42.
Die Autobahnraststätte Sindelfinger Wald lag unter einem kristallklaren Abendhimmel. Jegor Smirnov saß in seinem Kleinbus, rauchte und aß gleichzeitig eine Bratwurst, wobei er reichlich Ketchup auf seiner Lederjacke verteilte. Fluchend griff er nach der Serviette, die nicht dicker als ein Stück Toilettenpapier war und durchweichte, als er den roten Fleck damit abzureiben begann. Jegor fluchte und putzte die Hände an seiner Jeans ab.
Die Raststätte machte ihrem Namen alle Ehre. Hinter den Parkplätzen lag ein schwarzer Waldrand, der das Geräusch der Autobahn in sich aufsaugte wie ein Schwamm. Trotz der einsetzenden Dämmerung herrschte Hochbetrieb. Er behielt die Eingangstür im Auge, hinter der Kostja verschwunden war. Wie konnte jemand nur so lange brauchen, um einen Kaffee zu trinken? Oder hatte er sich für eine lange Sitzung verabschiedet und fand jetzt den Weg nicht zurück? Vielleicht war er ja ins Klo gefallen. Jegor zog noch einmal an der Zigarette, dann drückte er sie in dem überquellenden Aschenbecher aus.
Leute gingen rein, Leute kamen raus. Ein Reisebus parkte vor der Tür und spuckte eine Gruppe Rentner in beigen Nylonjacken aus, die eilig in Richtung Eingang strebten. Nervös trommelte er mit seinen breiten Fingern auf dem Lenkrad herum, schaltete das Radio ein und suchte SWR 4. Die Schlagermusik säuselte sachte und beruhigend auf ihn ein. Etwas fürs Herz, so wie er es liebte. Er biss ein großes Stück Wurst ab, dazu einen Bissen von dem trockenen Brötchen und kaute mit vollen Backen. Die Wurst war stark geröstet, das Brötchen knusprig, genau wie er es mochte. Eigentlich fehlte ihm dazu nur ein kühles, deutsches Bier.
Das hier war ihre letzte Tour in Richtung Russland. Wo blieb Kostja nur? Wenn sie sich heute Nacht abwechselten, konnten sie noch ein ganzes Stück schaffen. Er seufzte und dachte an seine Bandscheiben, die ihm das lange Sitzen am Steuer mehr und mehr übelnahmen. Zum Glück würde er diesen Scheißjob nicht mehr lange machen müssen. Bald hatte er genug Kohle zusammen, um sich am Schwarzen Meer zur Ruhe zu setzen, wo die Luft mild war und die Sonne immer schien. Endlich hatte er begriffen, wie man den richtig großen Reibach machte. Es hatte mit den Vorlieben der Freier zu tun, die sich ihr Vergnügen etwas kosten ließen.
Kostja kam noch immer nicht.
Flüchtig dachte er an die Mädchen, die sie besorgen würden. Sie hatten vier Sixpacks Cola für sie eingekauft, Sandwiches, Kekse, Äpfel, Decken, Gameboys. In einem Extrafach unter dem Ersatzreifen lagen die Passvordrucke. Beim letzten Mal war eine so jung gewesen, dass sie noch mit Barbiepuppen gespielt hatte. Als sie angekommen waren, hatte er eine der Puppen gefunden, die Beine nach hinten verdreht, nackt, weggeworfen. Ein Anflug von Angst streifte Jegor, denn das mit den Kindern war so nicht abgemacht gewesen.
Neben ihm hielt eine blaue A-Klasse. Zwei Männer stiegen aus, ein junger und – Scheiße, den Älteren kannte er. Er war einer der Chefs. Beiläufig zog er eine Waffe aus der Innentasche seiner Jacke. Blitzschnell öffnete Smirnov die Tür auf der Beifahrerseite, sprang auf die Stufen hinaus und dem jungen Mann geradewegs in die Arme, der schnell wie ein Wiesel den Kleinbus umrundet hatte. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er sich befreien können, doch in diesem Moment kam der Ältere dem Jungen zur Hilfe. Er hatte eisenharte Muskeln und setzte ihn mit einem geschickt platzierten Faustschlag außer Gefecht. Smirnov taumelte und sah einen Moment lang nur Sterne.
Neben ihnen fuhr ein Passat in die Parklücke. Der Ältere zerrte Smirnov auf die Füße und drückte ihn gegen die Autotür. Zwei kleine Jungen und eine Frau stiegen aus und liefen in Richtung Raststätte. Die Kinder zerrten an der Hand ihrer Mutter und verlangten ein Eis. Dann wurde es still.
»Aber warum?«, fragte Jegor und spuckte Blut.
»Das fragst du mich?« Das Deutsch hatte einen starken italienischen Akzent. Er hatte den Mann vorher noch nie reden hören.
»Du hast dich nicht an Regeln gehalten.« Die Stimme war leise und sanft. »Steig ein!«
Als er sich hinters Steuer des Kleinbusses setzte, war ihm kalt vor Angst. Natürlich, er hatte abgesahnt, hatte sich von den Auftraggebern für die Extramädchen bezahlen lassen, die ganz jungen, die für die besonderen Kunden. Die beiden Männer schoben sich neben ihn auf die Vorderbank.
»Welche Regeln?«, stellte er sich dumm.
»Unsere Regeln«, sagte der Ältere würdevoll. »Andiamo!« Er fuhr vom Parkplatz, reihte sich in den Verkehr ein und lenkte den Kleinbus auf die mittlere Spur. Seine Hände zitterten.
