein verspätetes Frühstück mit Schinken und Eiern hermachten. »Noch ein Bier!«, brüllte einer. »Kommt sofort.« Stankovic bahnte sich seinen Weg mit dem Tablett in der Hand, verteilte die Getränke und setzte sich. Seinen Platz hinter der Theke hatte eine junge Frau in Jeans und T-Shirt eingenommen, die in aller Seelenruhe das bestellte Bier zapfte.
»Was führt euch her?« Stankovic war um die sechzig. Er hatte sich seine letzten Haarsträhnen sorgfältig mit Pomade auf die Glatze geklebt. An seiner rechten Hand glänzte ein goldener Siegelring. Sein Blick traf sie aus blutunterlaufenen Augen, die einiges über seinen Alkoholkonsum aussagten. »Ich denke, du weißt, warum wir hier sind«, begann Keller. Stankovic lachte leise. »Hat sie euch ausgetrickst, die Kleine?«
Keller schüttelte den Kopf. »Es hat sich also schon herumgesprochen, dass Milena Peter Ölnhausen nicht ermordet hat.«
»Nun.« Stankovic setzte sich zurück und faltete zufrieden die Hände über seinem dicken Bauch. »Esslingen ist ein Dorf und Stuttgart sowieso. Außerdem steht es in der Zeitung.« Er deutete auf den Tisch mit den Fernfahrern, von denen einer seinen Kopf gerade in eine Bildzeitung versenkte.
»Die immer recht hat«, fügte Keller trocken hinzu. »Kanntest du Peter Ölnhausen?«
»Was heißt kennen.« Stankovic legte seine gefalteten Hände auf den Tisch. »Du weißt ja, dass ich in der Szene aktiv war. Zu meiner Zeit.«
»Ich weiß, dass du einige Pferdchen am Laufen hattest.«
Fabian horchte auf. Jetzt wurde es interessant.
»Ich war recht erfolgreich«, fuhr Stankovic fort. »Und in der Tat, ich kannte Peter Ölnhausen. Er ist schon vor zwanzig Jahren zu Nutten gegangen. Seine Alte konnte ihm im Bett wohl nicht alles recht machen. Jasmina!«, rief er in Richtung Theke. »Bring uns noch mal dasselbe und mir ein Bier!«
»Mir eine Cola bitte!«, sagte Fabian.
»Zwei Colas!«, brüllte der Wirt.
»Vielleicht ist seine Ehe ja deshalb gescheitert«, warf Fabian ein.
»Ihre Naivität können Sie sich abschminken.« Stankovic beugte sich vor, so dass Fabian seinen sauren Atem riechen konnte. »Ehefrauen sind abgebrühter, als Sie denken. Besonders, wenn sie sich dafür nicht an den Bettpfosten fesseln lassen müssen.«
Unwillkürlich musste Fabian grinsen. »Schon damals stand Ölnhausen also auf Fesselspiele.«
»Jawohl«, sagte Stankovic. »Schon damals war er ein perverses Arschloch. Hin und wieder hat er meine Nutten grün und blau geprügelt. Aber in den letzten Jahren hat er sich sein Vergnügen nach Hause geholt. Schlauer Hund. Da hatte er freie Hand.«
»Wie bei Milena«, sagte Keller. »Weißt du, wo er sie aufgegabelt hat?«
Stankovic zuckte die Schultern. »Hat die Kleine es nicht rausgelassen? Sie ist gar nicht so dumm. Ich an deiner Stelle würde mich mal im ›Fallen Angel‹ in Cannstatt umhören. Die arbeiten vorwiegend mit Nutten aus Osteuropa.«
Jasmina brachte die Getränke und streifte Fabian mit ihren vollen Brüsten. Er warf einen vorsichtigen Blick auf die Vorderseite ihres T-Shirts, das sich vielversprechend wölbte.
»Und wer liefert ihnen die Mädchen?«
»Wenn ich das wüsste …« Stankovic legte seine Hände auf den Tisch und schüttelte den Kopf.
»Wenn du das wüsstest, würdest du es mir auch nicht sagen«, vermutete Keller. »Und das kann ich sogar verstehen. Aber ein paar allgemeine Informationen wirst du mir doch wohl geben können.«
»Nun gut.« Der Wirt räusperte sich. »Der Mädchenhandel ist in den Händen von organisierten Banden. Sie werben die Mädels in ihren Heimatländern mit seriösen Angeboten an. Pflegerin, Model, Bedienung. Wenn sie dann mal hier sind, müssen sie ihren Pass abgeben und ihre Transportkosten in Bordellen abarbeiten. Oft sind sie noch minderjährig. Und sie werden immer wieder ausgetauscht, weil die Freier neue Ware wollen.«
»Aber wissen die Frauen denn nicht, auf was sie sich da einlassen?«, fragte Fabian geschockt.
»Doch, doch. Die meisten ahnen es zumindest. Manche denken sogar, dass man dabei gar nicht so schlecht verdient. Und da gehen sie das Risiko ein.«