9.

Er parkte den Geländewagen in einer Seitenstraße unweit des Motorenwerks und stieg aus. Nur zur Sicherheit steckte er die Waffe in das Halfter unter seiner Joggingjacke und hielt sich in Richtung der Innenstadt von Untertürkheim. Der Besuch in der Pizzeria war Alltagsgeschäft, reine Routine, und die Kunden spurten normalerweise, ohne dass er auf seine Autorität pochen musste. Das war in Zuffenhausen anders gewesen. Er dachte an die beiden alten Leute, die die Konsequenzen für ihren Ungehorsam tragen mussten. Der Mord lag ihm nicht schwer auf der Seele. Er hatte das Notwendige getan, war der Vollstrecker gewesen, der Macher, der für den anderen kaltblütig den Laden sauber hielt. Und auf diese Rolle war er stolz. Die einen waren mit dem Willen zur Macht geboren, und die anderen mussten Gehorsam leisten, so hatte Gott die Welt gemacht.

Er überquerte die geruhsame Geschäftsstraße des Stuttgarter Vororts und schlenderte gelassen den Hang hinauf. Für die Passanten sah er aus wie einer der jungen Faulenzer, die am Bahnhof chillten und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielten. Ihm war es recht so. Er kultivierte das Image des jugendlichen Kraftprotzes ohne Hirn, hinter dem er seine wahre Identität verstecken konnte.

Casa Rosario. Das Mittagsgeschäft war eben vorüber, als er die Tür zu der kleinen Pizzeria knapp unterhalb der Weinhänge aufstieß. Pizza Margherita für fünf Euro. Nichts Spektakuläres, nur die Fischplatte war gut, die hatte er mit ein paar der anderen Jungs schon probiert. Aber jetzt wollte er nichts essen, sondern Geld holen. Sie hatten ihre festen Zeiten, und die Vertragspartner wussten Bescheid, wann sie sich bereithalten mussten. Italienische Restaurants funktionierten so. Man zahlte, egal ob in Kalabrien, Palermo oder in Stuttgart City.

»Ciao.« Er sprach Italienisch.

Cinzia wischte gerade die Theke ab, ihr Blick hob sich, und sie wurde blass. Die Tochter des Besitzers war hübsch, dunkelhaarig und hatte beeindruckende Kurven in einem schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt.

»Habt ihr die Kohle da?« Genüsslich schaute er zu, wie ihre Brüste vor Aufregung auf und ab wogten. Irgendwann würde er sie in einen Club einladen, und sie würde sich nicht trauen, ihm einen Korb zu geben.

»Ich muss meinen Vater holen«, sagte sie tonlos, wich seinem Blick aus und verschwand in der Küche, in der er Geschirr klappern hörte. Sebastiano betrat mit seiner Kochjacke die Gaststube und wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab. Er sah, wie der Wirt sich bemühte, seinem Blick standzuhalten und ahnte, dass alle in den Pizzerien wussten, wer Massimo und Maria umgebracht hatte. Niemand hatte der Polizei gegenüber geplaudert, und er sonnte sich in dem Gefühl von Autorität, das er ausstrahlte.

»Du weißt, dass es Zeit ist? Sonst könnte euch ein – Missgeschick – passieren.«

»Ja, aber …« Sebastiano schwitzte, sein Gesicht war ungesund gerötet, und das nicht nur vom kochenden Spaghettiwasser. Er holte tief Luft. »Die Geschäfte gehen nicht gut. Die Krise. Ich bitte dich um einen Aufschub bis Montag.«

Das hörte er jeden Tag und hatte eine Strategie diesbezüglich entwickelt. Er lehnte gewöhnlich ab, denn es brachte die Ordnung durcheinander. Wir da oben, ihr da unten. Cinzia kam zurück und stellte sich hinter ihren Vater. Ihre langen Beine steckten in hochhackigen Stiefeletten. Unwillkürlich fragte er sich, ob der Vater ihm als Gegenleistung für den Aufschub seine Tochter verkaufen würde. Zehn Minuten, nur ein Quickie im Flur vor der Toilette. Doch dann dachte er, dass ihm eine gewisse Großzügigkeit in Bezug auf Cinzia gut stehen würde. Nur nichts übereilen. Sein Blick streifte ihr blasses Gesicht, und ihr Vater schaute besorgt zu. Er hatte alles im Griff.

»Übermorgen«, sagte er. »Das ist mein letztes Wort.«

»Mille grazie!«, hauchte Cinzia.

Sie servierte ihm einen Espresso und ein Wasser an der Bar. Eine Viertelstunde später stand er auf der Straße, ohne Geld, doch mit dem befriedigenden Gefühl, dass die Macht auf seiner Seite war. Als er den Hang hinunterlief, kickte er eine Bierdose vor sich her. Er hatte alles im Griff, nur Alessio nicht. Der Kleine hatte sich abgesetzt und den geleisteten Eid gebrochen. Das machte ihm Sorgen. Denn schließlich war er sein einziger Bruder, und Blut war dicker als Wasser. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Tod ihres Vaters. Hatte diese römische Puttana ihm seine Medikamente vorenthalten? Es lag ein Schatten auf Alessios Namen, ein Makel, den der Junge nur loswerden konnte, indem er sich so schnell wie möglich integrierte. Er würde ihn suchen und auf Kurs bringen müssen.

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
titlepage.xhtml
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_000.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_001.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_002.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_003.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_004.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_005.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_006.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_007.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_008.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_009.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_010.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_011.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_012.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_013.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_014.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_015.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_016.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_017.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_018.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_019.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_020.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_021.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_022.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_023.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_024.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_025.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_026.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_027.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_028.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_029.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_030.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_031.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_032.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_033.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_034.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_035.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_036.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_037.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_038.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_039.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_040.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_041.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_042.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_043.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_044.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_045.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_046.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_047.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_048.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_049.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_050.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_051.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_052.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_053.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_054.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_055.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_056.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_057.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_058.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_059.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_060.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_061.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_062.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_063.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_064.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_065.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_066.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_067.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_068.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_069.html
CR!4V8RQRD8SS2KB8GQHBTYC5W40GQ0_split_070.html