»Wo ist Kostja?«, fragte er.
Der Mann schüttelte langsam den Kopf und wog die Waffe in der Hand. Jegors Kopf war noch nie so leer gewesen. Er konnte sich nicht mal mehr an die Gebete erinnern. Er fuhr etwa eine Viertelstunde, dann befahl ihm der Ältere, auf einen Parkplatz abzubiegen. Außer dem weißen Kleinbus stand hier nur ein LKW, dessen Fahrerkabine leer war.
Der Alte richtete die Waffe auf ihn. »Steig aus!«, befahl er dem Jungen, der sofort gehorchte. Smirnov sah, wie er den Parkplatz abging, sicherte und nickte. Sie waren allein.
»Aber warum?«, fragte er. »Das sind doch nur Huren.«
»Genau«, sagte der Mann. »Kinderhuren.«
»Aber«, versuchte er es erneut. »Sie zählen nicht.« Niemand interessierte sich für die verlorenen Kinder.
Früher hatten die Werber die jungen Frauen in Cafés und auf Bahnhöfen angesprochen. Viele von ihnen wussten, auf was sie sich einließen. Das goldene Europa lockte, auch wenn sie für alte, reiche Säcke die Beine breit machen mussten. Doch seit die ganz Jungen gefragt waren, mussten sie anders vorgehen. Er hatte gesehen, wie sie lebten. Manche von ihnen waren Straßenkinder, die es in den Bordellen in Westeuropa sicher besser hatten als in den U-Bahnschächten seiner Heimat. Niemand vermisste sie.
»Aber warum?«, fragte er noch einmal.
»Es ist eine Frage der Ehre«, sagte der Alte. Er hob die Waffe, zielte und schoss ihm genau zwischen die Augen.
»Sie ist da gewesen«, sagte Fabian zu Fritz Keller.
»Natürlich.« Keller schaute von seiner Tastatur auf. »Aber du kannst es nicht beweisen.« Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.
Sie hatten sich am Samstagmorgen in der Polizeidirektion getroffen, um die Ergebnisse ihrer Untersuchungen auszuwerten. Wenn ein Fall so drängte wie der Mord an Peter Ölnhausen, musste auch mal das Wochenende dran glauben. Fabian war es recht so. Er hatte sowieso fast die ganze Nacht hindurch am Schreibtisch gesessen und sich im Netz durch die Einträge rund um den internationalen Menschenhandel gearbeitet. Wenn er die Augen schloss, brannte das Bild des Mädchens auf der Innenseite seiner Lider. Irgendwo saßen die Drahtzieher des Ganzen, die Kinder wie Vieh an deutsche Kunden verkauften, und machten sich einen lauen Lenz. Ihre Handlanger hatten das Bordell in Cannstatt mit Nachschub beliefert. Blankert war nur der Saubermann, der es nach außen hin vertrat. Irgendwo musste sich doch eine Lücke auftun, die ihnen Gelegenheit gab, den Laden auffliegen zu lassen.
»Wir könnten Blankert in Beugehaft nehmen«, schlug er vor.
Keller schüttelte den Kopf. »Dazu haben wir keine Handhabe. Deine Irina wird wohl kaum aussagen.« Nein, das würde sie sicher nicht.
Fabians Schreibtisch ähnelte wie immer einem Schlachtfeld. Ungeordnet lagen die Recherchen und Protokolle zu seinen Fällen übereinander. Da war der verschwundene Alessio mit seinem üblen Sündenregister, der Mord an Ölnhausen und der Fall von Kinderhandel, den ihm niemand glauben würde. Langsam verlor er den Überblick, verhedderte sich im Dickicht der verschiedenen Spuren. Sackgassen überall. Am liebsten hätte er das ganze Chaos mit dem Arm auf den Boden gefegt. Aber dann begann er doch, die Stapel zu sortieren und übereinanderzuschichten. Nicolai hatte noch nicht ausgesagt. Und was war eigentlich mit Alessios Mutter? Wie lange musste sie noch in der Psychiatrie im Plochinger Kreiskrankenhaus bleiben? Irgendwo hatte er doch ein Foto von ihr. Er zog die Akte Cortese hervor und schlug sie auf. Alessios Foto klebte auf Seite eins. Mistkerl, dachte er und drehte ein weiteres Bild um, das mit der Rückseite nach oben lose daneben lag. Laura Cortese war sehr hübsch und überraschend jung. Sie hatte ihrem Sohn ihre wilden Locken vererbt.
»Geh nach Hause!«, sagte Keller plötzlich. »Oder kauf in der Stadt was ein. Turnschuhe oder so. Und dann zieh sie dir an und lauf zwanzig Kilometer, oder fünfzig, damit du den Kopf freikriegst. Ich mach das hier alleine.«
»Was?« Fabian schaute Keller an, als sei er komplett verrückt geworden.
»Manchmal muss man auf andere Gedanken kommen. Abstand kriegen.« Verbissen wandte sich der Alte wieder seinen Unterlagen zu.
Fabian stand auf und ging zum Fenster. Es war ein schöner, windiger Tag. Draußen drängten sich die Flaneure auf der Brücke. Wenn er an diesem Wochenende etwas auf dem Tisch haben wollte, sollte er kurz über den Markt gehen. »Bis später«, sagte er, schnappte sich seine Jacke und ging.